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# taz.de -- Short Stories aus Singapur: Die Unmöglichkeit des Vergessens
> Frauen und Fabelwesen: Amanda Lee Koe ist die erste Repräsentantin einer
> neuen Literatur aus Singapur. Eine Begegnung in Berlin.
Bild: Auf den Spuren Benjamins und Wongs? Amanda Lee Koe in der Berliner Kondit…
Amanda Lee Koe ist erst vor einer guten Stunde in Berlin gelandet. Nun
tritt sie etwas müde, aber frisch geduscht, wie sie lächelnd erzählt, vor
die Tür ihres Hotels in Moabit. Wohin mit einer Autorin, die zwischen
Singapur und New York pendelt? Der Vorschlag, ein paar Schritte über die
Brücke zur Konditorei Buchwald zu gehen, wird für gut befunden.
Im Garten schlüpft Amanda Lee Koe umstandslos aus ihren Schuhen und macht
es sich auf ihrem Stuhl bequem. Ich erzähle, dass die Konditorei die
älteste Berlins und für ihren Baumkuchen berühmt sei. „Baumkuchen?“, fra…
Amanda Lee Koe. „Ich arbeite gerade an einem Roman. Dabei bin ich auf einen
Text von Walter Benjamin gestoßen. 1928 hat er die chinesisch-amerikanische
Schauspielerin Anna May Wong in einem Café an der Spree getroffen. Sie aßen
Baumkuchen. Könnte das hier gewesen sein?“
So könnte es gewesen sein, auch wenn Benjamin die Begegnung mit Wong, die
sich damals wegen Dreharbeiten in der Stadt aufhielt, in einem „gastlichen
Berliner Haus“ situierte. Den Namen der Gastgeberin gab er nicht preis.
Seine Gesprächspartnerin wiederum, die in Los Angeles geboren worden und
ebendort aufgewachsen war, orientalisierte Benjamin nach Kräften. Der erste
Satz seines in der Literarischen Welt erschienenen Artikels über das
Gespräch mit der Schauspielerin lautet: „May Wong – der Name klingt farbig
gerändert, markig und leicht wie die winzigen Stäbchen es sind, die in
einer Schale Tee sich zu mondvollen duftlosen Blüten entfalten.“
Dann soll es so sein: Amanda Lee Koe repräsentiert an diesem Nachmittag
Anna May Wong, ich ergebe mich in die Rolle des europäischen
Intellektuellen, der sein exotistisches Begehren nicht ganz im Griff hat.
Das sollte zu schaffen sein. Anna bestellt sich Latte Macchiato und
Baumkuchen mit Eis. Der Farbe nach könnte es Pistazie sein. Sie wird den
Baumkuchen nicht schaffen, Walter wird ihn später aufessen.
## Immer schon alt
Amanda Lee Koes Kurzgeschichtensammlung „Ministry of Moral Panic“ erschien
2013 bei Epigram Books in Singapur. Dort wurde das Buch von Publikum und
Kritik euphorisch aufgenommen. 2016 kam es in der hervorragenden
Übersetzung von Zoé Beck bei Culturbooks auf Deutsch heraus. Die
Literaturredaktionen des öffentlich-rechtlichen Radios und Popzeitschriften
wie Spex zeigten sich von „Ministerium für öffentliche Erregung“
begeistert. Auch die Jury des Internationalen Literaturpreises, der vom
Haus der Kulturen der Welt in Berlin und der Stiftung Elementarteilchen aus
Hamburg am Donnerstag verliehen wurde, hat die Qualität ihrer Geschichten
erkannt und sie in diesem Jahr auf die Shortlist gesetzt. Das Feuilleton
hingegen (abgesehen von der Neuen Zürcher Zeitung) ignorierte das Buch
konsequent.
Man merkt ihren Erzählungen zwar an, dass sie von einer sehr jungen Autorin
geschrieben worden sind. Amanda Lee Koe ist die erste, die das ungefragt
konzediert und anmerkt, sie blicke inzwischen mit etwas Abstand auf diese
Sammlung. Doch ihre Intelligenz, ihr Humor, ihr stilistisches und
erzählerisches Talent sind nicht zu übersehen. Sie habe sich immer schon
alt gefühlt, sagt sie, und es gibt wenige Autoren, die mit 23 solche Sätze
schreiben: „Vergebung ist nicht so schwer, wie wir glauben wollen, es ist
vielmehr die Unmöglichkeit des Vergessens, die Angst macht.“
## Ihre Figuren denkt sie radikal als Einzelne
Schon die erste Geschichte des Bandes ist grandios. Ein gealterter
Pop-Yé-Yé-Sänger mit einem schwachen Herz besucht seine Jugendliebe am
Krankenbett, doch sie erkennt ihn nicht. Langsam entfaltet Koe diese
Geschichte eines jungen und mittellosen, wenn auch später erfolgreichen,
muslimischen Malayen, der sich in ein chinesisches Mädchen verliebt, aber
aufgrund seiner Herkunft chancenlos bleiben muss: Falsche Ethnie, falsche
Religion, falsche Klasse. Der Vater des Mädchens findet eine bessere Partie
für sie.
