# taz.de -- Erzählungen von Maxim Biller: Die Feuerstellen unserer Vorfahren | |
> In seinem Buch variiert Biller Familiengeschichten wie ein Jazzmusiker. | |
> Jedes Mal auf neue Weise erzählt er von jüdischer Migration. | |
Bild: Ist mit seinen Eltern ins nicht gelobte „Deutschland der Deutschen“ e… | |
Es kommt bei Romanen und Kurzgeschichten eher selten vor, dass ihnen ein | |
Schutzvermerk vorangestellt wird. Es hat also einen Grund, wenn [1][Maxim | |
Biller]s erste Kurzgeschichtensammlung „Wenn ich einmal reich und tot bin“ | |
mit dem Hinweis versehen war: „Sämtliche Figuren und Handlungen sind frei | |
erfunden. Alle Ähnlichkeiten mit Lebenden und Verstorbenen sind deshalb | |
rein zufällig und nicht beabsichtigt.“ | |
Mag sein, dass solche Ähnlichkeiten nicht beabsichtigt sind. Doch es ist | |
offensichtlich, dass in vielen Figuren und Handlungen der Biller’schen | |
Geschichten Echos seiner Familiengeschichte und seiner eigenen Geschichte | |
als Schriftsteller, Kolumnist und Kritiker zu hören sind. | |
Etwaige Ähnlichkeiten mit Lebenden und Verstorbenen haben also einen guten | |
Grund, und sei es nur, dass das Leben die besten, weil unwahrscheinlichsten | |
Geschichten schreibt und das Werk eines Schriftstellers ohne seine | |
Erfahrungen recht dünn ausfallen dürfte. | |
Für die Geschichten als Geschichten spielen solche Ähnlichkeiten keine | |
Rolle. Sie sind für sich genommen wahrhaftig oder eben nicht. Gerichte | |
haben andere Kriterien, weswegen Billers Roman „Esra“ bis auf den heutigen | |
Tag nicht im Buchhandel erhältlich ist. | |
Die schrecklichste aller schrecklichen Zeiten | |
Unter dem Titel „Sieben Versuche zu lieben“ finden sich nun dreizehn | |
Familiengeschichten Billers versammelt, die einst verstreut in | |
verschiedenen Kurzgeschichtenbänden des Autors erschienen sind und die Nähe | |
von Autor und Werk bezeugen. Hintereinander gelesen zeigen sie außerdem, | |
dass Billers Roman „Sechs Koffer“ von 2018 viele Vorgeschichten hat, in | |
denen der Autor die Suche nach dem Familiengeheimnis (die sich umso | |
schwieriger gestaltet, als konkurrierende Erzählungen dazu kursieren) | |
bereits in verschiedenen Variationen durchgespielt hat. | |
Biller variiert diese Familiengeschichten wie ein Thema, das ein | |
Jazzmusiker gefunden hat und nun bei jedem seiner Auftritte, bei jeder | |
Aufnahme auf neue Weise interpretiert. | |
Es sind also Versionen derselben Familiengeschichte, von der Maxim Biller, | |
der in diesem Jahr seinen sechzigsten Geburtstag feiern wird, seit dreißig | |
Jahren in seinen Geschichten erzählt. Der Ich-Erzähler ist ein junger | |
jüdischer Mann, der mal mehr, mal weniger, mal gar nicht seinem Autor | |
ähnelt. Gewiss aber stammt er aus Prag, oder einem anderen Ort der ČSSR, | |
und ebenso gewiss stammen die Eltern, ein Elternteil (vielleicht auch nur | |
der Großvater) aus der Sowjetunion, vielleicht hat auch nur einer der | |
Eltern dort studiert. | |
Und wie jede jüdische Familie in Europa ist auch diese von der | |
„schrecklichsten aller schrecklichen Zeiten“ nachhaltig erschüttert, wie es | |
in der Geschichte „Ein trauriger Sohn für Pollok“, die 1994 erstmals | |
erschienen ist, knapp und präzise heißt. | |
Eine undurchsichtige Geschichte, die meist mit den stalinistischen | |
Verhältnissen und der giftigen Hintergrundstrahlung des Antisemitismus zu | |
tun hat, bringt die Familie nach Prag (zurück). Vater und Mutter haben | |
Probleme, die sich auch nicht bessern, als die Familie nach dem Prager | |
Frühling nach Deutschland emigriert. | |
„Nein“, heißt es in „Ein trauriger Sohn für Pollok“ lakonisch, „die… | |
haben im Exil wahrlich keine gute Figur gemacht – wir waren in der Fremde | |
einander noch fremder geworden, die Familienwohnung war nicht mehr der Ort | |
