# taz.de -- Schriftsteller Lukas Rietzschel über SPD: „Es geht um Identität… | |
> Bestsellerautor Lukas Rietzschel ist jung, Sachse und in der SPD. Im | |
> Gespräch erklärt er, wieso das ungewöhnlich ist und was die DDR damit zu | |
> tun hat. | |
Bild: „Ich bin ein einfaches SPD-Mitglied“: Lukas Rietzschel in Görlitz | |
Menschen wie Lukas Rietzschel und ich bezeichnen sich als Ostdeutsche, | |
obwohl sie nichts anderes als die Einheit kennengelernt haben. Wir sind in | |
seiner Heimat Görlitz in Sachsen verabredet. Ich bin im Harz aufgewachsen | |
und kenne namentlich so gut wie jede Straße, die mir das Navigationssystem | |
auf dem Weg dorthin vorliest. In fast allen noch so kleinen ostdeutschen | |
Dörfern werden nämlich der 8. Mai und die Opfer des Faschismus geehrt, der | |
Friede sowieso. Es sind dieselben Straßen, die in der tiefsten sächsischen | |
Provinz nun fast ausschließlich von AfD und NPD, hin und wieder von einem | |
schlichtenden CDU-Plakat behangen sind. Es liegt eine entlarvende | |
Entschuldigung in meinem „Eigentlich voll schön hier“, als ich mit Lukas | |
Rietzschel über den barocken Marktplatz von Görlitz spaziere und er mir | |
erklärt, wieso er genau so einen Satz von mir erwartet hat, warum ich auf | |
meinem Weg hierhin fast kein einziges Plakat „seiner“ Partei gesehen habe, | |
der SPD, und warum es für ihn unabdinglich war, dieser trotzdem | |
beizutreten. | |
taz: Lukas Rietzschel, du läufst in Zeitungen immer als „junger | |
ostdeutscher Literat UND Sozialdemokrat“ – nervt es dich, dass Medien aus | |
deiner SPD-Mitgliedschaft in Sachsen immer wieder eine exotische Geschichte | |
machen wollen? | |
Lukas Rietzschel: Ja, das nervt schon. Ich habe dann immer das Gefühl, die | |
hiesige SPD würde als gallisches Dorf gesehen werden, das von Feinden | |
umzingelt wird. Es liest sich ja auch total toll, wenn man annimmt, dass | |
alle um einen herum rechts wählen. Was natürlich nicht stimmt. So entsteht | |
dann eine dramatische Story und manche Journalisten dichten mir dafür sogar | |
einen städtischen Parteivorsitz an. Dabei bin ich einfach nur ein Mitglied | |
im Ortsverein der SPD Görlitz. | |
Das klingt etwas weniger cool, um ehrlich zu sein. | |
Ja, aber so ist es nun einmal. | |
Junge Menschen haben sich vor der Wahl, angesichts der Klimakrise zunehmend | |
bei den Grünen engagiert. Was führte dich dazu, die SPD nicht nur zu | |
wählen, sondern ihr sogar beizutreten? | |
Als die AfD 2017 bei der Bundestagswahl in Sachsen so viele Direktmandate | |
geholt hat, wurde mir einfach bewusst, dass ich politisch irgendwie aktiv | |
werden und mich engagieren musste. Das ist für mich ganz eng mit einer | |
Parteimitgliedschaft verbunden und da kam wirklich nur die SPD infrage, | |
auch weil mein Bauchgefühl stimmte. | |
Weil die SPD momentan wie ein Bauchgefühl daherkommt? Könnte von allem ein | |
bisschen sein – grün, links, konservativ? | |
Nein – es geht dabei um Identität. Meine Eltern kommen aus dem | |
Arbeitermilieu und meine Großeltern haben handwerkliche Berufe gelernt. Du | |
und ich sind mit einem sehr offenen Zugang zu Bildung und Universitäten | |
aufgewachsen, was bei unseren Eltern in der DDR ja noch ganz anders war, | |
wenn sie aus dem Osten kamen. Ich konnte mich bilden und aufsteigen. Diese | |
Möglichkeit verkörpert die SPD für mich wie keine andere Partei. Daher kam | |
dieses Bauchgefühl. Ehrlich gesagt wundert es mich, dass das offenbar nicht | |
viele Menschen haben. | |
In deinem neuen Buch „Raumfahrer“ sagt ein Vater aus Sachsen zu seinem | |
Sohn: „Du fällst mir nicht in den Rücken. Du wirst kein Roter“, als wäre | |
