# taz.de -- Feuer im Nationalmuseum in Rio: Als ganz Brasilien brannte | |
> Vor einem Jahr ist das brasilianische Nationalmuseum in Rio de Janeiro | |
> abgebrannt. Die Geschichte eines bewussten Vergessens. | |
Bild: Rauch über dem Nationalmuseum in Rio im September 2018 | |
Es ist ein hoffnungsvolles Video, das vergangenes Jahr anlässlich des 200. | |
Jubiläums des Museu Nacional, des brasilianischen Nationalmuseums in Rio de | |
Janeiro, veröffentlicht wurde. Sieht man es heute an, wirkt es wie ein | |
Nachruf. „Die meisten lieben das Museum“, erklärt Sérgio Nascimento darin. | |
Er ist sichtlich gerührt. Nascimento gilt als die Seele des Museums. Seit | |
1975 arbeitet er dort, zunächst im Lager, heute in der Geschäftsführung. | |
Eine üppige Zeremonie gab es trotz Jubiläum nicht, etwas Kleines musste | |
reichen. Der Grund: zu wenig Geld, mal wieder. 10 der 30 Museumsräume waren | |
damals geschlossen. Von der Regierung kam niemand zur Feier. Überrascht hat | |
das nicht; dass ein brasilianischer Präsident das Museum betreten hat, ist | |
über sechzig Jahre her. Hoffen konnte man trotzdem: Noch auf der | |
Jubiläumsfeier kündigte die staatliche Entwicklungsbank langersehnte | |
Finanzmittel in Millionenhöhe an. | |
Nur wenige Monate später liegt das Museum in Asche, und all die Hoffnungen | |
gleich mit. [1][Als sich in der Nacht vom 2. auf den 3. September 2018 im | |
Museumsgebäude die Flammen ausbreiteten], brannte eigentlich ganz | |
Brasilien. Das Naturkundemuseum in der unvermögenden Nordstadt an der | |
Quinta da Boa Vista gehört zur staatlichen Universität Rio de Janeiros, es | |
wird vom Bildungsministerium finanziert. Es war ein demokratischer Ort der | |
Kultur, der Verständigung und Bildung. Und es war laut Forschenden das | |
bedeutendste Museum dieser Art in Lateinamerika: Zum Zeitpunkt des Brandes | |
umfasste die Sammlung rund 20 Millionen Objekte – den Großteil hat das | |
Feuer zerstört. Darunter auch Artefakte längst ausgestorbener indigener | |
Gruppen und die letzten noch existierenden Aufzeichnungen ihrer Sprachen. | |
Seitdem ist ein Jahr vergangen. Im Museum befindet sich noch immer im | |
Ausnahmezustand. Über dem Museum hängt ein provisorisches Metalldach, | |
während im Gebäude die Suche nach Überbleibseln läuft. Mindestens bis | |
Dezember soll noch zwischen [2][Trümmern, Schutt und Asche] gesucht werden. | |
Luzia hat man bereits gefunden, so nennen sie das älteste in Lateinamerika | |
entdeckte Skelett. | |
## 90 Forschende und 500 Studierende | |
Das Museum beherbergt 90 Forschende und 500 Studierende, einige haben durch | |
den Brand ihre Forschungsgrundlage verloren. Auch José Urutau Guajajara. Er | |
gehört den Tenetehára-Guajajara an, im Museum erforschte er neben indigenen | |
Sprachen auch seine eigene Stammesgeschichte. Als der Brand ausbrach, war | |
er nur wenige Häuserblöcke vom Museum entfernt auf einem Geburtstagsfest. | |
Als er aus der Ferne das brennende Gebäude erkannte, rannte er los. Zweimal | |
versuchte Guajajara, in das Gebäude zu gelangen, aber Sicherheitspersonal | |
hinderte ihn. „Es fühlt sich an wie ein neuer Genozid“, sagte er der New | |
York Times wenige Tage nach dem Brand. „Dort lagen unsere Erinnerungen.“ | |
Erinnerungen, die bei vielen längst in Vergessenheit geraten waren. | |
Nach dem Brand bat die Museumsleitung die damalige Regierung unter | |
Interimspräsident Michel Temer um eine Anhörung. Wieder ohne Erfolg. „Uns | |
geht es sehr schlecht, und wenn wir keine handfesten Hilfen zugesichert | |
bekommen, werden wir aufhören müssen“, warnte Museumsdirektor Alexander | |
