# taz.de -- Paul Austers neuer Roman „Baumgartner“: Nach Halt suchen, ins L… | |
> Solange es wehtut, ist die Gestorbene noch da: Paul Austers neuer Roman | |
> „Baumgartner“ ist ein Buch über die Trauer. | |
Bild: Paul Auster zeichnet seinen weltfremden Protagonisten Baumgartner mit gut… | |
Die Größe der Emotionen, um die es in diesem Roman geht, steht umgekehrt | |
proportional zu den poetischen Mitteln, mit denen sie zum Ausdruck gebracht | |
werden. Schlichte Aussagesätze müssen genügen, um das maximale Unglück | |
heraufzubeschwören. „Sie fehlt mir, das ist alles“, heißt es an einer | |
Stelle beinahe lapidar, das Elend eher feststellend als beklagend. Und an | |
einer anderen: „Baumgartner hat noch Gefühle, er liebt noch, er begehrt | |
noch, er will noch leben, aber sein Innerstes ist tot.“ | |
Der tragische, der trauernde Held des neuen Romans von [1][Paul Auster] hat | |
sich an den Schmerz gewöhnt, und auch an die Hilflosigkeit, die sein Leben | |
nach dem Unfalltod seiner Frau Anna vor zehn Jahren bestimmen. Dem | |
70-jährigen Philosophieprofessor fehlt das Zentrum, das ihm die längste | |
Zeit Stabilität gab. Nunmehr kommt er immer öfter aus dem Gleichgewicht, | |
sucht nach Halt und greift ins Leere. | |
## Phantomschmerz ist das Analogon | |
Das ist in diesem Buch sowohl metaphorisch als auch wortwörtlich gemeint. | |
Auf den ersten Seiten tigert Baumgartner von einer Grübelei zur nächsten, | |
stürzt die Kellertreppe hinunter und setzt beinahe seine Küche in Brand. | |
Wie kann ein derart verlorener Mensch einigermaßen den Kopf über Wasser | |
halten? Baumgartner wählt, seiner Profession entsprechend, den | |
intellektuellen Rettungsweg. Er bringt Annas Gedichte aus dem Nachlass | |
heraus, gibt Seminare, verfasst ein Buch nach dem anderen. Das aktuelle | |
behandelt den Phantomschmerz, also jene medizinische Paradoxie, dass | |
Menschen Schmerzen oder Juckreiz an Körperteilen empfinden können, die | |
ihnen längst amputiert wurden. | |
„Es ist das Sinnbild, nach dem Baumgartner seit Annas plötzlichem, | |
unerwartetem Tod vor zehn Jahren ständig gesucht hat, das überzeugendste | |
und stärkste Analogon zur Verdeutlichung dessen, was los ist mit ihm.“ Der | |
Trauernde als Amputierter also und der Schmerz als ein Medium zur | |
Kontaktaufnahme mit der Verlorenen. Solange es weh tut, ist sie noch da. | |
## Subtrahiert von unendlich vielen Nullen | |
Doch dann meldet sich Anna über einen anderen Kanal zu Wort. Sie ruft an. | |
Eines Nachts klingelt das eigentlich längst abgemeldete Telefon in ihrem | |
alten Arbeitszimmer und als Baumgartner rangeht, grüßt ihn seine Frau aus | |
dem Jenseits. Sie beschreibt es als eine Art Limbus, als einen schwarzen | |
Raum, einen Nicht-Ort, als „blanke Null, subtrahiert von unendlich vielen | |
Nullen“. Das Leben nach dem Tod: ein körperloses Nichtexistieren in einem | |
Raum, den es gibt, den jedoch keinerlei Eigenschaft auszeichnet. | |
Wer mag, darf diese Spekulation direkt dem Autor zuordnen, der im Frühjahr | |
über seine Frau, die Schriftstellerin Siri Hustvedt, ausrichten ließ, er | |
habe Krebs. Es sei jedoch davor gewarnt, den ganzen Roman als persönliches | |
Statements Austers zu lesen. Zwar finden sich, wie bei ihm üblich, | |
biografische Ähnlichkeiten zur Hauptfigur, aber Baumgartner ist nicht | |
Auster. Eher noch ist er ein Repräsentant seiner Generation und seines | |
Milieus, ein Bildungsaufsteiger, ein US-amerikanischer Gewinner. | |
## Schnell verschuldet, früh gestorben | |
Das unterscheidet ihn von seinen Eltern und Großeltern, deren Biografien er | |
in Exkursen nachgeht. Jung verheiratet, schnell verschuldet, früh gestorben | |
waren sie in dieser Sippe. Er hingegen hat es zu Ansehen und einem kleinen | |
Vermögen gebracht. Existenzielle Sorgen sind für ihn solche des | |
Gefühlslebens. „Bemerkenswert“, staunt er mit Blick auf das schöne Wetter | |
im eigenen Garten. „Die Erde brennt, die Welt steht in Flammen, aber fürs | |
Erste gibt es noch Tage wie diesen.“ Es ist die einzige Stelle in diesem | |
Roman, die eine Notlage andeutet, so zaghaft, dass nicht einmal klar ist, | |
ob sie politischer, ökologischer oder ökonomischer Natur ist. | |
Baumgartner berührt sie ohnehin nicht besonders. Er hat zwar Sympathien für | |
junge Menschen, die diese brennende Welt werden löschen müssen, aber nicht | |
um ihretwillen. In allen jüngeren Frauen erkennt er Züge seiner Anna | |
wieder, ganz gleich, ob es die Paketbotin ist oder eine Doktorandin. Mit | |
anderen Worten: Baumgartner ist einer, der in der Vergangenheit und in | |
seinen Büchern lebt und der für die Realität, wie sie sich anderen Menschen | |
darstellt, kein großes Interesse aufbringt. | |
## Er muss nach Hilfe fragen | |
Und so scheitert natürlich auch sein Versuch, noch einmal neu anzufangen. | |
Er rafft sich auf, bahnt eine Beziehung an, will heiraten und ein neues | |
Leben beginnen. Warum es nicht klappt, bleibt weitgehend im Dunkeln. | |
Angeblich spielt der Altersunterschied zu seiner neuen Partnerin eine | |
Rolle, aber kaum aus den Gründen, die Baumgartner vermutet. Nein, es geht | |
wohl nicht darum, dass er in absehbarer Zeit pflegebedürftig sein könnte, | |
sondern darum, dass es schwerfällt, mit einem Mann zusammenzuleben, der | |
sich so weit entfernt von der Gegenwart eingerichtet hat. | |
Auster weist mit gutmütigem Spott auf diese Verfasstheit seines Helden hin. | |
Er lässt ihn eine ganze Kulturgeschichte über Automobile schreiben und nach | |
einem Unfall zugeben, dass er keine Ahnung habe, wie so ein Motor | |
funktioniert. Was nun? Er muss nach Hilfe fragen, Fremde ansprechen, | |
Kontakt zur Welt aufnehmen. Man sieht ihm gerne nach, wie er aufbricht, an | |
eine unbekannte Tür klopft – und hofft auf ein Happy End in der | |
Wirklichkeit. | |
13 Dec 2023 | |
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## AUTOREN | |
Michael Wolf | |
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