# taz.de -- Spielfilm „Vor der Morgenröte“: Die große Ohnmacht | |
> Maria Schrader erzählt die Liebesgeschichte zwischen dem exilierten | |
> Schriftsteller Stefan Zweig und Europa in wenigen, exemplarischen | |
> Ausschnitten. | |
Bild: Europa, wo bist du? | |
Man kann die üppige Blumenpracht auf dem Esstisch fast riechen, um den | |
Bedienstete herumwuseln, eifrig Besteck polieren und Teller geraderücken. | |
Schließlich wird das Stimmengewirr aus dem Nebenraum lauter. Die Türen | |
öffnen sich, das Galadinner kann beginnen. | |
Der Protagonist aus Maria Schraders Film „Vor der Morgenröte“ braucht | |
allerdings noch eine Weile, bevor er beim Mäandern durch die Gäste vor | |
Kamera- und Zuschauerauge angekommen ist. Mit den elegant gekleideten | |
TeilnehmerInnen des Treffens in Rio de Janeiro wenige Jahre vor | |
Kriegsbeginn wird nämlich auch der Ehrengast, der österreichische | |
Schriftsteller Stefan Zweig (gespielt von Josef Hader), in den Saal | |
gespült. Wie ein Lauscher an der Wand observieren die fast reglose Kamera | |
und das Publikum seine Bewegungen, schauen ihm zu, während er Hände | |
schüttelt, nickt, spricht, sozialisiert, näher kommt. | |
Die erste, fast zehn Minuten lange Szene ist symptomatisch für das Konzept | |
des Films: Regisseurin Schrader hat ihren Film über Stefan Zweig auf | |
wenige, exemplarische Ausschnitte aus seinem Leben konzentriert. Ein Prolog | |
in Rio, Zweigs Teilnahme am PEN-Kongress 1936 in Buenos Aires, von dem ein | |
Foto mit dem über die Zustände in Europa verzweifelnden Schriftsteller, der | |
seinen Kopf in die Hände stützt, um die Welt ging, Zweigs Aufenthalt in | |
Bahia, ein Treffen mit seiner Exfrau und seiner zweiten Frau in New York, | |
und sein selbstgewähltes Lebensende 1942 im idyllischen brasilianischen | |
Petrópolis. Mehr muss sie nicht erzählen, um ein reiches Leben und eine | |
unfassbare Verzweiflung abzubilden. | |
„Die Lücke, die Auslassung ist elementarer Bestandteil der Geschichte“, | |
sagt Schrader beim Interview in den Räumen der Produktionsfirma X Filme in | |
Berlin-Schöneberg. „Wir machen ein paarmal das Fenster auf und wohnen 20 | |
oder 25 echten Minuten aus dem Leben Stefan Zweigs bei.“ | |
## Von Ereignis zu Ereignis | |
Schraders Film, dessen Drehbuch sie gemeinsam mit Jan Schomburg, dem | |
Regisseur und Autor von „Über uns das All“ und „Vergiss mein ich“ | |
geschrieben hat, ist ein Wagnis: Schrader erzählt die Geschichte gegen die | |
Regeln einer konventionellen Dramaturgie und verlässt sich auf die Stärke | |
der wenigen, detailreichen Szenen. Immer wieder erlebt man quasi einen | |
neuen Filmanfang – Schrader liebt Filmanfänge, in denen „noch alles | |
möglich“ ist. | |
Und immer wieder wird man in eine neue Situation geworfen und versucht, die | |
Zusammenhänge herzustellen, Menschen, Ereignisse zu identifizieren. „Das | |
kennt man doch auch aus Gesprächen mit anderen Menschen, dass einem Namen | |
um die Ohren fliegen – ich finde diese Art von geforderter Aufmerksamkeit | |
glaubwürdig“, sagt Schrader, und nennt Todd Haynes’ großartige Bob | |
Dylan-Filmbiografie „I’m not there“, in dem verschiedene Schauspieler und | |
Schauspielerinnen den Musiker in unterschiedlichen Situationen verkörpern, | |
als eine ihrer Inspirationen. | |
Das Konzept geht einwandfrei auf: Die Zeit, die Schraders Film dem | |
Betrachter lässt, anstatt ihn entlang eines klassischen Spannungsbogens zu | |
gängeln, etabliert die Szenen so genau, als wäre man dabei. Jedes kleinste | |
Zucken in der Mimik Haders kann man registrieren und deuten, und die | |
fehlenden Positionen dazwischen lassen sich mit Fantasie ergänzen, die vom | |
Publikum gefordert, die ihm zugetraut wird. | |
Ein Experiment, in das auf beiden Seiten viel Vertrauen involviert ist. „Es | |
war eine Lust“, sagt Schrader, „herauszukriegen, ob man durch pure | |
Inhaltlichkeit, dem puren Beiwohnen eines Diskurses, wie zum Beispiel | |
zwischen Zweig und seiner Exfrau in der Küche, nicht auch Spannung erzeugen | |
