# taz.de -- Zwei Romane von Margaret Atwood: Doppeltes Spiel | |
> Sie entwirft geschlossene Welten: Eine dystopische Gesellschaftssatire | |
> und eine Variation auf Shakespeares „Der Sturm“ sind auf Deutsch | |
> erschienen. | |
Bild: Ein Theaterstück hinter Gittern und eine Gefängnisgesellschaft: Margare… | |
Margaret Atwood ist eine Autorin mit wenig Berührungsängsten. Mittlerweile | |
dürfte die heute 77-Jährige so ziemlich alles ausprobiert haben, was man | |
mit Worten machen kann. Lyrik, Prosa, Drama, keine Gattung ist ihr fremd. | |
Drehbücher hat sie geschrieben, als Librettistin, Cartoonistin, | |
Puppenspielerin gearbeitet. Sie sagte zu, als sie vor ein paar Jahren | |
gefragt wurde, ob sie bei einem Online-Literaturprojekt mitmachen würde, | |
und schrieb ein paar Folgen einer Serie mit dem Titel „Positron“ über ein | |
junges Paar, das sich zur Teilnahme an einem neuartigen | |
Gesellschaftsprojekt verpflichtet. | |
Die Folgen konnten einzeln als E-Book bestellt werden. Doch letztlich | |
siegte die herkömmliche Vertriebsschiene. Die E-Serie blieb unvollendet, | |
das Material ging in einen Roman ein, der unter dem Titel „Das Herz kommt | |
zuletzt“ jetzt auch auf Deutsch erschienen ist. Gleichzeitig erscheint ein | |
weiterer Atwood-Roman in Übersetzung, „Hexensaat“, der mit dem | |
erstgenannten auf den ersten Blick rein gar nichts zu tun hat. Und doch | |
teilen beide ein grundlegendes Spezifikum vieler Werke der kanadischen | |
Autorin. Das klassische Sujet des „huis clos“, der geschlossenen Welt, ist | |
spätestens seit ihrem großen Durchbruch mit „Der Report der Magd“ (1985; | |
deutsch 1987) eine Art Markenzeichen von Margaret Atwood. | |
Immer wieder, zuletzt auch in ihrer großen Endzeittrilogie „Die Flut“, | |
entwirft sie Szenarien geschlossener Gesellschaften. „Das Herz kommt | |
zuletzt“ und „Hexensaat“ realisieren dieses Sujet aus sehr | |
unterschiedlichen Blickwinkeln. „Das Herz kommt zuletzt“, | |
gesellschaftskritisch-satirisch angelegt, kehrt in mancher Hinsicht zurück | |
zum Topos des totalitären Menschenexperiments, mit dem Atwood beim „Report | |
der Magd“, dem dystopischen Entwurf einer theokratischen Gesellschaft, so | |
durchschlagenden Erfolg hatte. (Auch die derzeit in den USA laufende | |
TV-Serienadaption des Romans ist bereits mit viel Beifall bedacht worden.) | |
Wer jetzt den fertigen Roman liest und nicht nach den ersten | |
„Positron“-Folgen vergeblich auf Nachschub gewartet hatte, merkt diesem | |
seine etappenweise Verfertigung beziehungsweise einen gewissen Medienbruch | |
vielleicht nicht einmal an. Doch merkwürdigerweise scheint die Autorin es | |
für nötig gehalten zu haben – oder hat sich überreden lassen –, eine Art | |
Vorgeschichte zu schreiben. Wo „Positron“ seine Leser direkt in die | |
Handlung hineinwarf, ist dem Roman ein langes Kapitel vorangestellt. Eine | |
amerikanische Endzeitgesellschaft nach dem großen Wirtschaftscrash wird | |
hier porträtiert, in der auch die gut Ausgebildeten, wie die Protagonisten | |
Charmaine und Stan, ihre gut bezahlten Jobs verloren haben und gezwungen | |
sind, in ihren Autos zu wohnen. Da fällt der Eintritt in die Welt von | |
„Consilience“ leicht, in der für alle Grundbedürfnisse gesorgt wird und in | |
der alle Einwohner abwechselnd je einen Monat in „Freiheit“ und einen im | |
Gefängnis verbringen. | |
## Eng gestecktes Geviert | |
Charmaine und Stan teilen sich ein hübsches kleines Haus mit einem anderen | |
Paar, das immer dann darin wohnt, wenn sie selbst ihren Gefängnismonat | |
absolvieren. Sie sehen dieses andere Paar nie, bis es durch einen Zufall – | |
oder auch gar nicht zufällig – geschieht, dass Charmaine am Wechseltag mit | |
dem männlichen Teil des anderen Paares zusammentrifft und sich in eine | |
leidenschaftliche Affäre hineinziehen lässt, während Stan sich heimlich in | |
