| # taz.de -- Internationales Theater in Wiesbaden: Vom Schwindel ergriffen | |
| > Das Theater als Diskurs- und Lehranstalt: Das ist teils angestrengt und | |
| > unvermittelt auf der Biennale Wiesbaden. Gelingt teils aber auch | |
| > berührend. | |
| Bild: Der Barockbau des Theaters wird zum Zeugnis der Kolonialzeit In „Whitew… | |
| Kurz vor Schluss der Theater-Biennale in Wiesbaden, am kommenden Samstag, | |
| steigt die FLINTA* Party. Alle, die das googeln müssen, sitzen nicht fest | |
| im aktuellen Diskurssattel. In Wiesbaden sind das die meisten. Wie | |
| überhaupt alle Themen der diesjährigen Wiesbaden Biennale in der Stadt | |
| unterrepräsentiert sind: Postkoloniales, Queeres, Trashiges. Nachdem Maria | |
| Magdalena Ludewig und Martin Hammer 2016 und 2018 mit ihren Biennalen die | |
| Stadt auf den Kopf gestellt haben, dabei nicht nur in den Stadtraum, | |
| sondern auch in unterschiedliche Milieus vordrangen, setzt der neue | |
| [1][Kurator Kilian Engels, der davor das Münchner Festival „Radikal jung“] | |
| leitete, auf drängende Themen. | |
| Laut Selbstdarstellung des Festivals meint das: wachsenden Nationalismus, | |
| Rassismus und erstarkende imperialistische Politik und Kriegsführung, | |
| Afro-Feminismus, LGBTQ+, Diversität, Transgender, sexuelle Fluidität, Black | |
| Lives Matter, #MeToo, Klimawandel und anderes. | |
| ## Hierarchie des Barock | |
| So kommt es, dass die Architektin und Kulturwissenschaftlerin Tazalika M. | |
| te Reh zum Auftakt des Festivals das neobarocke Kitsch-Foyer des Theaters | |
| kritisch beäugt. Sie interessiert sich dabei weniger für die Ausgestaltung | |
| als für die gesellschaftlichen Implikationen der Bauweise. So haben nur | |
| Besucher:innen des Parketts und der ersten beiden Ränge einfachen | |
| Zugang zum Foyer. Die Gäste der günstigen Plätze im dritten Rang können von | |
| dort nicht mal in die Prachtfülle des Foyers schauen. Die Bauweise | |
| spiegelt die Hierarchie der Klassengesellschaft. | |
| Keine neue Einsicht, doch war es gerade die koloniale Aufladung des 1894 | |
| von Wilhelm II eröffneten Baus, die Kilian Engels buchstäblich gereizt hat. | |
| Dem eurozentristischen Rahmen möchte er etwas entgegensetzen, Differenzen | |
| markieren. | |
| Zum Auftakt bringt er [2][Trajal Harrells] Pandemie-Schlager „The Köln | |
| Concert“ mit Musik von Joni Mitchell und Keith Jarrett. Ein Abend, der | |
| allein schon der schwelgerischen Musik wegen wie eine tröstende Umarmung | |
| wirkt und damit einen sanften Einstieg ins Festival bietet. Später sind | |
| hinter dem Theater auf der Wiese des sogenannten Warmen Damms schlichte | |
| Parolen und Choreografien zu sehen. Das chilenische Performancekollektiv | |
| Lastesis ruft zu Widerstand gegen sexualisierte Gewalt auf. Für die | |
| Biennale haben sie Wiesbadenerinnen eingeladen, mitzumachen. Im | |
| Open-Air-Trubel der Eröffnung wirkt das eher angestrengt. | |
| Die New Yorker Künstlerin River L. Ramirez indes lässt es kurz darauf unter | |
| dem Titel „Ghost Folk“ richtig krachen. Böse-Buben-Rock und schräge | |
| Geschichten vereint sie mit ihren Musikerinnen zu einer tosend | |
| selbstbewussten Show. In ihren Texten geht es auch um die eigene | |
| Verletzlichkeit, die hinter rotziger Attitüde rinnt. | |
| Joseph Beuys’ „Zeige deine Wunde“ könnte als Motto dieser Biennale diene… | |
