# taz.de -- Buch über Misstrauen: Viel besser als sein Ruf | |
> Florian Mühlfried schlüsselt in seinem Band „Misstrauen. Vom Wert eines | |
> Unwertes“ unscharfe moralische Kategorien auf. | |
Bild: Heilbronn 1988: Die ersten Pershing-II-Raketen werden gemäß dem INF-Abk… | |
Am 26. September 1983 bekommt Stanislaw Petrow, Kommandant in einem Bunker | |
der sowjetischen Flugabwehr, eine Meldung, die besagt, die USA habe eine | |
Atomrakete mit dem Ziel Sowjetunion auf den Weg gebracht. Petrow leitet die | |
Nachricht nicht weiter, er glaubt an einen technischen Defekt seines | |
Computers. Sein Misstrauen hat die Welt gerettet. | |
Eine wahre Begebenheit, die der Sozialanthropologe Florian Mühlfried | |
schildert, um die konstitutive Rolle von Misstrauen bei der Willensbildung | |
in Erinnerung zu rufen, aber auch, weil er der Ansicht ist, die Praxis von | |
Misstrauen sei vielfältiger als unser problematisierendes Verständnis von | |
ihr. Im postfaktischen Zeitalter hat Misstrauen Hochkonjunktur. | |
Glaubwürdige Berichte besagen, russische Hacker haben mit gefälschten | |
Social-Media-Konten Desinformation betrieben, um Misstrauen gegen die | |
US-Demokraten zu schüren und den Präsidentschaftswahlkampf 2016 zugunsten | |
von Donald Trump zu beeinflussen. | |
Von der Bankenkrise über die NSA-Affäre bis hin zum Abgasskandal, | |
Verwerfungen großer Konzerne und fragwürdige Praktiken von | |
Sicherheitsbehörden haben die unbestimmte Angst von BürgerInnen und somit | |
ihr Misstrauen gegenüber der Wirtschaft und den Grundfesten des Staats | |
verstärkt. Demokratie steckt in einer Legitimationskrise, populistische | |
Ideologien sind auf dem Vormarsch. Mühlfried schiebt voraus, Misstrauen sei | |
konstituierend für den modernen demokratischen Staat: Dessen Modell der | |
Gewaltenteilung ist explizit aus einem Misstrauen gegenüber totalitären | |
Herrschaftsinstrumenten entstanden. | |
In dem Band „Misstrauen. Vom Wert eines Unwertes“ schlüsselt der Hamburger | |
Wissenschaftler überzeugend die unscharfe moralische Kategorie des Begriffs | |
auf. Er stellt anhand einer Spektrenanalyse eine Skala von Misstrauen dar: | |
seine nach außen gerichteten – zentrifugalen – und nach innen wirkenden – | |
zentripedalen – Potenziale. Zu starke zentrifugale Kräfte von Misstrauen | |
(etwa im Weltbild islamistischer Terroristen) bedrohen eine Gesellschaft. | |
Mühlfried erscheint die zentripedale Eigenschaft von Misstrauen als | |
„Grundlage für Engagement“ dagegen demokratiefördernd, etwa von einer NGO, | |
die Bauern Mikrokredite gewährt. | |
Auf gesellschaftlicher Ebene argumentiert Mühlfried mit dem Soziologen | |
Niklas Luhmann. Misstrauen ist nicht nur das Gegenteil von Vertrauen, | |
sondern auch sein funktionales Äquivalent. „Im Namen der Demokratie | |
Vertrauen zu fordern ist paradox, denn die Praxis Demokratie schließt | |
Misstrauen ausdrücklich ein.“ Heute habe der Diskurs um Vertrauen | |
allerdings hegemoniale Züge angenommen. Für die Zukunft prognostiziert | |
Mühlfried, dass Misstrauen zur Überlebenstechnik wird, weil es die Kraft | |
hat, „Herrschaftsverkrustungen aufzubrechen“. | |
23 Mar 2019 | |
## AUTOREN | |
Julian Weber | |
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