# taz.de -- Leben einer französischen Arbeiterin: Nach der Fischfabrik | |
> In „Eine Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben“ widmet sich Didier Eribon | |
> einem schmerzhaften Teil seiner Herkunft: der Beziehung zu seiner Mutter. | |
Bild: Didier Eribon – in Deutschland ein gefeierter Soziologe und Intellektue… | |
„Du musst vernünftig sein.“ Mit diesen Worten bringen die Söhne ihre Mutt… | |
an einen Ort, an dem sie nicht sein möchte, zu dem es aber keine | |
Alternative zu geben scheint. Während die Mutter erst weint und sich dann | |
ins Unvermeidliche fügt, räumt der eine Sohn bereits ihre Sachen in die | |
Schränke; der andere notiert: Das Altenheim am Rand eines Neubaugebiets im | |
nordostfranzösischen Fismes sei „eine kalte, unmenschliche Kulisse“ – ke… | |
Wunder, dass sie da nicht hinwolle. | |
„Mein Herz zog sich zusammen. Was taten wir ihr an?“, fragt er sich. Bis | |
zum späten Nachmittag bleibt dieser zweite Sohn noch bei ihr, dann nimmt | |
auch er den letzten Bus in die Stadt. | |
Mit dieser brutalen Szene beginnt Didier Eribons neues Buch über den | |
Abschied von seiner Mutter. Genau genommen sind es viele verpasste | |
Abschiede: Nur einmal noch besucht der Autor sie im Einzelzimmer im zweiten | |
Stock, sieben Wochen nach ihrem Einzug ins Altenheim stirbt sie. „Eine | |
Arbeiterin. Leben, Alter und Sterben“ – der betont nüchterne Buchtitel | |
weist darauf hin, dass der französische Soziologe weit mehr als die | |
persönliche Trauer eines Sohnes verhandelt. | |
Wie schon in seinem Bestseller „Rückkehr nach Reims“ (2009) gelingt es | |
Eribon auch hier wieder, die individuelle Beziehung einzubetten in eine | |
Analyse der sozialen Verhältnisse, die diese Beziehung rahmen. | |
## Das System ist unmoralisch | |
Nach dem eigenen Klassenaufstieg, vom Aufwachsen als Kind einer Putzfrau | |
und eines Hilfsarbeiters in der Provinz bis zum offen schwul lebenden | |
Pariser Intellektuellen, stellt Eribon diesmal seine Mutter in den | |
Mittelpunkt seiner literarisch-soziologischen Auseinandersetzung. | |
Neu ist weder die von Eribon selbst mitgeprägte und an Bourdieu geschulte | |
Gattung der „Autosoziografie“ noch das Sujet: Mit der verstorbenen Mutter | |
haben sich vor ihm im französischsprachigen Raum bereits [1][Annie Ernaux] | |
(„Eine Frau“, 1987) und Eribons Ziehsohn Édouard Louis („Die Freiheit ei… | |
Frau“, 2021) auseinandergesetzt. | |
Didier Eribons besondere Gabe aber ist die Verschränkung von kühler Analyse | |
mit großer Empathie. Etwa wenn er die Situation der betagten Frau | |
beschreibt: „Die Krankheit meiner Mutter war das hohe Alter, das Pflegeheim | |
würde ihr ‚Gefängnis‘ sein, und sie musste sich von dem Wunsch nach | |
Gesundheit und Freiheit verabschieden, denn sie war nicht mehr gesund und | |
würde sich nie wieder frei bewegen, würde nie mehr frei entscheiden | |
können.“ | |
Für alle alten Menschen sind Altenheime „Einöden der Einsamkeit“ (Norbert | |
Elias), die sie in der letzten Lebensphase von der Gemeinschaft isolieren. | |
Für eine Arbeiterin wie Eribons Mutter kommen noch die „Gefängnisse“ | |
Geschlecht und Klasse obendrauf. Eribon umreißt kurz die Lebensstationen | |
dieser Frau, die als ungewolltes, uneheliches Kind im Waisenhaus aufwuchs, | |
sich bereits mit 14 Jahren als Dienstmädchen verdingen musste, später als | |
Putzfrau und in einer Fischfabrik arbeitete und, in einer Zweckehe mit | |
einem cholerischen Hilfsarbeiter lebend, vier Söhne großzog. | |
Das Ehpad (Établissement pour l’hébergement des personnes âgées | |
dépendantes, Einrichtung zur Unterbringung hilfsbedürftiger alter | |
Menschen), wie die staatlichen [2][Altenheime in Frankreich] heißen, | |
schildert Eribon als letzte Station eines von Zwängen und Begrenzungen | |
geprägten Frauenlebens. | |
Architektonisch ähnelt das Zimmer im Ehpad den Sozialwohnungen, in denen | |
seine Mutter zuvor lebte; auch im Heim bleiben die Angehörigen der | |
Arbeiterschicht unter sich. Die zumeist am Stadtrand oder in | |
Gewerbegebieten angesiedelten Einrichtungen ähneln nicht nur äußerlich | |
Gefängnissen, sondern auch der von Personal-, Geld- und Zeitknappheit | |
geprägte Alltag der Bewohner*innen. | |
