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# taz.de -- Schottischer Rock'n'Roll-Roman: Pop als Halluzination
> „Eine Impfung zum Schutz gegen das geisttötende Leben, wie es an der
> Westküste Schottlands praktiziert wird“: ein Roman von David Keenan.
Bild: Mit diesem Zug kann man schnell aus Airdrie abhauen
Im Englischen bezeichnet man einen Nachäffer mit dem angenehm weich
klingenden Wort „Mocker“. Auch auf David Keenan und dessen Romandebüt
trifft dies vollumfänglich zu: Denn „Eine Impfung zum Schutz gegen das
geisttötende Leben, wie es an der Westküste Schottlands praktiziert wird“,
ahmt etwas nach: Die Praxis der Oral History, eine Zeitchronik anhand von
Interviews, wie sie sich in Keenans angestammter Profession,
Musikjournalismus, als gängiges Mittel der Geschichtsschreibung
durchgesetzt hat.
Der Schotte hat diese Methode in seinem Sachbuch „England’s Hidden
Reverse“, einer „Geheimgeschichte des esoterischen Undergrounds“ über
wichtige Bands und Künstlerfiguren der Industrial Music in den Nullerjahren
praktiziert. Mehr als 20 Jahre publizierte Keenan in britischen
Musikmagazinen und Tageszeitungen, interviewte unzählige KünstlerInnen. Das
hat er zwar weitgehend eingestellt – dennoch ist sein Roman in
Gesprächsprotokolle, nicht in Kapitel unterteilt. Auch ein Sach- und
Personenregister weist er auf.
In „Eine Impfung …“, im Original bereits 2017 erschienen, porträtiert der
48-jährige Schotte die fiktive Band Memorial Device. An die 30
Protagonisten (Bandmitglieder, Weggefährten, Familienangehörige) bringt er
dafür zum Sprechen. Auf dem Papier liest sich diese Idee einer
Pop-Halluzination gut: Sein Personal – „Schulversager, Möchtegernkünstler
und Träumer“ – redet, wie ihm der Schnabel gewachsen ist, es kommt aus
einer Kleinstadt, Airdrie.
## Unterkomplexer deutscher Buchtitel
Die gibt es wirklich, sie liegt an der nördlichen Peripherie von Glasgow.
Man merkt sofort, es ist Keenans Stomping Ground, er kennt dort jeden
Mauervorsprung und verbindet damit eine Hassliebe. „This is Memorial
Device“ lautete der Originaltitel seines Romans. Schade, dass aus der
Erinnerungsstütze dieses unsägliche deutsche Satzungetüm geworden ist.
Denn Memorial Device sind Lokalhelden, die das Zeug zum Großrauskommen
gehabt hätten, es aber nie weiter als zu einigen Gigs, Singles und Tapes
gebracht haben. Ihr Sänger Lucas ist vom Erdboden verschwunden, und die
Suche nach diesem semilegendären Hänger-Typen ist ein Handlungsstrang.
Daran beteiligt sind allerhand schattige Typen, die ihren Senf dazugeben,
so virtuos, wie man es aus Irvine Welshs „Trainspotting“ kennt.
Trainingshosen werden grundsätzlich bis zu den Brustwarzen hochgezogen, die
Augen sind „dramatisch schwarz geschminkt“. Die Handlung spielt erkennbar
in den Achtzigern und Neunzigern, aber man fühlt sich in die fiese alte
Zeit von Noir-Hard-Boiled-Krimis eines Jim Thompson zurückkatapultiert und
zum US-Autor Lester Bangs, dessen radikalsubjektive Form von teilnehmender
Beobachtung aus der Fanperspektive in Keenans Roman wiederauflebt.
## Survivaltipps von Gogol
Genüsslich breitet Keenan das Panoptikum sozialer Versehrtheit aus: Drogen,
Sex, dysfunktionale Familien, unnötig verschenkte Intelligenz, aber auch
praktische Tipps zum Überleben im Kaputten, bezogen aus „Aufzeichnungen
eines Wahnsinnigen“ von Gogol oder „Kind of Blue“ von John Coltrane, werd…
eingeflochten. Musik hilft den Leuten, um im Alltag des „geisttötenden
Lebens“ klarzukommen, sie ist Mittel der Kommunikation und sie wird hier
nicht als Häppchen an der Kasse des Plots verramscht, sondern bedeutet
Keenan mehr. Wer sich für randständige KünstlerInnen interessiert, wird bei
ihm fündig und kann Neues lernen. Eine Playlist ist hinzugefügt, das gehört
wohl inzwischen zur Vermarktung von Belletristik dazu.
Als pflichtbewusster britischer Linker muss er dann allerdings noch den
Nahostkonflikt mit in die Handlung einbauen. Die böse jüdische Mutter eines
Rockers lässt dessen PLO-T-Shirt aus dem Wäschekorb verschwinden. Eine
andere Protagonistin hat genug von Airdrie und sucht ausgerechnet in den
Palästinensergebieten nach Erlösung, wo sie für eine NGO arbeitet. Weniger
Zaunpfahl wäre mehr gewesen.
22 Sep 2019
## AUTOREN
Julian Weber
## TAGS
David Keenan
Schottland
Roman
Bargeld
AUDINT
Kolonialismus
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