| In „Whitewashing“ sehen wir der aus der Karibik stammenden und in | |
| Frankreich aufgewachsenen Performerin Rébecca Chaillon zu, wie sie vor uns | |
| auf allen Vieren eine niveaweiße Plane schrubbt und sich nach und nach | |
| ihrer Klamotten entledigt. Ihr nackter Körper ist mit weißer Creme bedeckt. | |
| Ihre Co-Performerin Aurore Déon, mit weißem Häubchen auf dem Kopf, feudelt | |
| derweil den Stuck und die nackten weißen Frauenskulpturen des Foyers ab und | |
| schlägt damit einen Bogen zum Eröffnungsvortrag. | |
| ## Finsternis der Gegenwart | |
| Später hilft sie Chaillon vordergründig, ihren Körper von Farbe zu | |
| befreien; im Grunde geht es um das Ausstellen eines raumgreifenden, | |
| schwarzen Frauenkörpers, der in mehrfacher Hinsicht diskriminiert wird. Es | |
| folgt ausgedehntes Zöpfeflechten, wobei Chaillon keck mit dem Publikum | |
| interagiert, später sich selbst entlarvende Kontaktanzeigen vorliest, in | |
| denen etwa alte Männer nach schwarzen jungen Frauen zwecks großer Liebe | |
| suchen. Zum Totlachen, wenn es nicht wahr wäre. | |
| Der Abend hält noch weitere Wendungen bereit, die bis ins Herz der | |
| Finsternis unserer Gegenwart führen. Aus der dichten Dunkelheit gleich in | |
| die nächste Vorstellung zu hetzen, fällt schwer. Im Kleinen Haus wartet | |
| aber schon der koreanische Performer Jaha Koo mit „The History of Korean | |
| Western Theatre“, einer autofiktionalen Performance, die sich mit | |
| westlichen und östlichen Theatertraditionen beschäftigt und dem, was | |
| gemeinhin als modern gilt. Auch das koreanische Theater werde weitestgehend | |
| vom westlichen Kanon bestimmt, erläutert er. Koo entwickelt daraus seine | |
| ganz eigene Form der dokumentarischen Performance. | |
| Einem größerem Publikum wurde Koo mit seiner bezaubernden Arbeit „Cuckoo“ | |
| bekannt, benannt nach dem beliebten Reiskocher, der in koreanischen | |
| Haushalten die tägliche Ration Reis herstellt. Das Ding sieht aus wie ein | |
| zu niedriger R2-D2, der süße Roboter aus „Star Wars“. Auch diesmal steht | |
| Cuckoo an Koos Seite, dazu gesellt sich eine digitale Origami-Schildkröte, | |
| die anschaulich Tradition und Moderne verknüpfend über die Bühne kriecht. | |
| An elf Tagen, noch bis 11. September, bietet die [3][diesjährige Biennale | |
| mehr als 50 Veranstaltungen], darunter hochdekorierte, mit Silbernen und | |
| Goldenen Löwen in Venedig ausgezeichnete und woanders schon erfolgreich | |
| gezeigte Produktionen. Das kenianische [4][Kollektiv „The Nest“], das auf | |
| der diesjährigen documenta eine der interessantesten Arbeiten vor der | |
| Orangerie zeigt, ist auch mit dabei. | |
| ## Erschwerte Vorbereitung, fehlende Rahmung | |
| Ein hochkarätiges Programm, dem trotzdem die Rahmung fehlt. Es gibt weder | |
| Publikumsgespräche noch ein Diskursprogramm, bei den verhandelten Themen | |
| und den sich oft nicht selbst erklärenden Arbeiten eigentlich ein Muss. So | |
| aber macht man sich auf alles seinen eigenen Reim, gibt sich mit dürren | |
| Texten zu den Veranstaltungen zufrieden und verliert noch mehr Zeit im | |
| Internet. | |
| Wer das bemängelt, muss wissen, dass Kilian Engels weniger Budget und | |
| weniger Zeit für die Vorbereitung hatte als seine Vorgänger:innen. Zudem | |
| erschwerte die pandemische Lage seine Planung. Es ist also eine | |
