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# taz.de -- Geschichte vom sozialen Aufstieg: Frittierte Jugend
> Die Arbeitsjacke seines Vaters erinnert unseren Autor an den eigenen
> sozialen Aufstieg. Ein Essay über den Geruch alten Fetts und Klassismus.
Bild: Relikt eines autobiographischen Psychogramms: Die Arbeitsjacke des Vaters
Die blaue Arbeitsjacke hängt im Schuppen meines Vaters. Ein unförmiges Teil
aus dem Wasserwerk, an den Ellbogen abgewetzt, das Blau von der Sonne
ausgeblichen. Als ich ihm erzählte, dass solche Jacken in Berlin gerade
angesagt seien, konnte er es kaum glauben. Er rief sogar seinen Cousin an,
der beim Wasserwerk arbeitet, um sich über die verrückten Künstler*innen
in Berlin lustig zu machen.
Er hat Recht. Die [1][Hipster in Berlin tragen die Arbeiterjacken], wie es
nur Reiche und Lässige können. Mit working class kokettieren geht nur, wenn
man sie hinter sich gelassen hat – oder nie Teil von ihr war. Man kann sie
an- und wieder ausziehen. Während sich etwas anderes nie ganz abstreifen
lässt.
In den letzten Jahren sind [2][einige Bücher zu Klasse und nichtakademische
Herkunft] populär geworden. Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“ oder „…
Ende von Eddy“ von Édouard Louis. Erzählungen, die von
Arbeiter*innenfamilien handeln, vom sozialen Aufstieg, und sich der
Frage nähern, welche wirkmächtige Rolle die soziale Herkunft für den
Lebensweg eines Menschen spielt.
Es sind wichtige Erzählungen, denn noch immer werden mit dem neoliberalen
Mantra vom selbstschöpferischen Individuum betonharte Klassenstrukturen
verdeckt. Wenn, so wie aktuell, darüber diskutiert wird, ob Klassismus –
die Benachteiligung aufgrund der sozialen Herkunft – eher ökonomische oder
kulturelle Fragen aufwirft, lässt sich daran erinnern, dass Klasse schon
immer beides meinte: System und Vorurteil. Beides lässt sozialen Aufstieg
zur Ausnahme werden, die die Regel bestätigt. Ein auf der Hand liegendes
Problem von sogenannten Aufstiegsgeschichten ist, dass sie nur von
Aufsteiger*innen geschrieben werden.
So wie umgekehrt vor allem diejenigen von Klassismus betroffen sind, die
zwar die Konsequenzen am eigenen Leibe spüren, aber mit dem
sozialwissenschaftlichen Terminus nur wenig anfangen können. Zum sozialen
Aufstieg gehört, einen Begriff davon zu haben und die eigene
Lebensgeschichte als Aufstieg erzählen zu können. Einen Artikel in der
Zeitung darüber schreiben zu können.
## Kein Ruhetag
Meine Eltern haben in der Gastronomie gearbeitet. Sie waren selbstständig
und damit keine Arbeiter*innen, aber ich kannte sie gar nicht anders
als in ihren Arbeitsklamotten. Mein Vater im weißen Kochanzug, mit
schwarz-weiß karierten Hosen, immer ein flatterndes Küchentuch auf der
Schulter, als habe er es darauf dressiert. Meine Mutter mit schwarzem Rock,
Kellnerinschuhen und Bedienungsschürze.
„Kein Ruhetag“ stand auf einer Tafel am Eingang unserer Wirtschaft in der
bayerischen Provinz. Das „Dampfschiff“. Es lag nicht im Wasser und hatte
keine Schaufelräder. Aber glaubt man den Erzählungen meiner Eltern, hätten
wir es damit überall hinschaffen können.
Meine Mutter schrieb jeden Tag. Sie hatte eine schöne, geschwungene
Handschrift. Wie die Schrift einer eleganten Dame, die täglich Briefe in
alle Welt schreibt. Auch wenn sie nur die Tageskarte neu beschriftete. Wenn
sie mal einen Nachmittag frei hatte, kam meine Mutter vollkommen erschöpft
zur Tür herein, schaltete den Fernseher ein und ließ sich in ihren Sessel
fallen, den man nach hinten klappen konnte. Nach wenigen Minuten schlief
sie ein. Fernsehschlafen. Für alles andere war sie zu kaputt. Mein Vater
kam spät und duschte jede Nacht, um den Fettgeruch aus der Küche
loszuwerden.
Wir kannten viele Dinge, für die andere keinen Begriff hatten. Annoncieren,
Bouillon, Kanapees. Schöne, fremd klingende Wörter wie aus einem anderen
Land. Dass sie tatsächlich daher kamen, ahnte ich damals nicht. Ein Baum
war ein Baum, eine Blume eine Blume, aber ich konnte ein Nackensteak von
einem Rumpsteak von einem Rinderfilet unterscheiden. Die Arten und Spezies
der Gastronomie waren meine Botanik.
Im Wohnzimmerregal meiner Eltern standen keine Bücher, sondern Autokarten
und Gläser mit Münzen. Lesen und Büchern haftete für mich lange nichts
Erstrebenswertes, sondern etwas Lächerliches an. Mitschüler*innen, die im
Deutschkurs begeistert mitsinnierten, waren nichts weiter als Streber und
Brillenschlangen.
## Wachsender Abstand zu Eltern
Als ich zu lesen begann, Hesse und Kafka, mit achtzehn, war es wie das
Betreten eines fremden Planeten, den ich mit der Ausstattung eines
Gastrokinds erkundete: null Kenntnisse der Landschaften, keine Karte an
Bord, Cola und Pommes neben dem Bett. Und mit jeder Reise wurde der Abstand
zwischen mir und meinen Eltern größer.