Eribon spricht, einen Bericht der Bürgerrechtsbeauftragten Frankreichs über | |
die Pflege in den Ehpads zitierend, von „institutioneller Gewalt“, die | |
Grundrechte alter Menschen verletze, und stellt fest: „Man kann es gar | |
nicht oft und laut genug sagen: Das System ist unmoralisch“. | |
Er schildert, wie seine Mutter sich am Telefon darüber beschwert, dass sie | |
nicht mehr täglich aufstehen dürfe, das Zimmer nicht verlassen, dass man | |
sie zwinge, Windeln zu tragen, dass sie nur einmal pro Woche geduscht | |
werde. Ihre Klagen, manchmal unter Schluchzen vorgetragen, erreichen oft | |
nur den Anrufbeantworter – die Söhne sind mit ihren eigenen Leben | |
beschäftigt oder fühlen sich machtlos angesichts der Zustände, die vielfach | |
skandalisiert wurden und an denen sich doch nichts ändert. | |
## Pflegeheime als Renditeobjekte | |
Überrascht stellt Eribon fest, dass die Situation in privaten Pflegeheimen | |
noch schlimmer sei: Diese seien als Renditeobjekte einem noch gnadenloseren | |
Sparzwang unterworfen; das führe zur absurden Situation, dass den | |
Bewohner*innen vermeintlicher „Premiumresidenzen“ das Essen rationiert | |
werde. Ein schwacher Trost für den Sohn, der sich mit Schuldgefühlen quält, | |
der Mutter kein „besseres“ Heim bieten zu können. | |
Das Sterben sei für seine Mutter das letzte Aufbegehren gewesen, das ihr | |
noch blieb. Eribon überlegt: „Der Beschluss zu sterben erfordert sicher | |
viel Mut und Entschlossenheit […].“ Auf anrührende Weise beschreibt er, wie | |
seine Mutter als 80-jährige Witwe zum ersten Mal die Liebe kennenlernte; | |
als auch diese späte Beziehung zu Ende geht, ist ihr Lebenswille dahin. | |
Zuvor aber erlebte sie, wie die „Unwürdige Greisin“ bei Bertolt Brecht, | |
„kurze Jahre der Freiheit nach langen Jahren der Knechtschaft“. Wie in | |
Brechts Kurzgeschichte stößt ihre Liebe an die Grenzen gesellschaftlicher | |
Konventionen, der Mann ist jünger und zudem verheiratet. Die Kinder | |
missbilligen diese Beziehung (für seine heterosexuellen, mackerhaften | |
Brüder hat Didier Eribon nur Verachtung übrig) – nur der schwule Sohn | |
solidarisiert sich mit ihrem „unstatthaften“ Begehren. | |
## Obsessive Abwertung anderer | |
Diese Solidarität endet jedoch an einem Punkt: am vehementen Rassismus der | |
Mutter. Den Hass auf „die da oben“ sowie „die Nordafrikaner“, „die | |
Schwarzen“ und „die Chinesen“ ließ Didier Eribon als junger Mann zurück, | |
als er sein Herkunftsmilieu verließ. Schon in „Rückkehr nach Reims“ | |
arbeitete er sich öffentlich an der Frage ab, wie nämlich aus einer stolzen | |
kommunistischen Arbeiterklasse schließlich Front-National-Wähler*innen | |
werden konnten. | |
Nun fragt er sich, warum diese Frau, die selbst von einem spanischen Gitano | |
abstammt, sich in der obsessiven Abwertung anderer Marginalisierter | |
gefällt. Eribon stellt fest, dass seine Mutter kein Einzelfall ist: „In der | |
weißen Arbeiterschaft schien der Rassismus ein verbindendes Element zu | |
sein, schien er die Menschen in ihrer Beziehung zur Welt und zu anderen zu | |
bestärken.“ | |
Nein, ein verklärendes Mutterbuch ist „Eine Arbeiterin“ nicht geworden, | |
überhaupt ist es ein Buch, das einfache Analysen vermeidet und gerade | |
deshalb zum Nachdenken anregt. Bei aller [3][Empathie für ihre Klasse] und | |
Lage, bei aller in der Tradition Simone de Beauvoirs vorgebrachten Anklage | |
einer Gesellschaft, welche die Alten aus ihrer Mitte verbannt: Eribon | |
zeichnet seine Mutter nicht nur als Opfer der Verhältnisse, er zeigt sie | |
auch als engstirnige, erratische, wenig sympathische Person. | |
Auch sich selbst schont er nicht, wenn er erzählt, dass er die Mutter nicht | |
zur Theaterpremiere von „Rückkehr nach Reims“ in Berlin einladen will, weil | |
er sich für sie schämt. Aus der schmerzvollen Feststellung, „Ich war ein | |
Sohn, jetzt bin ich keiner mehr“, spricht auch eine gewisse Erleichterung | |
des „Klassenflüchtlings“, mit dem Tod der Mutter das letzte Band zu seinem | |
Herkunftsmilieu gelöst zu sehen. | |
20 Mar 2024 | |
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## AUTOREN | |
Nina Apin | |
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