| Festivalausgabe unter besonderen Bedingungen. Fakt ist: Sie beschert den | |
| Wiesbadener:innen Produktionen, für die sie sonst mindestens nach | |
| Frankfurt fahren müssten. Ausverkauft sind die meisten Vorstellungen aber | |
| beileibe nicht. Das Publikum scheint zu fremdeln. Ob das jetzt der | |
| coronaübliche Schwund ist oder Ausdruck einer anders gearteten | |
| Reserviertheit oder ein Desinteresse den Themen gegenüber, bleibt schwer | |
| abzuschätzen, wahrscheinlich eine Mischung aus allem. Der Festivalstart in | |
| den Sommerferien erleichtert die Sache nicht. | |
| Schöne Momente ergeben sich wie bei allen Biennalen nach den Aufführungen, | |
| diesmal vor allem im großspurig Festival-Garten genannten Bereich hinter | |
| dem Theater. Dort gibt es einen Stand mit äthiopischem Essen, etwas | |
| unpraktisch nur Tellergerichte, dazu diverse Getränke, Stehtische, | |
| Bierbänke, das Übliche halt. Zwischen Schillerdenkmal und im verdorrten | |
| Park grasenden Nilgänsen entstehen temporär neue Gemeinschaften. | |
| Nachtschwärmer kommen vorbei und sorgen für kleine Performances des | |
| Alltags. | |
| Manches wirkt leiser bei dieser Biennale, kein großes Getöse wie beim | |
| [5][letzten Mal mit Wirbel um die goldene Erdoğan-Statue]. Das ist kein | |
| Makel, und wahrscheinlich unserer Zeit geschuldet. Das Große Haus, | |
| Spielstätte einiger Gastspiele, mit seinen 1.000 Plätzen zu füllen, ist | |
| schwer. Umso schöner, wenn die wenigen, die da sind, für die vielen, die zu | |
| Hause bleiben, mitklatschen, manche stehende Ovationen spenden. | |
| Etwa Jeremy Nedd und seiner Truppe Impilo Mapantsula. Ihre Arbeit „How a | |
| Falling Star Lit up the Purple Sky“ ist eine betörende Auseinandersetzung | |
| mit dem Western als Hochburg weißer Dominanz. Schwindlig machend nähern | |
| sich die Tänzer:innen den Klischees des Genres und konfrontieren sie mit | |
| der eigenen südafrikanischen Geschichte. Ein Abend, der auch ins Programm | |
| der Wiesbadener Maifestspiele gepasst hätte, als deren freche kleine | |
| Schwester die Biennale sich gern gebärdet. | |
| 7 Sep 2022 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Theater-aus-der-Ukraine/!5011577 | |
| [2] /Archiv-Suche/!5489748&s=Harrell&SuchRahmen=Print/ | |
| [3] https://www.wiesbaden-biennale.eu/ | |
| [4] /Restitution-afrikanischer-Kunst/!5771785 | |
| [5] /Kommentar-Erdoan-Statue/!5532216 | |
| ## AUTOREN | |
| Shirin Sojitrawalla | |
| ## TAGS | |
| Theater | |
| Performance-KünstlerIn | |
| Festival | |
| Kolonialismus | |
| Sexualisierte Gewalt | |
| Belgien | |
| Tanz im August | |
| Junges Theater | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Meakusma-Festival in Belgien: Die Rache der Nerds | |
| Nach Pandemie und Hochwasser ist in Belgien wieder das Festival Meakusma | |
| über die Bühne gegangen. Randständige Sounds finden hier ihre Hörerschaft. | |
| Internationales Tanzfestival in Berlin: Tanzwut und Lebensfreude | |
| Jetzt geht's ums Ganze – das spiegeln viele Stücke beim Festival Tanz im | |
| August in Berlin. Dabei stehen auch weniger heitere Themen im Fokus. | |
| Junges Theater beim „Radikal jung“: Von Disney unterwandert | |
| Beim Münchner Theaterfestival „Radikal jung“ ging es um politische | |
| Zeichensetzung. Dabei spielten Identitätsdiskurse und Folklore eine große | |
| Rolle. |