# taz.de -- Neuer Roman von Timon Karl Kaleyta: Schräge männliche Selbst-Erku… | |
> Poproman, Räuberpistole, Thriller: „Heilung“ von Timon Karl Kaleyta ist | |
> ein bisschen drüber. Doch gerade das Ungezügelte bereitet Vergnügen. | |
Bild: Einen Schluffi ohne Eigenschaften verschlägt es auf einen Zauberberg: Ti… | |
Wenn Männer über Männlichkeit schreiben, handelt es sich dabei meist um | |
sehr protestantische Unternehmungen. Strenge Gewissensprüfung findet dann | |
statt, der eigene Charakter wird abgesucht nach Anachronismen, nach | |
Erziehungsinhalten aus dem letzten Jahrtausend. | |
Denn alles Gelernte, alles was man so hineinsozialisiert bekommen hat | |
damals in seine noch kaum behaarte Brust, ist sehr wahrscheinlich | |
frauenfeindlich, selbstzerstörerisch, peinlich und schlecht für die Umwelt | |
sowieso. Da gilt es also, [1][eine Inventur zu machen,] da muss sodann | |
alles raus, von der Seele geredet werden, während sich die Leserschaft | |
heimlich langweilt bei dieser öffentlichen Selbstkritik. | |
Nicht eigentlich das Thema und seine sicher löbliche Bearbeitung ist das | |
Problem, sondern dass die meisten Bücher über Männlichkeit derzeit eben | |
[2][autofiktionale Werke] sind, dass sie also mit dem Material auskommen | |
müssen, das eine durchschnittliche Schriftstellerbiografie zwischen | |
Westfalen und Moabit eben so hergibt. | |
Einen ganz anderen Weg wählt der 1980 geborene Autor Timon Karl Kaleyta in | |
seinem zweiten Roman „Heilung“. Auch bei ihm geht es um Männlichkeit, vor | |
allem aber transportiert er eine dieser Tage selten gelesene Begeisterung | |
für die Möglichkeiten der Literatur. Man meint beim Umblättern Kaleytas | |
nervöses Kichern zu hören, Ausdruck einer geradezu frivolen Freude an all | |
dem, was er für die nächsten Seiten ausgeheckt hat. | |
Und – was soll man sagen – der Autor kichert zu Recht! Diese | |
Antiheldenreise eines verunsicherten Mittdreißigjährigen changiert fröhlich | |
zwischen Thriller, Poproman und Räuberpistole. Anders gesagt: Hier gibt es | |
endlich mal wieder Action! | |
## Schluffi ohne Eigenschaften | |
Das überrascht wohl in erster Linie den Ich-Erzähler: ein Schluffi ohne | |
Eigenschaften, der über die Jahre eine beachtliche Expertise darin erlangt | |
hat, sich an sein Unglück zu gewöhnen. Ewig schon hat er nicht mehr richtig | |
geschlafen, nachts wälzt er sich von einer Seite auf die andere. | |
Als sein Arzt ihn fragt, wann er zuletzt geträumt habe, kann er sich nicht | |
erinnern. Der Zusammenhang von Tiefschlaf und Traum, also von Sicherheit | |
und einer Vision, einer Idee für sich selbst, spielt in diesem Roman die | |
größte Rolle. Fehlt das eine, geht das andere verloren. | |
Dieser traurige und dabei übrigens nicht einmal besonders sympathische Typ | |
hat keine Zukunft, weil er sich keine vorstellen kann. Finanziell ist er | |
völlig abhängig von seiner Frau Imogen, einer erfolgreichen Künstlerin, für | |
die er organisatorische Angelegenheiten geregelt hat, bis er dafür wegen | |
seines Leidens nicht mehr zu gebrauchen war. | |
Auch ihren drängenden Kinderwunsch kann er nicht erfüllen. Man ahnt, mit | |
diesem Mann ist nicht viel anzufangen. Leise leidet er vor sich hin und | |
fürchtet sich vor dem Tag, an dem Imogen ihn vor die Tür setzt. | |
## Im exklusiven Spa | |
Vorerst aber schickt sie ihn nur zur Behandlung in Professor Trinkls | |
superexklusives Spa „San Vita“ tief in den Dolomiten. Allein dieser Ort ist | |
