# taz.de -- Die moderne Anthropologie: Die neugierigen Reisenden | |
> Die Anthropologinnen um Franz Boas: Gegen das herrschende rassistische | |
> Weltbild setzten sie bei Reisen auf empirische Forschung. | |
Bild: Magret Mead auf den Admiralsinseln | |
Sie schauten in jeden Kochtopf, notierten noch die winzigsten Details, | |
besuchten die abgelegensten Orte und fischten nach Tabus und Legenden – der | |
„Kreis verwegener Anthropologen“ um Franz Boas. Das Buch „Schule der | |
Rebellen“ über den Ethnologen Franz Boas und seine Mitstreiterinnen | |
entführt in die wilden Anfänge einer aufstrebenden Wissenschaft und | |
Forschung, die sich gegen das rassistische Weltbild ihrer Zeit durchsetzen | |
musste. | |
Der „wissenschaftliche Rassismus“ dominierte nicht nur in den europäischen | |
Nationalstaaten mit ihrer Kolonialgeschichte, sondern auch im | |
multiethnischen Einwandererland Amerika. [1][Anthropometriker] und andere | |
Rassenkundler versuchten die höhere Wertigkeit der arischen, der weißen | |
Rasse mit obskuren Vermessungen und Behauptungen zu beweisen, um so den | |
Dominanzanspruch der weißen Rasse zu rechtfertigen und diese von anderen, | |
ungesunden Erbmassen abzugrenzen und die eugenische Zwangssterilisation von | |
Menschen mit „schlechtem Erbgut“ zu legitimieren. Ihre Bibel war „The | |
passing of the race“ von Charles Grant, das 1925 unter dem Titel „Der | |
Untergang der Großen Rasse“ auch in Deutschland erschien. Hitler zog es | |
begeistert und ausführlich für seine Rassentheorie heran. | |
Der Autor Charles King erzählt spannend und gut geschrieben die Geschichte | |
seiner ProtagonistInnen: ihre Reisen, Kämpfe, Lieben, Leidenschaften, aber | |
auch ihre Zweifel und Verirrungen. Vor allem erzählt er die Geschichte des | |
Rassismus zur Hochzeit von Kolonialismus und Rassentheorie sowie dessen | |
Unterhöhlung durch die neue Wissenschaft der Anthropologie. | |
Franz Boas war Ende des 19. Jahrhunderts von Deutschland nach Amerika | |
ausgewandert. Er gilt als Begründer der modernen Anthropologie. Seine | |
Feldforschungen bei den Inuit im arktischen Archipel und den Indigenen in | |
Westkanada führten ihn zu der Erkenntnis, dass die kulturelle Prägung | |
entscheidend für gesellschaftliche Unterschiede ist und nicht biologische | |
Wesensmerkmale, wie damals die vorherrschende Behauptung war. „Schule der | |
Rebellen“ zeichnet die Karrieren der Boas-Schülerinnen Margaret Mead, Ruth | |
Benedict und der ersten afroamerikanischen Ethnologin, [2][Zora Neale | |
Hurston], nach. | |
Ungewöhnliche, unangepasste Frauen, tiefschürfende Wissenschaftlerinnen, | |
die mutig durch die Welt zogen und kein Abenteuer scheuten. Sei es im Sinne | |
ihrer Forschung oder ihres Liebeslebens. Margaret Mead war insgesamt | |
dreimal verheiratet und hatte bis zu ihrem Tod eine leidenschaftliche | |
Beziehung zu ihrer einstigen Tutorin Ruth Benedict. Zora Hurston führte ein | |
unangepasstes, eigenwilliges Leben. Hurston erforschte zunächst den Alltag | |
und die Rituale der schwarzen Bevölkerung der Südstaaten. Margaret Meads | |
Studien zur Pubertät in anderen Kulturen forderten die herrschende | |
verklemmt-spießige Morallehre heraus. | |
Ob Margaret Mead auf der Südseeinsel Samoa alles zum Innenleben | |
pubertierender Mädchen notierte oder Zora Hurston auf Haiti Zombies | |
fotografierte – King nimmt uns mit auf ihre Reisen. Und diese Reisen, die | |
Forschungsergebnisse dieser Frauen um „Papa Franz“, wie sie Boas nannten, | |
veränderten das Denken über Ethnie und Geschlecht. Das Buch schildert auch | |
die Anfänge der Diskussion über Sex, Race und Gender. | |
