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# taz.de -- Porträt des Autors Lukas Rietzschel: Osterklärer jenseits der Ras…
> Im Theater beschreibt Lukas Rietzschel einen AfD-Aufsteiger. In seinen
> Romanen positioniert er sich eindeutig, agitiert aber nie. Ein Porträt.
Bild: Analysen übler Zeiterscheiungen: der Autor Lukas Rietzschel
Zur Premierenfeier von „Das beispielhafte Leben des Samuel W.“ begrüßte
Intendant Daniel Morgenroth ausdrücklich die angereiste Weltpresse. Schon
vor der Uraufführung des Auftragswerks vergangene Woche schaute das
deutsche Feuilleton auf das [1][Gerhart-Hauptmann-Theater Görlitz] und
seine Zittauer Schauspielsparte im Dreiländereck an der Neiße.
Vor allem aber auf den noch nicht ganz 30-jährigen Autor Lukas Rietzschel.
Erwartet wurde von ihm, der seit einem halben Jahrzehnt im Ruf eines
Ostverstehers steht, eine theatralische Einstimmung auf das
Schicksalswahljahr 2024.
Das enorme Medieninteresse spricht nicht nur für die Qualitäten des jungen
Schriftstellers. Es signalisiert auch im Jahre 34 nach der deutschen
Einheit einen unverändert hohen Erklärungsbedarf für das scheinbar so
unberechenbare Verhalten der Ostdeutschen.
Warum zeigen sich diese Schlechtgelaunten so undankbar für die Segnungen
des Westens? Warum entdeckten ausgelaugte West-Nazis nach der Wende hier
neue Tummelplätze, warum infizieren Ostdeutsche mit apokalyptischen
Wahlumfragen der AfD nun wiederum den Westen?
Erklärbücher wie [2][Uwe Tellkamps „Der Turm“] stießen auf größte Reso…
im Westen. Jeder Ostdeutsche hingegen muss inzwischen [3][ein Trotzbuch wie
Dirk Oschmanns „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“] gelesen haben. In
keines dieser Raster passt Lukas Rietzschel.
## Nachwendetraume, Gegenwartsfrust
Die Unbefangenheit, mit der er sich DDR-Prägungen, Nachwendetraumata und
Gegenwartsfrust nähert, könnte die Redensart von einer Gnade der späten
Geburt 1994 nahelegen. Gekoppelt mit genauer Beobachtungsgabe und der
Selbstdisziplin, nicht den Missionar zu spielen, sondern auf Authentizität
seiner Handlungsträger zu setzen. [4][Dass er 2017 in die SPD eintrat] und
damit in seinem Wohnort Görlitz als einer der wenigen Sozi-Exoten gelten
kann, wissen nur wenige und bemerkt erst recht kein Leser oder Zuschauer.
Rietzschel entstammt nicht der slawischen Minderheit der Sorben, wuchs aber
in deren Lausitzer Siedlungsgebiet in Räckelwitz auf. Das Studium der
Germanistik und Politikwissenschaft in Kassel erscheint wie ein Ausflug des
Bodenständigen vor seiner Rückkehr in die Lausitz nach Kamenz und Görlitz.
Mithin in eine von Brüchen besonders geprägte Region. Die
Braunkohletagebaue fraßen 130 sorbische Dörfer, aber der Mythos Kohle
begründet heute in der Region eine verbreitete Skepsis gegenüber der Klima-
und Energiewende.
Solche mäandernden Linien lassen sich im kontinuierlich wachsenden Werk
Rietzschels nachverfolgen. Wie und warum sind so viele Menschen zu „Fällen“
geworden, die uns heute in ihrer Totalverweigerung und Flucht in den
Chauvinismus als Bedrohung der Demokratie erscheinen?
Auch seine jüngste Zittauer Uraufführung folgt dieser Spur. Stellvertretend
für die vielen zeichnet der Autor das Porträt eines AfD-Aufsteigers und
seinen Werdegang. Er heißt im Stücktitel Samuel W., aber Einwohner werden
in ihm unschwer den Polizisten Sebastian Wippel erkennen. 1982 in Görlitz
geboren, wäre er beinahe Landrat und 2019 Oberbürgermeister in Görlitz
geworden, sitzt aber weiterhin in der AfD-Landtagsfraktion.
## Die Normalität ist das Alarmierende
Im Stück hat W. keine Rolle, tritt nur als lebende Plastik auf einem
hinteren Podest in Erscheinung. Die stummen Gesten, die er in Slow Motion
übt, könnten kämpferisch-heldische Posen sein oder an den
körpersprachlich-rhetorischen Unterricht Hitlers erinnern. Es sind Bürger
wie du und ich in Unschuldsweiß, die vor spießig-alltäglicher weißer
Kulisse über ihn berichten. Die Verhältnisse haben den eher zurückhaltenden
Jungen Samuel, der bis heute kein Alphatier ist, zu einem
AfD-Spitzenfunktionär gemacht. Ein durchschnittlicher Biedermann ist er
geblieben.
