# taz.de -- Aufwachsen in der Provinz: Keine Heimat | |
> Unser Autor wuchs in Harsewinkel auf, dem Ort, aus dem auch Alice Weidel | |
> kommt. Auf seine Zeit dort blickt er mit einem zwiespältigen Gefühl | |
> zurück. | |
Bild: „Harsewinkel: Die Mähdrescherstadt“, so steht es auf den Ortsschilde… | |
Harsewinkel taz | Wenn mich jemand fragt, wo ich herkomme, erkläre ich | |
umständlich, dass die Stadt, in der ich aufgewachsen bin, zwischen | |
Bielefeld und Münster liegt, mitten in der ostwestfälischen Flachebene, | |
eingesäumt von Wiesen, Wäldern und Feldern. Wie fast überall in dieser | |
Gegend gibt es eine Handvoll Supermärkte, Häuser aus rotem Klinker, | |
gemachte Vorgärten, Kirchen und Moscheen, Schützenfeste, zerrüttete | |
Familien, ein paar Verkehrstote jedes Jahr, Bauernhöfe, rund 26.000 | |
Einwohner:innen, eine schlechte Busverbindung und ein Schwimmbad sowie | |
einen Friedhof. | |
Einmal im Jahr wird sich an Karneval die Seele aus dem Leib gesoffen. Und | |
ansonsten findet sich auch in jeder anderen Woche ein Anlass, sich den Helm | |
zu lackieren. Aus drei Ortsteilen setzt sich diese durchschnittliche Stadt | |
zusammen. Verbunden werden sie über die Bundesstraße 513. Dort rauschen die | |
motorisierten Fahrzeuge tagein, tagaus über den Asphalt und entlang der | |
grün-weißen Landmaschinenfabrik, die dieser Ort zu seinem Markenzeichen | |
auserkoren hat. Seit 2013 prangt ganz offiziell und unmissverständlich auf | |
den gelben Ortsschildern: „[1][Harsewinkel] – Die Mähdrescherstadt“. | |
20 Jahre habe ich an diesem Ort gelebt, länger als bislang überall anders, | |
und hatte dabei eine Jugend auf dem Land, wie sie im Buche steht: | |
stundenlange Ödnis mit Erdnussflips vorm Fernseher, todschlechtes Internet, | |
auf dem Rückweg von der meilenweit entfernten Party mit dem Fahrrad „Fürst | |
Uranov“ (ein Wodka; Anm. d. Red.) kotzend im Straßengraben landen, | |
untröstlichen Teenageliebeskummer und Freundschaften, die ein Leben lang | |
bestehen werden. | |
Doch trotz all der flirrenden Erinnerungen und einer behüteten Kindheit | |
kommt mir, um diesen Flecken Erde zu beschreiben, das Wort Heimat nur | |
schwer über die Lippen. Zu ambivalent ist mein Verhältnis zu diesem Ort, | |
als dass ich befreit darüber fühlen könnte. Schon früh wusste ich, dass ich | |
in Harsewinkel nicht bleiben werde. Zu leise, zu eng, zu weit weg von | |
allem. Ich wollte raus in eine Welt, die nicht gleich hinter der | |
Fleischerei Windau aufhört. | |
## Im Keller der evangelischen Kirche | |
Wenn ich ehrlich bin, waren es zu der Zeit vor allem die schwitzigen | |
Live-and-Loud-Konzerte im Keller der evangelischen Kirche und die kleinen | |
Punkshows in der Musikkneipe Muck eine Kleinstadt weiter, die dem | |
pubertären Leben Spaß, Wärme und Aufregung einhauchten. Mit Fußball und | |
Landjugend konnte ich herzlich wenig anfangen, denn nach der Schule noch | |
auf die Peiniger vom Pausenhof zu treffen, die einen mit den üblichen | |
Beleidigungen wie „Zwitter“ und „schwul“ überzogen, war nicht die erste | |
Wahl meiner Freizeitbeschäftigung. Ich verbarrikadierte mich, lud | |
haufenweise illegal Musik herunter und verschwand, noch bevor ich | |
Harsewinkel körperlich verließ, in den Songs. | |
Nun bin ich bei Weitem nicht der einzige verzweifelte Teenager gewesen, der | |
die Flucht von der Provinz in die Großstadt ergriffen hat. Tausende Bücher, | |
Songs und Filme erzählen immer wieder diese eine Geschichte des Weggehens. | |
