# taz.de -- Tellkamp-Roman "Der Turm": Fremd war selbst die DDR sich selber | |
> "Der Turm" von Uwe Tellkamp ist mehr als der lange erwartete große | |
> Wenderoman. Es geht um die Neuerfindung von gründlichem und dafür ruhig | |
> gelegentlich etwas umständlichen Erzählen. | |
Großes Thema. Tausend Seiten. Und woran erinnert man sich nach dem Lesen | |
als Erstes? | |
An Namen. Pastor Magenstock - der Name ist schon toll für einen | |
Geistlichen, der mitten im Kommunismus unbeirrt und ein bisschen lächerlich | |
das Christentum verkündet. Judith Schevola - schön für eine | |
Schriftstellerin, die beim Regime aneckt. Außerdem gibt es Soldaten, die | |
Irrgang heißen, und einen Kampfgruppenkommandeur Pedro Honich. Die | |
Hauptfiguren aber tragen schlichte Namen: Richard Hoffmann, sein Sohn | |
Christian, sein Schwager Meno Rohde. | |
Man erinnert sich an kleine Dinge wie die | |
"Weihnachtsbaumabnahmekommission", die in einer Szene eine Rolle spielt, an | |
den oft wiederholten Vers "Dresden OE in den Musennestern / wohnt die süße | |
Krankheit gestern" oder an das "Enöff", mit der eine Tante leitmotivartig | |
ihre Redebeiträge beendet - eine sächsische Version das englischen Wortes | |
enough. | |
Und man erinnert sich zum Beispiel an die beseelte Art, wie Wanderungen bei | |
Bad Schandau beschrieben werden ("Sonne rädelte über den Bergen hoch. Farn | |
bekam rote Spitzen"); an die lakonisch erzählte Schülergrausamkeit, einem | |
Frosch die Beine abzuschneiden; oder wie unsentimental die schweren | |
Verwicklungen des Jugendlichen Christian Hoffmann mit den Behörden erzählt | |
werden. Er hatte heimlich das Buch "Mein Weg nach Scapa Flow" des | |
Nazi-U-Boot-Kommandanten Günther Prien gelesen, aus Tarnungsgründen | |
eingeschlagen in die Junge Welt, und war dabei erwischt worden. | |
Es sind die Details also, an die man sich zuerst erinnert. Das ist gut so. | |
Denn das ist ein Zeichen dafür, dass es geglückt ist, beim Lesen jene | |
willling suspension of disbelief herzustellen, jene gewollte Hintanstellung | |
des Nichtglaubens, die laut einer angelsächsischen Romantheorie nötig ist, | |
um die Eigenrealität eines Romans zu akzeptieren. Es sind ja in Wahrheit | |
nicht viele Romane, die ein Autor schreiben kann (ist es nicht längst immer | |
der gleiche Roman, den etwa Peter Handke schreibt?). Und an den Details | |
erkennt man ganz gut, ob man es als Leser hier mit etwas Ausgedachtem zu | |
tun hat oder mit etwas, was tiefe Wurzeln im Erleben besitzt und einem | |
deshalb beim Lesen das Gefühl vermitteln kann, einen zutiefst satt zu | |
machen. Die Details in Uwe Tellkamps Roman "Der Turm" erzeugen dabei sehr | |
schnell den Eindruck, dass dies ein Buch ist, das geschrieben werden | |
musste. | |
Alle einschneidenden Leseerlebnisse haben ihre eigene Geschichte. Bei | |
diesem war zunächst von Widerständen zu berichten. Sie lagen an dem | |
vorangegangenen Roman dieses 1968 in Dresden geborenen Autors. "Der | |
Eisvogel", vor drei Jahren erschienen, kam total gestelzt daher - | |
Möchtegernprosa, dann auch noch gewollt kulturkritisch. Auch wenn es | |
eigentlich keine Rolle spielen soll: Das Auftreten dieses Autors ist auch | |
nicht unbedingt vertrauenserweckend. Als er im vergangenen Sommer in | |
Hildesheim zum ersten Mal aus dem neuen Roman las, trat er in einer Art | |
Wandervogel-Outfit auf, wie aus der Zeit gefallen. Auch bei der Lesung im | |
Literarischen Colloquium in Berlin wirkte er irgendwie linkisch. Und dann | |
fängt "Der Turm" auch noch so getragen an. Mit einem kunstfertig | |
hingewerkelten Prolog und dann einer ellenlangen Beschreibung der Ankunft | |
in dem Dresdner Turm-Viertel, dem zentralen Handlungsort des Buches. Es | |
brauchte drei Leseanläufe, um in den Roman hineinzukommen. | |
Aber dann hat mich das Buch gekriegt, und zwar auf Seite 54. Da geht es um | |