Kellner im Mai. Bis im Juni der erste Teil einer vom Ministerium | |
zugesicherten Zahlung ankam, lagerten gerettete Objekte auf dem Fußboden. | |
Unterdessen renovierte man für die Fußball-WM der Männer und Olympia das | |
Maracanã-Stadion für über 400 Millionen Euro, baute das olympische Dorf, | |
erneuerte den Flughafen. Für Spielstätten und Prestige verdrängte die | |
Stadtregierung Tausende aus ihren Häusern. Im neu gestalteten Hafengebiet | |
entstand nur wenige Kilometer vom Museu Nacional entfernt ein brandneues | |
Museum, es heißt Museu do Amanhã, Museum von morgen. Der Slogan: Morgen ist | |
heute. | |
Und gestern? Dass in diesem Hafengebiet einst Hunderttausende Menschen an | |
Land gebracht und versklavt wurden, dass auch für den Umbau der Gegend | |
Anwohner der angrenzenden Favela Morro da Providência enteignet und | |
vertrieben wurden, von alldem erfährt man im Museum von Morgen nichts. Das | |
Motto des für 50 Millionen Euro errichteten Museums: ausgerechnet | |
Nachhaltigkeit. | |
Im Museu Nacional hingegen ragten seit Jahren Kabel aus den Wänden, im Büro | |
des Museumsdirektors, das einst König Dom João IV gehörte, bröckelte der | |
Putz. Als es brannte, enthielten die umliegenden Hydranten kein Wasser. | |
Sanierungen nach einem Termitenbefall finanzierte man mittels Crowdfunding, | |
die Gartenpflege zahlte der Museumsdirektor aus eigener Tasche, Lehrende | |
kamen für die Bustickets des Reinigungspersonals auf. Als gar keine Löhne | |
mehr gezahlt werden konnten, schloss das Museum vorübergehend. Wohl auch | |
deshalb hat sich die Zahl der Besucher in den letzten Jahren halbiert. | |
Zuletzt besuchten mehr Menschen aus Brasilien den Louvre in Paris als das | |
Museum in Rio. | |
Neben Zahlungen von Regierungen und Kultureinrichtungen gab es von | |
Privatpersonen nach einem Jahr rund 70.000 Euro Spenden für das | |
brasilianische Museum. Als im April Notre-Dame brannte, bewegten sich | |
die angekündigten Spenden hingegen nach wenigen Tagen in Millionenhöhe. Und | |
obwohl vor allem die Großspenden auf sich warten lassen: 80 Millionen Euro | |
waren im Juni bereits gesammelt. Auch aus Brasilien kam Geld: Eine | |
brasilianische Milliardärin versprach für Notre-Dame über 20 Millionen | |
Euro. An das Museum in Rio spendete sie nicht. | |
Dass wohlhabende Menschen in Brasilien die europäische Kultur | |
glorifizieren, ist ein Erbe des Kolonialismus. Die brasilianische | |
Philosophin Djamila Ribeiro beschreibt Brasilien als „ein | |
europafokussiertes Land, das seine eigenen Schwarzen und indigenen | |
Hintergründe negiert“. Europäische Narrative bestimmen Schönheitsideale | |
und Lebenserwartungen, sie bestimmen, wer gesehen und gehört wird. Und sie | |
bestimmen, was als erinnerungswürdig gilt. | |
Zum Museumsbrand sagte der damalige Präsidentschaftskandidat Jair | |
Bolsonaro, der heute regiert: „Es ist passiert, es hat gebrannt, was soll | |
ich machen?“ Sein Zweitname sei Messias, Wunder könne er dennoch nicht | |
bewirken, ergänzte er. Als Notre-Dame brannte, bekundete er seine „tiefe | |
Trauer über das schreckliche Feuer“, er nannte die Kirche eines „der | |
größten Symbole der christlichen und westlichen Spiritualität und Kultur.“ | |
## Fünf Schulklassen pro Tag besuchten das Museum | |
Bereits an seinem ersten Tag im Amt hat Bolsonaro das bisherige | |
Kulturministerium aufgelöst, nur einen Monat vor dem Brand von Notre Dame | |
hat seine Regierung eine massive Kürzung des Bildungsetats angekündigt. | |
[3][Auch auf Kosten des Museums]: Über ein Fünftel der Hilfen, die dem | |