Was bislang aber kaum erzählt wurde, ist die Geschichte der jungen Alice | |
Weidel, der ersten Kanzlerkandidatin der AfD, die einige Jahre vor mir | |
ausgerechnet in Harsewinkel ebenfalls ihre Kindheit und Jugend verbrachte, | |
1998 zum Studium nach Bayreuth abhaute und heute in einer lesbischen | |
Partnerschaft mit einer Frau aus Sri Lanka in der Schweiz lebt. | |
## Von der eigenen Familiengeschichte lernen | |
Im merkwürdigen Gegensatz zu ihrer Biografie verteidigt Weidel den | |
deutschen Heimatbegriff bis aufs Blut. Die sonst so redselige Politikerin | |
spricht allerdings nur äußerst selten über ihr eigenes Aufwachsen, und | |
wenn, um Angst zu schüren. So erzählte sie 2023 in einem Podcast, | |
Harsewinkel sei in ihrer Jugend völlig überfordert von „fremden Kulturen“ | |
gewesen. 2024 verschlug es sie zu einem Besuch dorthin, auf Instagram | |
posierte sie fröhlich mit dem örtlichen AfD-Politiker und Reichsbürger Udo | |
Hemmelgarn. Dazu ganz ohne Bauchschmerzen der Hashtag Heimat. | |
Dass aus einer Jugend auf dem Land nur ein heimattreues und rechtes Denken | |
entwachsen kann, stimmt natürlich nicht und wäre gegenüber den Menschen, | |
die ihr Leben abseits großer Städte verbringen, unfair zu behaupten. Aber | |
warum redet die Vorsitzende einer so heimatverehrenden Partei eigentlich so | |
wenig über ihre eigene Herkunft? | |
Vielleicht, um sich nicht mit ihrer eigenen Familie auseinandersetzen zu | |
müssen? Zum Beispiel mit ihrem Großvater und SS-Militärrichter Hans Weidel, | |
der mit seinen Kollegen über 50.000 Todesurteile fällte, von denen rund | |
20.000 vollstreckt wurden und der später seine Verbindungen zum NS-Regime | |
leugnete. Weidel war zwar erst sechs Jahre alt, als ihr Nazi-Opa starb. | |
Aber warum kann man eigentlich nicht aus der eigenen Familiengeschichte | |
lernen? | |
Bei mir war es die Geschichte meines Vaters, die eine gesunde Skepsis | |
gegenüber dem deutschen Nationalstolz in mir wachsen ließ. 1996, als ich | |
drei Jahre alt war, starb er an den Folgen seiner Alkoholkrankheit. Geboren | |
wurde er 1929 in der Nähe von Kaliningrad, mit 10 Jahren kam er zur | |
Hitlerjugend und nach dem Krieg verbrachte er mehrere Jahre in sowjetischer | |
Gefangenschaft. Ich habe nicht viel von ihm, aber ein paar Seiten Papier, | |
auf denen er seine Jugendjahre schildert und die voll von Grauen, Tod und | |
Gewalt sind. | |
## Tief sitzende Scham | |
Die Erfahrungen konnte er selbst nie ganz verarbeiten und griff wie so | |
viele zum Alkohol. Seit Jahren begleitet mich eine tiefsitzende Scham, die | |
mich nur äußerst selten darüber sprechen lässt und die seit der Jugend | |
dafür sorgt, dass ich während der großen Fußballereignisse für jedes mit | |
Deutschlandfahnen verunstaltete Auto nichts als Verachtung übrig habe, | |
ebenso wie für die sicher ganz harmlos gemeinten „Sieg Heil“-Rufe beim | |
Public Viewing in der Bauernscheune und die nur zum Spaß an die | |
Schulfenster geschmierten Hakenkreuze. | |
In einem regional bekannten Karnevalsschlager heißt es: „Die Mädchen aus | |
Harsewinkel, die sind nicht so, die sind nicht so bescheuert“. Und ich | |
frage mich, wie aus dem Mädchen Alice Weidel eine so Hass schürende und | |
geschichtsvergessene Person werden konnte? Was hat die ländliche Langeweile | |
mit ihr gemacht? Wo konnte diese grauenhafte Vaterlandsliebe trotz Nazi-Opa | |
ihren Anfang nehmen? | |
Und welche Songs haben die Drum ’n’ Bass liebende Weidel dabei geprägt? | |