aller Gemeinsamkeit, sondern allein der neutrale Boden, wohin sich jeder | |
zurückzog, um darüber nachzusinnen, wie grässlich es dort draußen, in | |
diesem Deutschland der Deutschen, war.“ | |
Was steckt dahinter, what’s the story? Das fragt sich der Sohn, der mit der | |
Emigration, mit diesen Eltern, sich selbst und oft auch seiner klugen, | |
dominanten Schwester zurechtkommen muss. Eine gute Frage, weil „ein Kind, | |
das vergeblich auf seine Familiengeschichte wartet, weil es mangels | |
adäquater Worte ohne Antwort bleibt, isoliert ist wie ein Gefangener“, wie | |
Jacques Hassoun geschrieben hat. | |
## Liebe, Verrat, Schuld | |
Überlieferung ist eine zentrale Komponente jeder Kultur, meint der | |
französische Psychoanalytiker, weil wir nur im Licht des Früheren eine | |
Diskontinuität erkennen und ihr begegnen könnten: Wenn die Überlieferung | |
scheitert, wird die Diskontinuität zum Rätsel. | |
Vor solchen Rätseln stehen alle Erzählersöhne Maxim Billers, die mit ihren | |
Eltern ins nicht gelobte „Deutschland der Deutschen“ emigrierten, konkret | |
ins Westdeutschland der 1970er Jahre, das ihnen trotz dessen Vergangenheit | |
wie in Hort der Sicherheit erscheint. | |
Billers Geschichten folgen also auch Mustern. Wer nun auf den Gedanken | |
kommt, das sei langweilig, da werde immer dieselbe Geschichte erzählt, der | |
irrt, weil es in jeder Geschichte neue Aspekte des menschlichen Daseins, | |
der Liebe, des Verrats, der Schuld, der Lust am Bösen, des Leidens am nicht | |
Überlieferten zu entdecken gibt. | |
Diese, wegen ihrer traditionellen Form von manchen Kritikern geschmähte, | |
Literatur geht auf die Feuerstellen unserer Vorfahren zurück, ist den | |
minutiösen Protokollen autofiktional ihren Alltag ausstellender | |
zeitgenössischer Subjekte demnach einige Hunderttausend Jahre voraus. | |
Wegen ihres universellen Charakters weist sie weit über eine spezifische | |
jüdische Geschichte hinaus. Es sind menschliche Geschichten, die Biller | |
erzählt, und doch stellt sich die Frage, warum etwa den Sohn Polloks eine | |
Frage umtreibt, die sich andere Söhne gar nicht erst stellen: „Warum Vater | |
und Mutter und auch ich niemals miteinander glücklich wurden.“ | |
Eine andere Geschichte in diesem Band handelt von einem Sohn, dessen Leben | |
daran scheitert, dass er „vergeblich auf seine Familiengeschichte wartet“. | |
Seinen Vater, mit dem er im Streit liegt, hat er seit Jahren nicht mehr | |
gesehen. Der Vater hegte einen dem Sohn unverständlichen Hass auf das | |
deutsche Wort „Tschüss“, der Sohn vermutet hier den Kern des | |
Familiengeheimnisses, das er dem Vater nun entlocken will. Es gibt ein | |
solches Geheimnis, nur verhält es sich mit ihm anders, als der Sohn | |
vermutet hat: „Das Leben ist so schwer und so einfach wie jedes Geheimnis, | |
das man nicht löst.“ | |
Als vor drei Jahren Maxim Billers Vater starb, veröffentlichte der Autor in | |
der Zeit einen Text mit der Überschrift „Kaddisch für meinen Vater“, der | |
stilistisch an die Biller’schen Geschichten erinnerte. „Ich hab’ auch sch… | |
ein Buch über meinen Vater geschrieben“, erklärt Biller auf dem Neuen | |
Jüdischen Friedhof in Prag dem Rabbiner Sidon. „Wahrscheinlich handelt fast | |
jedes meiner Bücher von ihm.“ | |
Auf die Frage des Rabbiners, worum es bei diesen Geschichten gegangen sei, | |
antwortet der Schriftsteller: „Dass ich immer anderer Meinung war als er. | |
Und dass er im Kommunismus ein Mensch geblieben ist und kein Verbrecher | |
wurde. Und dass er mir beigebracht hat, mich immer mit den Chefs anzulegen | |
– und dass sich das leider manchmal auch gegen ihn wendete.“ | |
14 Mar 2020 | |
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## AUTOREN | |
Ulrich Gutmair | |
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