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# taz.de -- Neuer Roman über Schule in Irland: Das Grauen am Tresen
> In „Lächeln“ schickt Roddy Doyle seinen Protagonisten zurück in die
> Schulzeit. Und die Leserin in ein dunkles Kapitel irischer Geschichte.
Bild: Roddy Doyle
Victor Forde, ein Mann im mittleren Alter, übt sich nach einer Trennung im
Alleinsein: Die kleine Wohnung ist ein Loch, aber bezahlbar. Die
Haushaltsführung gelingt leidlich. Und zum Glück, Forde ist schließlich
Ire, liegt in fußläufiger Umgebung auch ein anständiger Pub, den er sich
zum Stammlokal macht.
„Donnelly’s. Ein guter, altmodischer Name für einen Pub. Ich wohnte wieder
am Meer und war an den Kneipen vorbeigelaufen, die ich noch aus meiner
Kindheit kannte. Das Schooner, das Pebble Beach, das Trawler. Sie lagen
alle eine kurze Autofahrt von meiner Wohnung entfernt oder einen langen
Spaziergang, den ich nicht machen wollte. Oder zu nah an der Gegend, in der
ich aufgewachsen war.“
Roddy Doyle, genialer Erzähler irischer Geschichten und Geschichte, braucht
nur wenige Zeilen, um eine Spur des Unbehagens zu legen, die in der
Vergangenheit seines Protagonisten lauert. Denn dieser Victor Forde, in
jungen Jahren progressiver Schrecken der irischen Intellektuellenszene (er
befürwortet offen Abtreibungen!) und liiert mit einer TV-Prominenten, war
nicht immer ein Glückskind.
Er ist zunächst ein Junge aus bescheidenen Verhältnissen, der auf einer
katholischen Oberschule in den Genuss höherer Bildung kommt. Bei den
Christian Brothers, einem 1802 gegründeten Laienorden, herrscht ein Klima
aus Angst und exzessiver Gewalt. Eine Zeit, die Forde mehr prägt, als er
sich eingestehen will. Erst als ein mysteriöser Kerl namens Ed Fitzpatrick
im Pub auftaucht, der behauptet, mit Victor zur Schule gegangen zu sein,
kommt bei ihm lange Verdrängtes hoch:
„Ich war noch keine halbe Stunde in der neuen Schule gewesen, als ich zum
ersten Mal geschlagen, am Ohr hochgezerrt und wieder fallen gelassen und
von dem Scheißkerl im Chemielabor als Vollidiot beschimpft worden war, weil
ich gedacht hatte, er hätte auf einen anderen Jungen gezeigt. Ich hatte
mich verlaufen und war im Schulhof der Oberstufler gelandet und von einer
Horde Typen mit Tritten traktiert worden. […] Doch damit war ich nicht
allein. Wir alle, die wir neu waren, wurden rumgeschubst und fertiggemacht.
Wir litten gemeinsam, und es war großartig.“
## Gespenster der Vergangenheit
Je mehr Details aus Victors Zeit bei den Brothers zutage treten, desto
unberechenbarer wird die Figur des „Zeitzeugen“ Ed. Mal belästigt er Victor
mit Schoten: „Der Französisch-Bruder, der war scharf auf deinen Arsch. Hab
ich recht?“
Mal erscheint er wochenlang gar nicht und lässt Viktor mit den Gespenstern
seiner Vergangenheit allein: Der cholerische Musiklehrer mit Spitznamen Tom
Jones, der einen Chor aus zwangsrekrutierten Schülern dirigiert – jeder
nicht getroffene Ton ein potenziell gebrochenes Nasenbein. Der
Schuldirektor mit seinen riesigen Pranken. Und irgendwann die Anordnung,
nach der letzten Stunde noch allein im Raum des Direktors zu bleiben …
Das Grauen, das sich im Roman graduell entfaltet, hat einen realen
Hintergrund: Die (sexuelle) Gewalt, die irische Kleriker über viele
Jahrzehnte in Heimen und Schulen der katholischen Kirche ausgeübt haben. Es
ist sicher kein Zufall, dass der Französischlehrer, der Victor begehrt, im
Buch Murphy heißt:
Der Murphy-Bericht von 2009 untersuchte Vorwürfe von 1.090 Betroffenen von
physischer Misshandlung und sexuellem Missbrauch im Erzbistum Dublin.
Besonders im Fokus: die Christian Brothers. Da ist es natürlich auch kein
Zufall, dass das politische Sachbuch, an dem der Möchtegernautor Victor
Forde scheitert, „Irland – eine Horrorstory“ heißt.
## Gewaltdurchtränkte Gesellschaft
Roddy Doyle, bekannt durch derb-warmherzige Storys aus der irischen
Arbeiterklasse, beschreibt in „Lächeln“ Irland als [1][gewaltdurchtränkte
Gesellschaft] im Würgegriff von toxischer Männlichkeit und [2][katholischer
Sexualmoral.]
Am Ende überschlagen sich die Ereignisse und die Abwehrmechanismen, mit
denen Victor Forde das Trauma auf Abstand zu halten versucht, brechen
zusammen. Ein packendes, in seiner Abgründigkeit überzeugendes Buch.
1 Nov 2022
## LINKS
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## AUTOREN
Nina Apin
## TAGS
Irland
Missbrauch
sexueller Missbrauch
Katholische Priester
Katholische Kirche
Sexualisierte Gewalt
Buch
Literatur
Gegenwartsliteratur
Nordirland
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