# taz.de -- Jazz-Saxofonistin Grossmann: Ein Echo der frühen Sechziger | |
> Jazzsaxofonistin Muriel Grossmann verblüfft mit ihrem neuem Album. | |
> „Elevation“ ist charmant, unaufgesetzt und inspiriert aus der | |
> Vergangenheit. | |
Bild: Muriel Groossmann hält den Jazz in der Hand | |
Dass die 1971 in Paris geborene Muriel Grossmann zu einer bedeutenden | |
Jazzsaxofonistin reifen würde, das war nicht zu erwarten gewesen. Denn | |
nachdem sie 1976 mit ihrer Familie nach Wien zog, dort diverse Schulen | |
durchlief und die Matura ablegte, sollte Grossmann ursprünglich | |
Veterinärmedizinerin werden. Nebenbei hatte sie 16 Jahre lang Flöte | |
gelernt. Mit 21 wechselte sie zum Saxofon, schmiss ihr Studium und | |
verschrieb sich der Musik. Es folgten Jahre des Ausprobierens: Sie spielte | |
in diversen R&B-, Funk- und Jazz-Bands. | |
Erst als sie 2002 in Barcelona ansässig wurde, kristallisierte sich eine | |
Jazzkarriere heraus. Auf Anraten des Pianisten und Komponisten Joachim | |
Kühn, mit dem sie häufiger zusammenspielte, ging sie 2004 auf die | |
Baleareninsel Ibiza. Dort lernte sie Niko Weaver kennen, den langjährigen | |
Gitarristen von Prince, spielte mit ihm und verdiente ihren Unterhalt als | |
Hotelmusikerin. Gleichzeitig stellte sich Muriel Grossmann eine eigene Band | |
zusammen, mit der sie viele Gigs absolvierte. Ab 2007 produzierte sie ihre | |
Alben und wurde zur Labelchefin („Dreamlandrecords“) und Komponistin in | |
Personalunion. 36-jährig gelang ihr so der Durchbruch. | |
Vergleichsweise spät loszulegen wie Muriel Grossmann, bedeutet gerade im | |
Jazz keinen Nachteil; auch ein John Coltrane entwickelte sich erst | |
allmählich zum As, kam mit Mitte dreißig zu Weltruhm. Nicht die einzige | |
Parallele zwischen dem Methodisten-Sohn aus North Carolina und der | |
österreichischen Lehrerstochter. | |
## Coltranes Impulse!-Phase | |
Wer Grossmanns neues Album „Elevation“ hört, merkt auch sogleich, dass sich | |
Grossmann deutlich an der Impulse!-Phase Coltranes orientiert, so genannt | |
nach dem Label Impulse!. Es ist der Zeitraum ab 1961, als sich der | |
afroamerikanische Tenorsaxofonist gefunden hatte, aber vom klassischen | |
Combo-BeBop der Fünfziger hin zu freieren Formen fand. Er zeigte sich | |
aufgeschlossen gegenüber Experimenten, untersuchte etwa die afrikanischen | |
Ursprünge des Jazz und öffnete sich dem Spirituellen. | |
Coltranes Leichtigkeit der frühen Sechziger taucht bei Grossmann fast 60 | |
Jahre später als fernes, nicht zu ehrfürchtiges Echo auf, es beflügelt sie | |
zu einem Signaturwerk, das Coltranes Musik kondensiert. Gleichzeitig zeigt | |
sie sich inspiriert von Werken der Komponistin Alice Coltrane, John | |
Coltranes zweiter Frau, und dem Pianisten McCoy Tyner. All diese | |
Einflüsse kommen auf „Elevation“ zusammen. Das Label Jazzman hat in | |
Absprache mit der Künstlerin Stücke von zweier ihrer Alben neu | |
zusammengefasst. So finden sich „Peace for All“ und „Your Pace“ von | |
„Natural Time“ (2017) sowie „Elevation“, „Rising“ und „Chant“ v… | |
„Momentum“ (2016) wieder. | |
## Musikalische Stringenz | |
Der musikalischen Stringenz tut das keinen Abbruch, im Gegenteil: | |
„Elevation“ wirkt sogar konzentrierter als seine Ausgangswerke. Grossmanns | |
Quartett, an ihrer Seite spielen Radomir Milojkovic (Gitarre), Uros | |
Stamenkovic (Schlagzeug) sowie Gina Schwarz am Bass, drückt hier auf die | |
Tube. Die Besetzung blieb über das letzte Jahrzehnt stabil – mittlerweile | |
ist man gar zum Quintett gewachsen – und das blinde Vertrauen hört sich | |
gut an. | |
Die fünf Stücke sind voller Soul, warmer Jazz-Virtuosität und der Blick in | |
die Geschichte verklärt die Vergangenheit nicht. Grossmanns Saxofonsound | |
schmilzt zu einem 45-minütigem Traum, in dem sie die Übergänge sanft und | |
fruchtbar zugleich gestaltet. Die Künstlerin betet hier nicht allein den | |
Coltrane’schen Sound nach, sondern findet immer wieder eigene, moderne | |
Variationen, die sich auch von Fusion und Cool Jazz gefärbt zeigen. | |
Muriel Grossmanns „Elevation“ präsentiert sich immun gegenüber | |
Angebergegniedel und Aufgesetztheit. Sehr charmant, mit feiner Feder | |
geführt, lässt sie immer da Platz, wo eine Verdichtung übertrieben wäre. | |
Die Phrasierungen klingen locker und konzentriert zugleich. Ein Glück also, | |
dass Grossmann das Saxofon der Tiermedizin vorgezogen hat. | |
20 May 2020 | |
## AUTOREN | |
Lars Fleischmann | |
## TAGS | |
Jazz | |
Neues Album | |
Muriel Grossmann | |
US-Sklaverei-Geschichte | |
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