# taz.de -- Abschied von Peter Brook: Rendezvous mit der Geschichte | |
> Peter Brook ist legendär in der Theaterwelt. Seine letzte Inszenierung | |
> „Tempest Project“ war zu Gast bei den Ruhrfestspielen. | |
Bild: Ery Nzaramba als Prospero und Sylvain Levitte als Caliban in Peter Brooks… | |
Es gibt Theaterabende, die ganz im Zeichen des Neuen stehen, und es gibt | |
solche, deren Grundlinie die Wiederbegegnung mit dem Vertrauten ist. „The | |
Tempest Project“, gezeigt bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen, gehört in | |
die zweite Kategorie: Schon der leere Raum mit zwei kleineren Teppichen und | |
verstreuten Objekten wie Holzblöcken, Stoffen oder einem großen Stab | |
verweisen auf den anwesend-abwesenden Regisseur des Abends: [1][Peter | |
Brook] (1925–2022). | |
Bereits der erste Satz seines Buchs „The Empty Space“ (1968) war das | |
Manifest einer ganzen Generation von Theatermacher:innen: „I can take any | |
empty space and call it a bare stage.“ Entsprechend wurde sein „Midsummer | |
Night’s Dream“ von 1970, jahrelang auf Tourneen in der ganzen Welt gezeigt, | |
zum Maßstab einer neuen Bühnenästhetik, die sich durch den Einsatz | |
minimalistischer Mittel, Spielfreude und den Fokus auf die | |
Schauspieler:innen auszeichnete. | |
Doch Brook wollte mehr. Für ihn wurde das Theater zu einem Laboratorium, | |
was sich schon im Titel seines 1970 gegründeten Centre International de | |
Recherche Théâtrale ausdrückt. 1972 brach er mit einer Truppe von | |
Schauspieler:innen auf, um auf einer Reise durch verschiedene | |
afrikanische Länder von Algerien bis Nigeria [2][Grundformen des Theaters] | |
zu erproben. Auf der Suche nach Verständigung über alle Sprach- und | |
Kulturgrenzen hinweg wurde der Teppich als Manifestation des szenischen | |
Raums zu Brooks Markenzeichen. | |
## Zentrum internationaler Theaterkunst | |
Im Jahr 1985 präsentierte Brook in Avignon seine Version des indischen | |
Epos [3][„Mahabharata“] in einer elfstündigen Inszenierung. Die | |
Produktion, in aller Welt gezeigt, wurde bejubelt als Meisterwerk einer | |
neuen Form des interkulturellen Theaters. Die Begeisterung übertönte die | |
Kritik indischer Intellektueller, Brooks Universalismus sei nur eine | |
Variation kolonialer Strategien, der nicht Dialog ermögliche, sondern sich | |
kulturelle Versatzstücke für die eigenen Bedürfnisse aneigne. Doch Brooks | |
Karawane zog weiter und sein Pariser Theater Bouffes du Nord wurde zu einem | |
Zentrum internationaler Theaterkunst. | |
Die Ankündigung also, mit „The Tempest Project“ Peter Brooks letzte | |
Inszenierung zu zeigen, versprach ein Rendezvous mit der Theatergeschichte. | |
Aufgeladen durch den Umstand, dass Brook in seiner fast achtzigjährigen | |
Regielaufbahn immer wieder Shakespeare inszenierte und den „Tempest“ die | |
Aura umweht, Shakespeares letztes Stück zu sein. | |
Schon der Beginn ist programmatisch: Prospero (Ery Nzaramba) sitzt auf | |
einer Wurzel zwischen zwei kleineren Teppichen, in seiner Hand ein heller | |
Holzstab, den er waagerecht durch die Luft führt, auf und ab. Die stumme | |
Szene wird irgendwann lesbar als der Kampf des Schiffs mit Sturm und | |
Wellen, von denen Ariel später ausführlicher berichten wird. Brook schickt | |
seine Zuschauer:innen auf eine beständige Suche nach neuen Bedeutungen | |
und ungewohnten Sichtweisen. | |
## Französische Übersetzung hat besonders musikalische Note | |
Wie in einem ständigen Tanz umspielt die Inszenierung die Shakespeare’sche | |
Erzählung. Dabei stellt sie diese dem Publikum nicht vor Augen, sondern | |
lässt ihr Spiel zu Bildern gerinnen, die die Imagination des Publikums | |
befeuern. | |