Denn zur Wahrheit gehört, dass ich ohne die Musik damals durchgedreht wäre, | |
dass es zunächst ein paar wenige Songs, Bands und Konzerte waren, die den | |
moralischen Kompass in mir kalibrierten und für eine erste Politisierung | |
sorgten. So war das heimliche Saufen, während wir [2][Egotronic] hörten und | |
„Raven gegen Deutschland“ brüllten, zwar einerseits billige | |
Realitätsflucht, aber andererseits auch immer ein Suchen nach Verbundenheit | |
– selbst wenn wir noch nicht von jeder Zeile wussten, was sie bedeutete. | |
## Irgendwo in Deutschland geboren | |
2013, kurz nach meinem Wegzug aus Harsewinkel, erschien in Stuttgart der | |
großartige Sampler [3][„Von Heimat kann man hier nicht sprechen“] und | |
verleiht seitdem meinem Unwohlsein gegenüber der eigenen Herkunft einen | |
Namen. Noch heute sind es, aus all den abertausenden Songs, ausgerechnet | |
jene über diesen merkwürdigen Zustand von Heimatfremde, die mir Tränen in | |
die Augen treiben. | |
Sie geben mir das Gefühl, dass ich nicht alleine damit bin, kein | |
unbeschwertes Verhältnis zum Ort meiner Herkunft entwickeln zu können, | |
trotz all der lauwarmen „Becks Ice“-Erinnerungen am schmalen Ufer der Ems. | |
Und auch wenn es manchmal schwerfällt, nicht in einer verschwommen | |
Jugendnostalgie baden zu gehen, ist es doch gut, so in Anbetracht der | |
aktuellen Lage, in der es breiter Konsens in Deutschland ist, Menschen so | |
schnell es geht, wieder in „ihre Heimat“ abzuschieben. | |
„Ein Gefühl oder eine Sehnsucht, die sich weit weg entfacht“, schreit die | |
Punkband Freiburg aus einem Harsewinkeler Nachbarort in ihrem Stück | |
„Kotzen, Heulen, Dorfdisco!“ – ich trage dieses Lied schon mein halbes | |
Leben wie eine gut behütete Perle mit mir herum. | |
Und wenn es nach all den Jahren so etwas wie eine Art von Heimat für mich | |
gibt, dann ist sie irgendwo versteckt zwischen all den Songs, Büchern und | |
Filmen, die sich diesem zwiespältigen Bauchschmerz widmen statt jenem Ort, | |
an dem ich 1993 irgendwo in Deutschland geboren wurde. | |
12 Jan 2025 | |
## LINKS | |
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Harsewinkel | |
[2] https://egotronic.net/ | |
[3] https://wohnstadtstuttgart.bandcamp.com/album/von-heimat-kann-man-hier-nich… | |
## AUTOREN | |
Tobias Siebert | |
## TAGS | |
Schwerpunkt Stadtland | |
wochentaz | |
Provinz | |
Herkunft | |
Heimat | |
Jugend | |
Alice Weidel | |
GNS | |
Schwerpunkt AfD | |
Schwerpunkt AfD | |
Schwerpunkt Frankfurter Buchmesse 2024 | |
Schwerpunkt Leipziger Buchmesse 2024 | |
Literatur | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Weidel gegen Windkraft: Auch ökonomisch dumm | |
Mit ihrem Hass auf Windräder bedient die AfD-Chefin Ressentiments. Fast | |
noch schlimmer ist: Sie könnte bei dem Thema den Takt vorgeben. | |
Roman über Leben auf dem Dorf: Nicht da, aber dageblieben | |
Wie steht es um die westdeutsche Provinz? Nach den Autoren der | |
Baseballschlägerjahre im Osten gibt nun Markus Thielemann Einblick ins | |
Heideland. | |
Leben einer französischen Arbeiterin: Nach der Fischfabrik | |
In „Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben“ widmet sich Didier Eribon | |
einem schmerzhaften Teil seiner Herkunft: der Beziehung zu seiner Mutter. | |
Roman „Draußen feiern die Leute“: Die falsche Welt | |
Das Aufwachsen in der Provinz kennt Sven Pfizenmaier gut. Der Autor, der | |
keinen Kühne-Preis gewinnen wollte, liest aus seinem Debutroman in Lübeck. |