Gegen die herrschenden rassistischen und eurozentristischen Ansichten | |
setzten sie die Idee der Gleichrangigkeit der Kulturen. Ihren | |
Kulturrelativismus verteidigten sie mittels empirischer Forschungen: Die | |
Ethnologen sollten Informationen sammeln, anstatt für bestehende Theorien | |
Beispiele zu suchen. Der Wissenschaftler müsse sich teilnehmend dem | |
Menschen nähern, deren Leben er erforscht. Nur als teilnehmender Beobachter | |
habe der Forscher die Möglichkeit, die unbekannte Kultur wirklich zu | |
verstehen. | |
Sie fuhren in die hintersten Winkel der Welt, lauschten Erzählungen, | |
Märchen, untersuchten Verwandtschaftsbeziehungen, Sexualität und Rituale. | |
Die Menschen vor Ort waren die einzig gültigen Zeugen ihrer Kultur und | |
nicht irgendwelche vorgefassten Meinungen und Vorstellungen über sie. Die | |
Anthropologinnen versuchten andere Kulturen aus dem Kontext ihrer Gegenwart | |
zu deuten. Dazu mussten sie reisen, Informationen sammeln, sich auf andere | |
Kulturen einlassen. Dafür waren nicht nur Gelehrsamkeit und Empathie | |
gefragt, sondern auch Abenteuerlust und Mut. | |
Ihr Kulturrelativismus wandte sich gegen die Vorstellung einer | |
Überlegenheit von bestimmten Völkern. „Wir sollten niemals aufhören“, so | |
das Credo Franz Boas, „zu wiederholen, dass der Rassismus ein monströser | |
Irrtum und eine dreiste Lüge ist.“ Für Boas war der Fehler der bisherigen | |
Ethnologie, die Menschen mittels Vorannahmen zu diskriminieren. Er wies | |
entschieden den Anspruch der Weißen zurück, die Krönung der Zivilisation zu | |
sein und daher andere herabwürdigen und ausbeuten zu dürfen. Die Ethnologie | |
müsse aufhören, so Boas, den Kolonialismus zu legitimieren. | |
Immer wieder konnte der Boas-Kreis anhand des empirischen Materials aus den | |
unterschiedlichsten Regionen der Welt gängige Theorien und Ansichten | |
widerlegen. Warum zum Beispiel sollte man an Rassentypen festhalten, wenn | |
sich diese nach Vermessungen als unhaltbar zeigen? Jede Geschichte der | |
Menschheit, die sich als großer Wettbewerb der Rassen begreife, sei falsch. | |
„Diese Ergebnisse sind so eindeutig, dass, während wir bislang das Recht | |
zur Annahme hatten, Menschentypen seien stabil, alle Beweise nun zugunsten | |
einer größeren Formbarkeit menschlicher Typen sprechen, und die Permanenz | |
von Typen in neuer Umgebung scheint nun eher die Ausnahme als die Regel zu | |
sein.“ Was die Menschen tun, weniger, was sie sind, sollte der | |
Ausgangspunkt für eine seriöse Sozialwissenschaft und damit auch Grundlage | |
der Einwanderungspolitik sein, schreibt Boas. Die bisherige Wissenschaft, | |
so kritisierte er, erhebe die westliche Kultur zur universellen Norm, was | |
die Minderwertigkeit aller anderen impliziere. | |
Charles Kings spannend geschriebenes Buch über die Entstehung der | |
Anthropologie ist faktenreich, lebendig und analytisch. Er schreibt: | |
„Kulturen sind raffinierte Schneider. Sie schneidern Kleider nach | |
Zweckmäßigkeit und arbeiten danach intensiv daran, die einzelnen Menschen | |
so umzuarbeiten, dass sie hineinpassen. Befreiung bedeutet, das Potenzial | |
der Menschen von den Rollen zu befreien, die die Gesellschaft geschneidert | |
hat.“ Kulturwandel komme dann auf, wenn genug Menschen zu erkennen | |
begännen, „dass die alten Kleider nicht mehr passen“. Und Margret Mead | |
schrieb in ihrem Nachruf auf Franz Boas: „Er glaubte, man müsse eine Welt | |
schaffen, die Andersartigkeit aushielt.“ | |
10 Oct 2020 | |
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## AUTOREN | |
Edith Kresta | |
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