Ariel, der Luftgeist, der von Marilú Marini verkörpert wird, beschwört den | |
Sturm ein zweites Mal. Doch so sehr sie sprudelt und schwelgt, man sieht | |
ihr die Mühe eines langen Luftgeistlebens an, wenn sie jeden neuen Auftrag | |
Prosperos zunächst einmal schleppenden Schrittes ausführt. | |
Obgleich als „Project“ angekündigt, folgt der Abend vergleichsweise treu | |
Shakespeares Drama, wobei die französische Übersetzung eine besondere | |
musikalische Note beisteuert. So entsteht ein minimalistisches Spiel von | |
hoher Dichte und teils berückenden Bildern. Doch die Stimmigkeit hat ihren | |
Preis, denn die Inszenierung bleibt blind gegenüber den [4][Fragen von | |
Rassismus und kolonialer Gewalt.] | |
## Gewalt ist dem Stück eingeschrieben | |
Ebendiese Aspekte aber betonen neuere Lesarten. Bei Brook hingegen | |
überwiegt die Innerlichkeit: Prospero ist der gütige Vater, der mit weiser | |
Hand die Geschicke lenkt, Miranda (Paula Luna) die kindlich-naive Tochter, | |
die in strahlend blonder Unschuld sich zu Füßen ihres Vaters setzt. Doch | |
die Gewalt ist dem Stück eingeschrieben: Am deutlichsten im Kontakt mit | |
Caliban (Sylvain Levitte). Hier wird der Stab zum Stock und die brutale | |
Realität von Prosperos Drohung ist Calibans Leib abzulesen. | |
Und selbst in der Begegnung mit Ariel erweist sich Prospero als unduldsam: | |
In hartem Kontrast zur Vertraulichkeit und Nähe, in der die beiden sonst zu | |
finden sind, droht Prospero auch seinem treuen Geist unverhohlen. Das Wort | |
„Sklave“, mit dem sowohl Caliban als auch Ariel belegt werden, hinterlässt | |
einen Stich, den die Inszenierung jedoch nicht zu spüren scheint. | |
Diese Blindheit erklärt sich aus dem eigentlichen Schwerpunkt der | |
Inszenierung, der sich im Finale offenbart. Dort geht das Saallicht an, | |
Prospero tritt an die Rampe und spricht eine Collage des berühmten Epilogs: | |
„We are such stuff as dreams are made on, and our little life is rounded | |
with a sleep.“ | |
Dann wendet er sich und tritt, während das Licht im Saal und auf der Bühne | |
schwindet, langsam in das ihn einhüllende Dunkel. Prosperos Abgang lässt | |
sich so auch als eine Metapher für Brooks Sterben lesen. Die Inszenierung | |
feierte in Paris drei Monate vor dem Tod des 97-jährigen Regisseurs | |
Premiere. | |
Das Publikum applaudiert, teils stehend und gerührt. Die Wiederbegegnung | |
war auch der Abschied von einem großen Theaterkünstler des 20. Jahrhunderts | |
– rührend und widersprüchlich, gleichermaßen stark in den Bildern wie | |
irritierend in den blinden Flecken. | |
9 May 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Archiv-Suche/!1160200&s=Peter+Brook&SuchRahmen=Print/ | |
[2] /Buch-Warum-Theater/!5679667 | |
[3] /Proteste-gegen-Regisseur-Robert-Lepage/!5528515 | |
[4] /Internationales-Theater-in-Wiesbaden/!5876533 | |
## AUTOREN | |
Peter W. Marx | |
## TAGS | |
Theater | |
Paris | |
William Shakespeare | |
Ruhrfestspiele | |
Spielfilm | |
Literatur | |
Dystopie | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
„Macbeth“-Verfilmung von Joel Coen: Das Unheil bleibt in der Welt | |
Der Regisseur Joel Coen hat William Shakespeares „The Tragedy of Macbeth“ | |
verfilmt. Denzel Washington gibt den Königsmörder. | |
Schweigen über die Kolonialgeschichte: Bilder von Zuckerinseln | |
Literatur ist manchmal ein Zeugnis der Verdrängung. Unsere Autorin sucht | |
nach Spuren der Sklaverei in der Karibik – in historischen Romanen. | |
Zwei Romane von Margaret Atwood: Doppeltes Spiel | |
Sie entwirft geschlossene Welten: Eine dystopische Gesellschaftssatire und | |
eine Variation auf Shakespeares „Der Sturm“ sind auf Deutsch erschienen. |