Kammermusik. Richard Hoffmann, der Chirug, feiert groß seinen 50. | |
Geburtstag, und sein Sohn Christian spielt ihm zu Ehren mit Freunden "das | |
italienische Stück, eine Suite aus der Barockzeit, ursprünglich für Flöte | |
vorgesehen, aber Niklas hatte die Flötenstimme für Klarinette | |
eingerichtet". Es ist keineswegs der bildungsbürgerliche Habitus, der einen | |
hier fesselt. Vielmehr versieht Uwe Tellkamp diese Stelle mit einem | |
dramatischen Effekt. Christian reißt die a-Saite seines Cellos. Er muss das | |
Stück also auf den verbliebenen drei Saiten spielen. "Alle Passagen, die er | |
vor dem Malheur bequem und ziemlich entspannt hätte spielen können, waren | |
urplötzlich zu technischen Husarenstücken geworden." Gerade einmal | |
zweieinhalb Seiten lang ist diese Stelle. Aber ihre innere Spannung trägt | |
einen als Leser noch lange Zeit. | |
Es gibt viele solcher Stellen in diesem Roman. In sich sind sie oft ganz | |
ökonomisch gebaut, weshalb man es nur selten mit dem Gefühl zu tun bekommt, | |
der Roman sei zu lang. Ein Ort wird beschrieben und dann eine Figur mit ihm | |
in Beziehung gesetzt. Oder zwei Figuren gehen spazieren in diesem | |
Alltagssetting aus den späten Jahren der DDR und reden miteinander. Dann | |
gibt es auch innere Monologe, Naturschilderungen, satirische und groteske | |
Szenen (unvergessbar: welche Talente zum Organisieren es brauchte, um über | |
die Runden zu kommen). | |
Einmal, im Kapitel "Die Papierrepublik", wird auch eine Tagung des | |
Schriftstellerverbands der DDR nur durch die Wortmeldungen ihrer Mitglieder | |
beschrieben - inklusive vieler lustiger Insideranspielungen an reale | |
DDR-Autoren (Peter Hacks!). Was die Gestaltungsvielfalt und Lust an den | |
eingesetzten erzählerischen Mitteln betrifft, ist es gar nicht so falsch, | |
als Referenzpunkt etwa an Herman Melvilles multiperspektivisches | |
Meisterwerk "Moby Dick" zu denken. Nur zum Ende hin, wenn es die | |
Schilderung der Vorgeschichte vom Mauerfall und damit Untergang der DDR | |
geht, übertreibt Uwe Tellkamp ein wenig. | |
Irgendwann weiß man beim Lesen jedenfalls nicht mehr, was man erstaunlicher | |
finden soll: das breite Spektrum an Szenen und Figuren, das Uwe Tellkamp | |
hier ausbreitet, oder die erzählerische Fähigkeit, dieses Panorama | |
tatsächlich zusammenzuhalten. Was dieser Roman unbedingt kann, ist, trotz | |
seiner vielfältigen Elemente, eine innere Geschlossenheit zu bewahren. | |
Familienszenen, Schulszenen, Krankenhausszenen, dann Stadtbeschreibungen, | |
Porträts von Mitgliedern der Nomenklatura, dann auch noch Episoden aus dem | |
Alltag bei der Nationalen Volksarmee und Elemente der Realgeschichte wie | |
die Eröffnung der Semperoper - das alles bildet ein Mosaik, keinen | |
Steinbruch. Und es ist interessant, dem nachzugehen, was diesen Roman | |
zusammenhält. | |
Zum einen ist es das Milieu der "Türmer", jener Bewohner des Turm-Viertel | |
also, das es in Dresden tatsächlich gibt. Man darf sich dieses Milieu bloß | |
nicht als bewusst dissidentisch vorstellen. Eher geht es in ihm darum, eine | |
gewisse Distanz zur Gegenwart zu pflegen, ein kleines Refugium des | |
Privatlebens in einem Land, in dem alles politisch aufgefasst wurde. Das | |
ist für einen Roman von großem Vorteil, so können die verschiedenen Grade | |
der Einbindungen ins Regime, der Versuchungen, auch der inneren | |
oppositionellen Haltung bei äußerer Beteiligung dargestellt werden. Zudem | |
ist dieses Milieu auch für sich interessant. Eine privilegierte | |
Nischengesellschaft in alten Villen, die auch unter erschwerten Bedingungen | |
die Traditionen des deutschen Bildungsbürgertums pflegt. "Wissen war, was | |
zählte; Wissen hieß der gehütete Schatz derer hier oben." Das ergibt viel | |
