# taz.de -- Antye Greies neues Album "Gedichterbe": Das Reden in Zungen | |
> Antye Greie alias AGF untersucht auf ihrem Album "Gedichterbe", wie sich | |
> die Lyrik von Frauen aus zehn Jahrhunderten mit elektronischer Musik | |
> verträgt. | |
Bild: Ernster Blick: Antye Greie a.k.a. AGF | |
"Der talentvollen, hübschen Anfängerin schaut der Mann gutmütig duldsam von | |
oben herab auf die Finger, wehe aber der Frau, die ernst genommen werden | |
muss." So sprach die Malerin und Dichterin Hermione von Preuschen über die | |
Misere der weiblichen Kunstschaffenden 1896 auf dem Internationalen | |
Kongress für Frauenwerke und Frauenbestrebungen in Berlin. | |
Von Preuschen hatte für einen Skandal gesorgt durch das Porträt eines nicht | |
benannten Potentaten mit Totenschädel. Er trug diesen nicht als Symbol der | |
Vergänglichkeit zwischen den Händen, sondern auf den Schultern. Heute ist | |
von Preuschen bis auf die Tatsache, dass 2008 ein Platz in | |
Berlin-Lichtenrade nach ihr benannt wurde, vergessen. | |
Auf dem Album "Gedichterbe" von Antye Greie/AGF, der in Finnland lebenden | |
Berliner Elektronikkomponistin, ist Hermione von Preuschen mit dem Gedicht | |
"Meerleuchten" vertreten, interpretiert von der Rapperin Pyranja; darin ist | |
von Lichtmysterien zu hören, die in Flammenzungen sprechen. In AGFs Projekt | |
sind 28 Texte von Lyrikerinnen und (einem Bruchteil) Lyrikern aus zehn | |
Jahrhunderten versammelt, in Musik umgesetzt von Antye Greie und | |
vorgetragen von Musikerinnen wie Gudrun Gut, Barbara Morgenstern, Gina | |
D'Orio und Ellen Allien. | |
Es überwiegen Texte von Frauen, namhaften und weniger bekannten, angefangen | |
bei den Dichtungen der Frau Ava, einer der ersten in deutscher Sprache | |
schreibenden Frauen aus dem 11. Jahrhundert, die dem Track "Dü Inneren | |
Orren" zugrunde liegen. | |
Ein Highlight: Zu in einem Hallraum herumfliegenden Resten von Knistern und | |
Rauschen hat MC Quio den mittelhochdeutschen Text Avas über die Gaben des | |
Heiligen Geistes zum frei schwebenden Lobgesang auf den wissenschaftlichen | |
Geist umgebaut; wenn sie im Stil der jamaikanischen Dancehall "vuir! vuir!" | |
(mittelhochdeutsch für "Fire!") sprechsingt, dann ist damit Avas | |
Verbindungsposition zwischen mündlicher Überlieferung (der liturgischen | |
Aussage) und Schriftlichkeit (als Zugang zu Bildung und Wissen), zwischen | |
Wahrheitsschau und Aufklärung im pfingstlichen Bild der Feuerzunge, wie es | |
bis in die moderne Dancehall überliefert ist, hervorragend übertragen. Das | |
Reden in Zungen geht nicht notwendig mit einem Verzicht auf Klarheit | |
einher. | |
## Hörspielqualitäten | |
Man kann das Album hören wie ein Hörspiel, es geht nicht gerade in die | |
Beine, macht aber im Kopf etwas los. Angefangen bei den "inneren Ohren" ist | |
nicht nur ein Umbau herkömmlicher Körperschemata denkbar, sondern die | |
Auflösung ästhetischer Dogmen und Erweiterung des Klangbildes erklärte | |
Absicht. Mehr als eine illustrierende Funktion zu erfüllen, folgt die Musik | |
einem forschenden Interesse und bewirkt Intensivierung, Verflachung oder | |
Rhythmisierung der Texte (wenn diese nicht ihrerseits ganz entfallen); ein | |
Groove entsteht dabei nicht. | |
Meistens muss sich die Sprache – wie bei Paul Celans "Schwermutschnellen" – | |
einem Rauschen entgegenstemmen. Ein expressiver Brustton belastet die Texte | |
gelegentlich mit einer Bedeutungsschwere. So überwiegt bei den Sprechweisen | |
das Raunende und Dräuende. Andererseits ist es keineswegs nur eine | |
Expressivitätsklaviatur, auf der die Gedichte probiert werden, sondern sie | |
müssen sich alle möglichen Arten der Behandlung gefallen lassen und | |
vertragen das ganz gut. Ihre Klänge werden geschichtet, gestapelt, als | |
Assemblage arrangiert . | |
Vieles vom Dargebotenen scheint weniger die Autorität einer letzten Fassung | |
zu beanspruchen als eher die eines elaborierten Spiels. Auch die | |
Deutschsprachigkeit als gemeinsames Merkmal aller Texte ist nur ein | |
Grenzwert. Sie baut sich zum einen in dem Stück "An Achmatowa" nach Texten | |
von Marina Iwanowna Zwetajewa zwischen russischem Text und seiner deutschen | |
Übertragung ein Dialog auf, den der wiederholt dissonant anschwellende | |
Instrumentaltrack immer wieder als dritte Stimme durchbricht, wie ein | |
Kommentar zu dem asymmetrischen Verhältnis zwischen Achmatowa und | |
Zwetajewa, Verehrung auf der einen Seite, Duldung auf der anderen. | |
## Vollständig getilgt | |
Von einem verschwundenem Land erzählt Greie, die in der DDR aufgewachsen | |
ist, in zwei Tracks, die sie den widerständigen Dichterinnen Edeltraud | |
Eckert und Heidemarie Härtl widmet, und in denen die Texte vollständig | |
getilgt sind. Die Unterdrückung von Botschaft erscheint als Möglichkeit zu | |
anderweitiger, chiffrierter Äußerung; alle Grenzen der Sprachen werden zu | |
Chancen für Verständigung. | |
Den zentralen Bezugspunkt für Friedrich Schillers "Die Macht des Gesangs" | |
bildet in AGFs Interpretation die Musik selbst. Die in Schillers Hohelied | |
des Noise enthaltene Ästhetik des Erhabenen ("Ein Regenstrom aus | |
Felsenrissen / Er kommt mit Donner Ungestüm; / Bergtrümmer folgen seinen | |
Güssen, / Und Eichen stürzen unter ihn.") findet wiederum eine Art | |
komisches, ironisches Echo in Ann Cottens "Rosa Meinung", wo der Prunk der | |
Wahrheit, ächzender Eichenbaum und tausend brüchig krachende Scheite zu | |
"der Trödelväter Schaum" zusammenschießen. | |
Das Komische bleibt aber insgesamt eher auf der Strecke; da wurde die Sache | |
mit dem Ernstnehmen und dem Erben ihrerseits ein bisschen zu ernst | |
genommen. | |
5 Oct 2011 | |
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US-Sklaverei-Geschichte | |
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