„Egal was du tust, geh niemals in die Gastro!“, sagten meine Eltern. Obwohl
sie jeden Tag von früh bis spät arbeiteten, konnten sie sich gerade so über
Wasser halten. Wenn das Geschäft nicht mehr lief, zogen wir um, in eine
neue Wirtschaft. Als der Krieg in Jugoslawien ausbrach, der Heimat meines
Vaters, kamen noch weniger Gäste, als könnten sie sich bei den Ćevapčićis
mit irgendetwas anstecken.
Alle paar Jahre wechselte ich die Schule, wo mir mein Ruf vorauseilte. „Es
riecht nach Pommes. Ilija kommt“. Hinter einer doppelten Fritteuse groß zu
werden, hatte nicht nur Vorteile. Ich begann, mich zu schämen. Für meine
alte Winterjacke, für die kleine Wohnung, den rostigen Opel Kadett, für
mein rollendes R, das in jedem Gespräch wie eine Kreissäge in der Luft
hing. Noch heute beschnuppere ich jedes Kleidungsstück wie ein Spürhund,
bevor ich es anziehe.
Nach dem Gymnasium landete ich bei der Soziologie. Der erste in meiner
Familie auf einer Universität. Meine Mutter wollte nach dem Studium wissen,
ob ich später „mit Behinderten“ arbeiten würde. Als auch die letzte
Wirtschaft geschlossen, meine Eltern geschieden und mein Vater zurück in
seine neue Heimat Kroatien gegangen war, arbeitete sie weiter als
Bedienung, irgendwann bei McDonald’s. Es kostet mich auch heute noch
Überwindung, das so hinzuschreiben. Dabei erzählt das mehr über die
Arbeitsschicksale in unserer Gesellschaft als über meine Familie. „Einmal
Gastro, immer Gastro“, sagten meine Eltern. Auch wenn sie vielleicht nicht
wissen, [3][was „Klassismus“ ist], kennen sie ihn sehr gut. Sie haben nur
eine andere Sprache dafür.
Nach der Uni fehlten mir die Mittel, die Praxis, das habituelle Wissen.
Erst spät habe ich mich getraut, zu schreiben. Ich beneide Autor*innen, die
davon erzählen, schon als Achtjährige ihre ersten Gedichte geschrieben zu
haben, die schon immer „wussten“, Autor*in werden zu wollen. Ich ärgere
mich aber auch über sie, über ihren Mythos von der natürlichen Begabung.
Heute bewege ich mich irgendwie zwischen den Welten, fühle mich weder am
Stammtisch noch beim Gespräch in der Literaturgruppe wohl. Die Unsicherheit
bleibt, sie schreibt immer mit. Die [4][klassische Aufstiegsgeschichte]
ähnelt einer Gipfelwanderung. Man beginnt in der schattigen Klamm der
eigenen Herkunft, verhandelt Ambivalenzen (Gewinne und Verluste) des
Nach-Oben-Kommens und blickt am Ende zurück ins Tal.
## Soziologie ohne Plan
Für manche gelten Aufsteiger*innen als besonders beharrlich oder
kämpferisch. All jene, die es nicht in höhere Lagen schaffen, umweht sofort
die Aura des Untüchtigen. So zementiert das Bild vom Aufstieg, das bei der
Arbeiter*innenfamilie anfängt, aber beim „Ich habe es geschafft“
aufhört, das Stereotyp vom Deklassierten. Es folgt der Leistungsethik, alle
anderen seien vielleicht selbst schuld. Dabei strengt sich niemand mehr an
als Menschen wie meine Eltern.
Ohne Krieg wäre vieles im Leben meiner Eltern anders verlaufen. Ohne die
vielen Umzüge wäre ich nicht so selbstständig geworden. Ich habe mich weder
mehr angestrengt noch bin ich klüger als meine Schwester, die schon als
Kind viel las, auf die Hauptschule ging und danach eine Ausbildung
absolvierte. Sie wollte, da wir keins hatten, früh ihr eigenes Geld
verdienen. Ich wollte aufs Gymnasium wegen meiner zwei besten Freunde, da
war ich zehn und mochte am liebsten Vanilleeis. Eine Freundin hat mir den
Steppenwolf in die Hand gedrückt, ich las ihn, um ihr zu gefallen.
Ich habe Soziologie studiert, weil ich sonst keinen Plan hatte. In den
Lücken meines CV stehen Abbrüche, Hartz IV und Barjobs. Peer-Groups,
soziale Kontexte, Zufälle, Glück – vor allem Glück – all das spielt eine
Rolle beim so genannten Aufstieg. Oft bleibt einem nur, sich über den
eigenen Werdegang zu wundern. Wie über das magische Schulgebäude in Harry
Potter, wo man eine Treppe hoch läuft und weiter unten rauskommt. Es geht
nicht darum, Aufstiegsgeschichten zu schmälern, sondern den Blick auf
strukturelle Faktoren zu lenken, die die soziale Mobilität verhindern oder
eben erhöhen könnten.
Mein Vater hat mir ein Paket aus Kroatien geschickt. Als ich es öffne,
flattern mir ein paar blaue Arbeitsjacken entgegen. Auf dem Rücken steht
„Vodovod“ (Wasserwerk). Mein Vater sagt, ich könne die Jacken ja in Berlin
verkaufen, wenn sie gerade so modern seien. Aber ich verkaufe sie nicht und
hänge sie in meinen Schrank. Sie sind steif gebügelt und duften nach
Waschmittel, wie nur frische Tischdecken aus der Gastro riechen.
23 Apr 2021
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## AUTOREN
Ilija Matusko
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