Lukas Rietzschel hat für das Stück hundert Interviews geführt, einige davon
wohl auch mit sich selbst. Nein, er verstecke sich nicht hinter den
Interviews, dementiert der Autor und verweist auf deren künstlerische
Bearbeitung und die Zitatauswahl. Im Briefkasten oder Mailfach erfahre er
zwar Anfeindungen, lasse sich aber nicht beirren.
Fühlbar positioniert er sich, agitiert aber nie. Alarmierend erscheint
nicht die Drastik, sondern die Normalität des Geschilderten. Buch- oder
Stücktitel wirkten oft derber gewählt als der Inhalt, wie schon bei seinem
preisverdächtigen Erstling „Mit der Faust in die Welt schlagen“. Oder beim
in Leipzig auch als sehenswerten Theaterfilm inszenierten „Widerstand“, der
eine depressive, traumatisierte Familie zeigt.
Lukas Rietzschel schreibt so, wie er auch bei persönlichen Begegnungen
erscheint. Defensiv, immer zuhörwillig, umgänglich und nahbar, kein
Selbstdarsteller. Der Kontrast [5][zum nahezu doppelt so alten Kollegen Uwe
Tellkamp] konnte nicht größer sein, als beide im vorigen Herbst zu einem
überhaupt nicht dialogischen Dialog in die Dresdner Frauenkirche geladen
waren. Verbittert, hasserfüllt und geradezu autistisch ging Tellkamp lange
weder auf sein Gegenüber noch auf die Moderatorin ein, spulte nur
vorbereite Spottverse auf das System herunter. Rietzschel hingegen wirkte
in seinem Bemühen um Anknüpfungspunkte geradezu seelsorgerlich.
## Meister der Analyse
Sogar dann, wenn ihn etwas wirklich ärgert, platzt er damit nicht heraus.
Nach der amerikanisierten, auf Show getrimmten Verstückung seiner
„Raumfahrer“ in Cottbus beispielsweise, als er der Aufforderung zum
Bühnen-Schlussapplaus nicht folgte und nur still sitzenblieb. „Raumfahrer“
ist ein subtiler Roman über den ihm vertrauten Kamenzer Raum und über die
Brüder Kern, von denen einer als [6][Georg Baselitz] ein bekannter Maler
wurde. Als solcher versucht sich Lukas Rietzschel ebenso mit einigem
Erfolg, wenn er auch erst 2022 in Lübbenau zu seiner ersten Ausstellung
kam.
Als Meister der Analyse und Anamnese von üblen Zeiterscheinungen erscheint
er zugleich als sympathischer Anachronist. Seine Elterngeneration
betreffend merkt man aber auch, dass er diese Zeiten nur aus
Sekundärquellen kennt. Da kolportiert er manches, etwa die Doppelbelastung
emanzipierter Frauen oder die angebliche Ausbeutung in der DDR betreffend,
wo er doch zugleich von Zeitzeugen das „Beine hoch“ am VEB-Arbeitsplatz im
Sinne des Spruchs „Privat geht vor Katastrophe“ schildern lässt.
Aber auch das bewirkt Wiedererkennungseffekte bei alten und neuen
Ostbürgern. Sollten jene den streitbaren Dichter Peter Hacks noch kennen,
träfe dessen Gedichtzeile „Zwischen allen Stühlen sitze ich fest auf der
Erde“ auf Lukas Rietzschel zu.
Das Feuilleton verkürzt ihn meist auf Erkenntnisgewinne über den codierten
Osten. Darauf fixiert lauern wie vor der Zittauer Uraufführung viele
Journalisten schon auf das nächste Evangelium nach Lukas. Doch dessen schon
im jugendlichen Alter erworbener Horizont reicht inzwischen weiter. So sagt
er im Programmheftinterview zum Privatisierungsgedanken des
Neoliberalismus: „Der hat sich so internalisiert, dass er Staatsvertrauen
auflöst.“
29 Jan 2024
## LINKS
[1] /Eine-Oper-zur-Bankenkrise/!5069764
[2] /Tellkamp-Roman-Der-Turm/!5173660
[3] /Debatte-um-DDR-Geschichte/!5935607
[4] /Schriftsteller-Lukas-Rietzschel-ueber-SPD/!5800601
[5] /Neuer-Roman-von-Uwe-Tellkamp/!5851931
[6] /Georg-Baselitz-wird-80/!5475882
## AUTOREN
Michael Bartsch
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