Material für differenzierte Figurenzeichnungen. | |
Zum Zweiten trägt das Interesse dieses Autors an der Schilderung von | |
Lebensläufen. Sein Richard Hoffmann etwa hat das Zeug, zu einer bedeutenden | |
Figur in der deutschen Gegenwartsliteratur zu werden (anders etwa als | |
Enrico Türmer aus Ingo Schulzes Roman "Neue Leben"; der ist zu | |
verquatscht). Dieser Richard Hoffmann ist Chirurg, guckt aber - ganz große | |
Szene! - einmal über fünf Seiten fremd auf seine Hände; er ist | |
wahrheitsliebend, betrügt aber seine Frau; er ist gefühlsgehemmt, muss aber | |
an einer Stelle den jugendlichen Sohn seiner Geliebten ausgerechnet dann | |
umarmen, als der ihn erpressen will (lakonischer Kommentar des Erzählers: | |
"Erpressung im Stimmbruch hatte etwas Komisches"). Unendlich differenziert | |
zusammengesetzt ist auch sein Sohn Christian Hoffmann, der sich am Anfang | |
in die Außenseiterposition eines Tonio Kröger hineinträumt und dann mit der | |
harten Realität in der NVA konfrontiert wird. Diese Figuren sind | |
glaubwürdige Reflexions- und Spiegelfiguren für den Leser. | |
Das Dritte, was durch den Roman trägt, sind die durchgehenden Motive. Es | |
wird viel Musik gehört, Romantik, Wagner, was einem bei aller | |
erzählerischen Modernität dann und wann auch den Eindruck vermittelt, im | |
Umfeld Thomas Manns gelandet zu sein. Noch viel eindrucksvoller | |
durchgeführt aber ist das Motiv des Sehens. Ein Kapitel, in dem | |
Schmetterlinge beschrieben werden, gerät ganz zu einer Schule des Sehens. | |
Immer wieder werden passende Adjektive gesucht, um Farbnuancen ganz genau | |
zu beschreiben. Das auch durchgehende Motiv der ablaufenden Zeit, mit dem | |
erzählerisch auf den 9. November 1989 zugearbeitet wird, gerät dagegen ein | |
wenig zu aufdringlich. | |
Es ist überhaupt selbstverständlich ganz richtig, dieses Buch als einen | |
Roman über die untergehende DDR zu bezeichnen. Auf jeden Fall wäre es | |
falsch, das gar nicht zu tun. Aber noch falscher wäre es, ihn nur als | |
Wenderoman zu begreifen. Es gibt hier einen unbedingten Willen zum Roman | |
und eine große Lust am ästhetischen Spiel immer neuer Erzählperspektiven, | |
die weit über das Thematische hinausreichen. Uwe Tellkamps Literaturentwurf | |
ist am Projekt einer Rückgewinnung des Epischen ausgerichtet, an der | |
Neuerfindung eines gründlichen, genauen, sozusagen nachhaltigen und dafür | |
ruhig gelegentlich auch etwas umständlichen Erzählens. Uwe Tellkamp will in | |
einem emphatischen Sinn Erzähler sein. | |
Dieses Projekt gibt es derzeit in der Generation der 40- bis 50-Jährigen | |
auch unter westdeutschen Autoren. Bei allen Verschiedenheiten kann man von | |
"Der Turm" aus durchaus Linien ziehen zu Michael Kleebergs Roman | |
"Karlmann", Ulf Erdmann Zieglers Buch "Hamburger Hochbahn" und in gewisser | |
Weise auch zu Sven Regeners "Neue Vahr Süd" oder Gerhard Henschels | |
"Kindheitsroman". Auch bei ihnen werden die Prozesse von Sozialisation und | |
Individuation als unendlich komplexes und deshalb hoch spannendes | |
Erzählmaterial aufgefasst. Was dann literarische Entdeckungsreisen ins | |
angeblich Vertraute der näheren Umgebung ermöglicht. Während man | |
Literaturnobelpreise offenbar nur noch kriegt, wenn man angeblich zwischen | |
den Kulturen steht, versuchen diese Autoren, erst einmal das Terrain des | |
Eigenen abzuschreiten - eine konsequente literarische Reaktion darauf, dass | |
fremd wir uns selber sind. | |
Das kann der Roman: einen Rahmen geben für das Projekt, sich erzählerisch | |
selbst auf die Spur zu kommen. Wie viel dieses Projekt immer noch hergibt, | |
kann man bei Uwe Tellkamp nachlesen. | |
Uwe Tellkamp: "Der Turm". Suhrkamp, Frankfurt am Main 2008, 976 Seiten, | |
24,90 Euro | |
15 Oct 2008 | |
## AUTOREN | |
Dirk Knipphals | |
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