sexuellen Fantasien über die Frau des anderen ergeht. Es ist ein | |
beklemmendes Spiel mit menschlichen Bedürfnissen und Begierden, das Atwood | |
hier vorführt und dessen Spielverlauf im eng gesteckten Geviert dieser Welt | |
immer wieder unvorhersehbare Bahnen nimmt. | |
Wenn der Knoten sich dann aber allzu sehr geschürzt hat, um ihn mit | |
herkömmlichen Mitteln plausibel zu lösen, katapultiert die Autorin ihre | |
Geschichte kurzerhand mit einem erzählerischen Trick hinaus aus den Mauern | |
von „Consilience“, um einen zweiten, inhaltlich nur lose an den ersten Part | |
angebundenen Romanteil anzuschließen. Er spielt in einem anderen | |
künstlichen Kosmos: der Glitzer-Show-Welt von Las Vegas. So löst sich die | |
Spannung, die Atwood im ersten Teil aufgebaut hatte, in eine | |
surrealistisch-klamaukige Gesellschaftssatire auf, was so überraschend wie | |
enttäuschend kommt. | |
Der leicht gruselige David-Lynch-Touch, der über dem Ganzen liegt, hilft | |
insgesamt nur unvollkommen über den Eindruck hinweg, dass die Autorin | |
erzählerisch irgendwann einfach den Weg des geringsten Widerstandes | |
gegangen ist. In „Das Herz kommt zuletzt“ wird die große Konsequenz, mit | |
der Atwood solche Szenarien anderswo verfolgte, nur zitiert. | |
„Hexensaat“ hingegen ist das Spielerische schon von Beginn an | |
eingeschrieben. Der Roman ist Atwoods Beitrag zum Shakespeare-Projekt des | |
britischen Verlags Hogarth, bei dem zeitgenössische AutorInnen | |
Shakespeare-Dramen in eigenen Werken wiedererzählen. Margaret Atwood wählte | |
dafür das an fantastischen Elementen wohl reichste Shakespeare-Drama. „Der | |
Sturm“ spielt – geschlossene Gesellschaft! – auf einer einsamen Insel. | |
Dorthin hat es den Zauberer Prospero verschlagen, der, als Herzog von | |
Mailand geboren, schuldlos mit seiner Tochter Miranda in der Verbannung | |
lebt. Auf der Insel gebietet er über den Naturgeist Ariel und muss den | |
finsteren Wildmenschen Caliban kraft seiner Zauberkünste in Schach halten. | |
Margaret Atwood nun wählt für ihre „Sturm“-Variante als Handlungsort die | |
schärfste Form eines „huis clos“: ein Gefängnis. In einem solchen arbeitet | |
der ehemals berühmte Theaterregisseur Felix inkognito mit Häftlingen an | |
Shakespeare-Stücken. Nachdem er aufgrund einer Intrige seines einstigen | |
Partners seinen Posten als Festivalleiter verloren hatte, hatte Felix sich | |
von der Welt zurückgezogen. Als nun jener ehemalige Partner, inzwischen als | |
Politiker arriviert, sich zu einem Evaluierungsbesuch im Knast ankündigt, | |
beschließt Felix, die Gelegenheit zur Rache zu nutzen. Er will den „Sturm“ | |
auf die Bühne bringen und dabei ein kunstvolles Spiel im Spiel in Gang | |
setzen, im Zuge dessen der Bösewicht seiner Übeltaten überführt wird. | |
Das „Spiel im Spiel“, eine Form, die Shakespeare mit Hingabe pflegte, gibt | |
einen Rahmen vor, der einerseits von hochgradiger Künstlichkeit ist und | |
doch gerade durch die äußere formale Strenge allerlei spielerische | |
Möglichkeiten bietet. Dabei läuft Margaret Atwood zu großer Form auf. Ihr | |
gedoppeltes Spiel gerät niemals in Gefahr, zu simpel eine Ebene in der | |
anderen zu spiegeln. Sie geht variabel und behutsam mit dem Material um, | |
adaptiert hier, modernisiert dort, gruppiert ihr Romanpersonal ähnlich wie | |
Shakespeare es mit seinen Figuren tat, aber ohne in allzu starre Analogien | |
zu verfallen. Es ist ein großer Spaß. Und so ist es nicht zuletzt die – | |
sic! – Geschlossenheit der Form, die „Hexensaat“ zum besseren der beiden | |
Romane macht. | |
Altgediente Atwood-LeserInnen werden darin vielleicht das gewohnte Element | |
des explizit Gesellschaftskritischen vermissen. Implizit aber kriegt | |
immerhin der etablierte Kulturbetrieb ganz schön sein Fett weg. | |
17 May 2017 | |
## AUTOREN | |
Katharina Granzin | |
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