Diese Zusammenhänge notiert die Autorin beiläufig, erzählt nur soviel, wie
für das Verständnis der Figuren nötig ist. Sie finde es traurig, sagt sie,
dass der Kosmopolitismus des zwanzigsten Jahrhunderts in Literatur und
Gesellschaft zunehmend einem identitären Denken Platz machen muss. Ihre
Figuren denkt sie radikal als Einzelne.
## Mit der Distanz einer Chirurgin
Noch viel mehr als die Klischees der anderen, etwa dasjenige vom sauberen
Singapur, interessieren Koe daher die Selbstbilder einer multiethnischen,
multireligiösen und multilingualen Gesellschaft, deren Literatur aber
traditionell von männlichen Protagonisten der chinesischen Mittelklasse als
patriarchalen Vorstehern der Kleinfamilie handelt. „Als asiatische Ehefrau
lernt man, den Mund zu halten. Der Ehemann hat immer recht“, heißt es in
einer ihrer Storys. „Vielleicht ist es jetzt anders, weil die Frauen
ebenfalls arbeiten. Ich weiß es nicht – ist es anders?“
Amanda Lee Koe blickt mit der Distanz einer Chirurgin auf die Beziehungen
zwischen Menschen. Da widmet sich eine todkranke ältere Frau platonisch
einer jungen Gesprächspartnerin, führen konservative Damen eine lesbische
Beziehung, hat ein Hausmädchen mit dem Hausherren Sex, wird ein junges
Mädchen vergewaltigt. Sie ist entehrt, aber die Männer aus dem Dorf haben
ihr Verbrechen vermutlich längst vergessen.
## Ins Fantastische
Amanda Lee Koes Schreiben lässt sich nicht korrumpieren, ihre Figuren sind
grausam, aber auch voller Mitgefühl, und das gilt auch für ihre
Erzählerstimmen. Sie schreibe gegen den drögen Realismus der modernen
singapurischen Literatur an, sagt sie, und in der Tat besteht das
Realistische ihrer Literatur darin, das Vernakuläre gekonnt in ihre Texte
einfließen zu lassen, wobei sie plausible Beschreibungen des Innen und des
Außen ihrer Figuren auch ins Fantastische verlängert.
In „Sirene“ etwa erzählt sie die Geschichte eines Ladyboys namens Marl. Er
ist die Frucht einer Verbindung zwischen einer Meerjungfrau und eines stark
behaarten Fischers, woraus sich die Eigentümlichkeit seines
Geschlechtsorgans erklärt: Es ist ein Schwanz, „mindestens zehn Zentimeter
lang, silbergrau, an der gerippten Schwanzspitze mit einem Hauch Gelb,
feucht und doch schuppig. Er lässt sich einziehen, dann ist nichts als eine
Spalte von außen zu sehen.“ Dieses fast Burroughssianisch anmutende Märchen
ist auch eine Satire auf das Wahrzeichen Singapurs, den Merlion, ein
Fabelwesen mit dem Kopf eines Löwen und dem Körper eines Fischs.
## Kursivieren? Nein.
Erscheinen explizite Sexszenen in Singapur als skandalös? Ja, sagt Amanda,
das passe einfach nicht zur autoritären Verherrlichung der zur Norm
erklärten heterosexuellen Kleinfamilie. Als ich meinem exotistischen Impuls
nachgebe und frage, ob Sexualität in der asiatischen Kultur nicht weniger
puritanisch als in den USA strukturiert sei, weicht sie aus wie einst Anna
May Wong, über die Benjamin schrieb: „Aus Frage und Antwort macht sich May
Wong eine Schaukel: Sie legt sich zurück und taucht auf, versinkt, taucht
auf, und ich komme mir vor, als gäbe ich ihr von Zeit zu Zeit einen Stoß.“
Amanda Lee Koe taucht also wieder auf und sagt: Zwar bemühe sich die
Regierung, Singapur nach außen mehr sexy erscheinen zu lassen. Aber dieses
Bild transportiere absurderweise eine Sexyness, die ganz ohne Sex
auszukommen versuche.
Die Körper und die Anziehungskräfte zwischen ihnen sind ein Katalysator
ihrer Geschichten, deren Sprache selbst promisk ist. Englisch ist eine der
vier Amtssprachen und Verkehrssprache des Inselstaats. Amanda Lee Koe
schreibt auf Englisch, streut aber Begriffe aus dem Malaysischen oder aus
südchinesischen Dialekten wie Hokkien in ihre Texte ein, wenn es um Essen
oder Popkultur geht, so wie es die Leute in Singapur eben machen. Den
Vorschlag ihres Verlegers, solche Wörter zu kursivieren, hat sie
kategorisch abgelehnt, würde sie damit doch selbst eine exotisierende, in
ein gedachtes Draußen verlegte Position einnehmen.
Ihre Aufgabe für die Zukunft definiert Amanda Lee Koe so: mehr am
ästhetischen Vehikel arbeiten. Was sie vermisst? „Writing without thinking
too much.“
9 Jul 2017
## AUTOREN
Ulrich Gutmair
## TAGS
Lesestück Interview
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Sexualität
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Theater
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