die Lektüre des Romans wert. Hier trifft [3][Thomas Manns Zauberberg] auf | |
Stephen King und die Brüder Grimm. Es ist wohl fast unnötig zu erwähnen, | |
dass Professor Trinkls Anwendungen sich nicht an der Schulmedizin | |
orientieren. | |
Anstatt Heilbäder zu nehmen und Wasser zu treten, lässt sich der Erzähler | |
zu einer Bärenjagd überreden, schwimmt mit seinem Kurschatten in einem | |
endlosen Höhlengewölbe und kämpft sich mit letzter Kraft durch einen | |
Schneesturm. Nanu, ist das nicht ein wenig drüber, ein bisschen viel des | |
Guten? Ganz sicher, aber gerade dieses ungezügelte Temperament bereitet | |
Vergnügen. | |
Die Schocktherapie, der sich der Patient hier unterzieht, entfaltet ihre | |
heilsame Wirkung auch in Bezug auf eine Gegenwartsliteratur, die sich | |
selbst und ihre Themen meist ein wenig zu ernst nimmt. Dr. Kaleyta | |
verordnet ihr eine ordentliche Dosis Fantasie, dazu Krimispannung sowie als | |
Relaxan ein wenig Blödsinn. Und siehe da, der Cocktail wirkt! | |
Erlösung hat der Erzähler nach seinem Aufenthalt im „San Vita“ zwar nicht | |
gefunden, aber immerhin eine Ahnung, wo er nach ihr zu suchen hat. Alte | |
Erinnerungen sind ihm zu Kopf gestiegen: an seine Großmutter, eine nette | |
alte Dame mit etwas zu positiven Erinnerungen ans „Dritte Reich“; und an | |
seinen alten Freund Jesper, der ihn als Kind schon einmal gerettet hat. | |
## Arbeit und frische Luft | |
Er reist zu ihm, hilft auf dessen Bauernhof aus und wähnt sich bald im | |
Paradies. Harte körperliche Arbeit und die frische Luft lassen ihn | |
durchschlafen, er spürt eine intensive Verbindung zu der Erde, zu Pflanzen | |
und Tieren und vor allem zu Jesper, der ihm vorlebt, wie das geht: mit und | |
durch wenig glücklich zu sein. Jespers Spiritualität nimmt recht deutliche | |
Anleihen bei der Blut-und-Boden-Ideologie, was den seligen Erzähler aber | |
vorerst nicht stört. | |
Spektakulärer Höhepunkt dieser Männerfreundschaft ist eine Szene, in der | |
sie zusammen mit selbst gebastelten Keschern den Morgentau von den Feldern | |
streifen, um ihn sich gegenseitig einzuschenken. „Man trinkt ihn mit denen, | |
die einem etwas bedeuten. Du musst Menschen finden in deinem Leben, mit | |
denen du den Morgentau teilen willst. Verstehst du?“ So etwas muss einem | |
erst einmal einfallen! | |
Der Autor ist mit einer Gabe gesegnet, die in der Prosa seltsamerweise | |
zuletzt kaum kultiviert wurde: Er verfügt über Originalität. Dass er wie | |
nebenbei auch sehr handfeste Themen verhandelt, spricht umso mehr für | |
seinen Roman. Diese Heldenreise ist nicht nur ein großer Spaß, sondern | |
enthält auch eine Warnung vor dem gerade sehr virulenten Wunsch, sein | |
Selbst zu erkunden, den eigenen Kern freizulegen, Frieden mit sich zu | |
schließen. | |
Kaleyta weist darauf hin, dass das Glück des Einzelnen nicht | |
notwendigerweise ein Vorteil für sein Umfeld oder die Gesellschaft ist. Es | |
kann nicht im Sinne aller sein, dass jeder sein inneres Kind findet oder | |
sich mit den eigenen Dämonen versöhnt, denn mitunter werden auf diese Weise | |
glückliche Monster geschaffen. Auch der Traum des Erzählers, seine | |
Vorstellung von sich als Mann, lässt nichts Gutes hoffen. Denn für andere | |
ist er ein Albtraum. | |
10 Feb 2024 | |
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## AUTOREN | |
Michael Wolf | |
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Christian Kracht | |
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