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# taz.de -- Neuer Roman von Paul Lynch: Ganz schnelle Zerstörung
> Mit „Der Gesang des Propheten“ hat Paul Lynch einen klaustrophobischen
> Roman über ein Land im Bürgerkrieg geschrieben, das als Irland zu
> erkennen ist.
Bild: Dublin is burning
Dieses Buch erzählt nicht von Gewalt, es flüstert von ihr. Es hängt sich
ganz nah dran an die Perspektive einer Frau namens Eilish, folgt ihr durch
den Alltag, der sich mit jedem Tag weiter verengt und verdüstert, seit zwei
Beamte an ihre Tür klopften. Ob ihr Mann Larry zu Hause sei, wollten sie
wissen. Er ist Gewerkschafter. Sie sieht ihn im Flur stehen, kurz bevor er
aufbricht zu einer Demonstration gegen die neue Regierung.
Sie sieht ihn noch Monate danach dort im Flur stehen, wiedergekommen ist er
nicht. Niemand weiß, was mit ihm passiert ist, in welchem Gefängnis er
steckt oder ob er überhaupt noch lebt. Eine Anwältin versucht eine Weile
vergeblich, ihn zu finden, doch bald kann sich Eilish selbst mit ihr nur
noch heimlich treffen. Dieses Irland, in dem die Geschichte spielt,
entledigt sich seiner demokratischen und rechtsstaatlichen Prinzipien
schnell und beiläufig, als hätte der Staat sein eigentliches Ziel darin
gefunden, Familien auseinanderzureißen.
Vier Kinder hat die Frau namens Eilish, eines ist noch ein Baby. Man schaut
ihr über die Schulter, wie sie es stillt, und ist noch dabei, wenn es die
ersten Wörter spricht. Dazwischen liegt die Zerstörung eines Landes.
## Flüsterndes Buch
Flaggen werden gehisst und patriotische Lieder gesungen, während
Oppositionelle wie Larry einfach verschwinden und alle, die nicht singen
wollen, lieber ganz leise sprechen. Dieses Buch flüstert auch deshalb: weil
es aus eigener Beschreibung weiß, was es kostet, die Stimme zu erheben. Der
Text ist in akkuraten Blöcken gesetzt, in denen die Dialoge und
Beschreibungen oft nicht klar einer Figur zuordenbar sind. So liest sich
Bedrängnis, so fühlt sie sich an.
Paul Lynch heißt der Autor dieses klaustrophobischen Werks. Der ehemalige
Filmkritiker landete mit „Das Lied des Propheten“ letztes Jahr einen großen
Publikumserfolg und [1][wurde mit dem Booker Prize für den besten Roman aus
Großbritannien und Irland ausgezeichnet.]
Man meint zunächst, es mit einem literarisch äußert versiert verfassten
Politthriller zu tun zu haben, aber nein, für einen Thriller fehlt hier das
Entscheidende: eine Heldin oder ein Held. Lynch aber ist mehr an der
Dynamik von Gewalt und Unterdrückung interessiert als an einer heroischen
Geschichte. Für einen solchen Ansatz hat er eine gute Hauptfigur gewählt.
## Ohnmacht vor den Ereignissen
Eilish, plötzlich allein mit den Kindern und ihrem dementen Vater, hat
ohnehin kaum Optionen für ihr Handeln. Welche Chance sollte sie gegen den
mächtigen Polizeistaat haben? Mühsam versucht sie, ihren Sohn vor dem
Militärdienst zu bewahren, das ist dann aber auch schon alles, was ihr in
der Situation zu tun bleibt.
Die politische Repression drängt die Menschen zu Passivität, sie schauen
zu, wie die Gesellschaft vor ihren Augen umgebaut oder in Stücke geschlagen
wird. Schützend halten sie ihre Hände vor den kümmerlichen Rest Alltag, der
ihnen bleibt.
Der Plot besteht darin, dass die Charaktere mit aller verbliebenen Kraft
versuchen, ihre letzten Sicherheiten zu bewahren, mindestens aber ihr
nacktes Leben. Nur der älteste Sohn der Familie wird sich zum Widerstand
entschließen und einer Rebellenarmee beitreten, die sich den
Regierungstruppen entgegenstellt.
## Undurchsichtige Motivlage
Bald flammt ein Bürgerkrieg auf, bei dem sich Dublin in ein Schlachtfeld
verwandelt. Mittendrin Eilish, die ihre Flucht zu lange hinausgezögert hat.
Worum es in diesem Krieg eigentlich geht, also welche Werte die Rebellen zu
verteidigen suchen, lässt Lynch übrigens weitgehend offen.
Die Regierung ist diffus rechts, nationalistisch und autoritär, doch keine
der raren Beschreibungen lassen klare Vergleiche zu bekannten oder
befürchteten Regimen zu. „Das Lied des Propheten“ ist keine Dystopie,
insofern der Autor nicht vor einer ganz konkreten politischen Konstellation
warnt.
Was aber ist dann das Ziel dieses Buchs? Es ist eine Aufforderung zur
Empathie. Spätestens ab Ausbruch des Bürgerkriegs ergeben sich deutliche
Parallelen zur jüngeren Geschichte Syriens oder Afghanistans.
## Didaktische Botschaft
Als Eilish sich schließlich zur Flucht aus Irland entscheidet und mit ihrer
Familie aufbricht, gerät die Botschaft geradezu didaktisch: Lieber
Romanleser, was den Geflüchteten geschehen ist, die in deinem Land um
Schutz ersuchen, könnte morgen genauso auch dir passieren.
Man fühlt sich auf einmal in einen viel zu drastischen Jugendroman verirrt,
so als hätte Gudrun Pausewang ihre Finger im Spiel gehabt. Die sehr
dezidierte moralische Botschaft steht zudem in einem Missverhältnis zu
ihrem eigenen Anspruch. Denn offensichtlich liegt diesem Roman die Annahme
zugrunde, dass Europäer sich nur dann für Flucht und Vertreibung
interessieren, wenn sie diese Themen auf ihre eigenen Länder und
Gesellschaften beziehen können.
Vorausgesetzt, dies trifft zu, sollte dann nicht die Konsequenz daraus
sein, bessere, ergreifendere, erkenntnisfördernde Bücher über reale
Krisengebiete und Fluchtgeschichten zu schreiben? Lynch wählt einen anderen
Weg. Er nimmt eine Abkürzung über Dublin und macht es sich und der
Leserschaft damit womöglich leichter, als es nötig gewesen wäre.
6 Sep 2024
## LINKS
[1] /Neuer-Roman-aus-Irland/!5979674
## AUTOREN
Michael Wolf
## TAGS
Irland
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