kann. Ganz ohne die manipulativen Kräfte der Dramaturgie zum Wirken zu | |
bringen.“ | |
Verkopft ist Schraders und Schomburgs Zweig-Essay dennoch nicht. Dafür ist | |
sein Thema, das Leben eines exilierten Schriftstellers und sein Leiden an | |
den Zuständen, schließlich sein Verzweifeln an der Unmöglichkeit zu | |
handeln, zu emotional, sind seine Bilder zu sinnlich, ist die Aussage zu | |
dringlich. Und Haders mimische Möglichkeiten, diese Not auszudrücken, ohne | |
zu überspielen, sind überzeugend. Wenn etwa Zweig und seine Frau sich 1941 | |
von eifrigen Bauern auf einem Feld den Zuckeranbau am plastischen Beispiel | |
erklären lassen, sieht man ihm die Qual an: Er ist in Sicherheit, doch zu | |
Hause herrscht Krieg, werden Menschen, FreundInnen und Verwandte verfolgt | |
und getötet. | |
Erst in der fast letzten Szene, in der Hader und sein deutscher | |
Journalistenfreund, der ebenfalls exilierte Ernst Feder (Matthias Brandt) | |
auf dem Balkon stehen und in die überwältigende brasilianische Natur | |
schauen, spricht Zweig erstmals über seine Not: „Wie soll man das | |
aushalten?“ Hader spielt diese Szene so genau, dass es dennoch nicht einmal | |
diese Worte brauchen würde, um zu erkennen, welche Bilder er vor dem | |
inneren Auge hat: Er blickt direkt in die Hölle – aber das, was wir sehen, | |
ist das Paradies. | |
Sie habe von der Liebesgeschichte zwischen Zweig und Europa erzählen | |
wollen, sagt Schrader, die durch den Krieg eine tragische Wendung nahm – | |
aber ohne Europa zu zeigen. Die Regisseurin, die Stefan Zweig als Leserin | |
erst spät entdeckte, lässt sich zudem darauf ein, das Innere des | |
Schriftstellers zu erkunden, ohne ihn zu analysieren oder unnötig zu | |
psychologisieren: „Dass er Jude war, und seine Angegriffenheit sich darum | |
davon unterschied, wie etwa Thomas Mann damit umging – das hat mich | |
fasziniert“, sagt sie und verweist auf die Gemeinsamkeiten beider | |
Schriftsteller. | |
„Man muss ihn mit Mann vergleichen, denn sie hatten einen ähnlichen | |
Radius.“ Beide flohen vor den Nazis ins Exil, arbeiteten weiter, | |
unterschieden sich in ihrem Leben dort jedoch fundamental voneinander. Mann | |
landete nach vielen Stationen schließlich in den USA, und war von dort aus | |
stets als deutliche, aktive politische Stimme gegen das Dritte Reich zu | |
vernehmen. Zweig – davon erzählt der Film ebenfalls – war auch in der | |
Kriegssituation absoluter Pazifist und wollte bei seinem Credo der Trennung | |
von Kunst und Politik bleiben – und fühlte sich dabei so ohnmächtig, dass | |
er daran zerbrach. | |
## Zerbrechen an der eigenen Gradlinigkeit | |
Die genauen Choreografien der Situationen, die mit sparsamen Schnitten | |
auskommen, erinnern an Theaterakte: Auch dort muss das Ensemble stärker | |
noch als beim Film zusammenarbeiten, aufeinander schauen und hören, so | |
lange konzentriert mitmachen, wie es eben dauert. | |
Dass Schraders Ensemble zudem zu jeder Zeit in den jeweiligen | |
Landessprachen spricht, und die Tonspur somit mit Österreichisch, | |
Französisch, Spanisch (und den dazugehörigen murmelnden | |
Live-DolmetscherInnen) einem Lehrgang in Esperanto gleicht, ist eine | |
weitere Authentitätsmarke des Films. Die schwer durchzusetzen war: „Es gab | |
am Anfang immer nur eine Reaktion: Das geht nicht“, erzählt Schrader. „Das | |
funktioniert nicht, so viele Namen, so viele Sprachen, so viel Dialog.“ | |
Es hat sensationell funktioniert. Mit dem – nach „Liebesleben“ von 2007 �… | |
zweiten von ihr inszenierten Film ist Schrader für die beste Regie beim | |
Deutschen Filmpreis nominiert worden. Sie hat das Leben eines | |
außergewöhnlichen Schriftstellers ins kollektive Gedächtnis zurückgeholt | |
und würdige Bilder dafür gefunden, wie er an der eigenen Geradlinigkeit | |
zerbricht. Nebenbei haben Schrader und Schomburg dem oft viel zu braven | |
Biopic-Format endlich einmal kräftig eingeheizt. | |
1 Jun 2016 | |
## AUTOREN | |
Jenni Zylka | |
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