Museu Nacional für den Wiederaufbau zustanden, werden wohl ausbleiben. | |
Bolsonaros Unterstützer*innen sind häufig weiß und wohlhabend, sie können | |
den Louvre besuchen oder Notre-Dame. Laut einer Umfrage stammte das | |
Publikum des Nationalmuseums mehrheitlich aus einkommensschwachen Familien, | |
die Mehrheit der Besuchenden gab außerdem an, nicht weiß zu sein. Etwa fünf | |
Schulklassen besuchten das Museum pro Tag, viele aus öffentlichen Schulen. | |
Das Publikum des Museu Nacional entspricht damit in etwa der | |
Bevölkerungsgruppe, die unter Bolsonaros bisheriger Politik am stärksten | |
leidet. Unter der milliardenhohen Kürzung des Bildungsetats, der | |
desaströsen Umweltpolitik und seiner menschenfeindlichen Rhetorik. Oder | |
unter der Lockerung der Waffengesetze und der Polizeigewalt, die in | |
Brasilien heute dramatische Ausmaße hat. | |
Es sind die Geschichten dieser Menschen, die nun drohen, mit dem Brand in | |
Vergessenheit zu geraten. Die Geschichten der Natur, der Indigenen und der | |
Schwarzen Bevölkerung, Geschichten von Unterdrückung und Widerstand. Und | |
die Geschichte des Museumsgebäudes selbst, das von einem Sklavenhändler | |
errichtet wurde, das Kolonisatoren als Heim diente und in dem die | |
brasilianische Unabhängigkeitserklärung unterzeichnet wurde – Erinnerungen, | |
die Bolsonaro kaum interessieren. „Deixa os historiadores pra lá“, sagte er | |
als Präsidentschaftskandidat vergangenes Jahr in einem Fernsehinterview. | |
Das heißt: „Lasst die Historiker beiseite“, und es meint: Vergesst die | |
Geschichte. | |
2 Sep 2019 | |
## LINKS | |
[1] /Feuer-in-Brasilien/!5532798 | |
[2] /Ausgebranntes-Nationalmuseum-in-Rio/!5532970 | |
[3] /Brasilianer-nach-dem-Museumsbrand/!5533312 | |
## AUTOREN | |
Simon Sales Prado | |
## TAGS | |
Rio de Janeiro | |
Museum | |
Brasilien | |
Jair Bolsonaro | |
Indigene Kultur | |
Dänemark | |
Anthropologie | |
Rio de Janeiro | |
Brasilien | |
Brasilien | |
Brasilien | |
Brasilien | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Großbrand in Kopenhagen: Wahrzeichen in Flammen | |
In Kopenhagen brennt die alte Börse, Passanten helfen bei der Rettung | |
wertvoller Kunstgegenstände. Die Ursache des Feuers ist bisher vollkommen | |
unklar. | |
Die moderne Anthropologie: Die neugierigen Reisenden | |
Die Anthropologinnen um Franz Boas: Gegen das herrschende rassistische | |
Weltbild setzten sie bei Reisen auf empirische Forschung. | |
Favela-Literatur von Geovani Martins: „Echt“ bis in die Satzzeichen | |
Ein origineller, realistischer, manchmal authentizistischer Blick auf die | |
brasilianischen Favelas: Geovani Martins’ Kurzgeschichten „Aus dem | |
Schatten“. | |
Luiz Ruffato über Bolsonaro: „Das gab es noch nie“ | |
Seine Eltern konnten nicht lesen, er wurde zum Star-Autor Brasiliens. Luiz | |
Ruffato erzählt von politischem Analphabetismus und dem Regenwald. | |
Brasilianer nach dem Museumsbrand: „Es ist ein Verbrechen“ | |
Das Budget des Nationalmuseums in Rio de Janeiro wurde zuletzt stark | |
gekürzt, die Zeichen des Verfalls waren unübersehbar. Nun sind viele | |
Brasilianer zornig. | |
Ausgebranntes Nationalmuseum in Rio: Brasiliens Gedächtnis ist verloren | |
Das Nationalmuseum in Rio liegt in Schutt und Asche. 20 Millionen | |
Ausstellungstücke sind für immer verloren. Die Behörden sollen beim | |
Brandschutz geschlampt haben. | |
Feuer in Brasilien: Nationalmuseum in Rio abgebrannt | |
Lichterloh brennt eines der wichtigsten Museen in Rio de Janeiro. | |
Feuerwehrleute versuchen, historische Gegenstände aus den Flammen zu | |
retten. |