sein Sohn bei einem maoistischen Studententreff gewesen, dabei war er | |
lediglich bei einer SPD-Kundgebung … | |
Ich glaube, auch das hat mit der DDR zu tun. Wenn die SPD heute davon | |
spricht, Politik für „die Arbeiter“ zu betreiben, dann klingt das für | |
einige immer noch nach dem Propagandavokabular, mit dem die SED in der DDR | |
agierte und ja auch offensichtlich nachhaltig Stereotype geschaffen hat. | |
Immer mehr junge Schriftstellerinnen mit ostdeutscher Herkunft beschäftigen | |
sich mit diesen Stereotypen … | |
Ja, das ist ganz zwangsläufig so. Seltsam wird es, wenn man in Debatten, in | |
denen gerade westdeutsche Intellektuelle, Publizisten und Autoren von | |
„ostdeutschen Schicksalen“ sprechen, in so eine eigenartige | |
Verteidigungsposition gerät. Ich habe mich einmal bei einem Vortrag eines | |
westdeutschen Professors tierisch aufgeregt und ihm irgendein historisches | |
Urteil abgesprochen, als ich dabei an die Vergangenheit meiner Eltern | |
dachte. Mir ist dann später erst aufgefallen, dass die mir wiederum gar | |
nicht explizit von irgendwelchen Schwierigkeiten erzählt hatten, sondern | |
lediglich über das Leben in der DDR gesprochen haben. Trotzdem: Ein Vortrag | |
eines anderen Außenstehenden, darüber wie „ES“ in „DER“ DDR gewesen i… | |
hat mich provoziert. | |
Hält vielleicht gerade das Schweigen der Älteren die immer noch | |
existierenden Konflikte zwischen Ost und West aufrecht? | |
Das kann sein, aber oftmals liegt in diesem Schweigen nicht das | |
Klischee-DDR-Trauma, von dem viele ausgehen, wenn sie von „Ost-Identitäten“ | |
hören. Jedoch glauben einige junge Menschen aus dem Osten, die scheinbaren | |
Konflikte ihrer Eltern lösen zu müssen, selbst wenn sie diese nur erahnen. | |
Und genau dann wird es absurd. Aber auch ich war dieser Überzeugung, habe | |
mich aber inzwischen dagegen entschieden, etwaige Ost-Konflikte meiner | |
Familie in der Gegenwart zu klären. | |
Trotzdem schreibst du darüber. Deine beiden Romane kreisen um die Themen | |
DDR, Familie und die Fragen einer Generation ostdeutscher Menschen, die die | |
Teilung nicht miterlebt hatten. | |
Ich glaube, dass das hilft, zu verstehen. Literatur kann im Vergleich zu | |
Filmen, Bildern oder Musikstücken zu einem andren psychologischen | |
Perspektivwechsel verhelfen. Das funktioniert über Wahrnehmung. Denn wenn | |
du etwas liest, dann sprichst du den Text, vielleicht auch nur unbewusst | |
und stumm, mit deiner ganz eigenen Stimme und malst dir aus, wie das | |
Setting aussehen könnte. Und wenn du dann als Schriftsteller von einem Ort | |
und einer Zeit erzählst – zum Beispiel Sachsen in der DDR oder Sachsen | |
heute – dann macht sich ein Leser, der noch nie an diesem Ort war, ein ganz | |
eigenes Bild davon. | |
Du erwähntest bereits, dass viele Menschen in den neuen Bundesländern | |
möglicherweise ein verzerrtes Bild von der SPD haben. Wieso? Was kann | |
deiner Meinung nach gerade Menschen im Osten an der SPD stören? | |
Ich glaube, dass dabei auch ein gewisser Symbol-Überdruss eine Rolle | |
spielt, das fängt schon mit dem Rot der Partei an. Und wie vorhin schon | |
gesagt: Ganz bedrohlich wirkt für einige der Gedanke an eine | |
Arbeiterpartei. Überhaupt dieser Begriff: Arbeit. Der ist so | |
ideologiebelastet, dass es den Menschen unangenehm ist, damit in | |
Verbindung gebracht zu werden, weil eben „der Arbeiter“ hier immer auch zur | |
DDR gehört. Einer mit Hammer, Sichel und stets erhobener Faust. | |
Das mag mit Scholz’ Wahlerfolg gerade etwas vergessen sein: In der ganzen | |
Republik haftet der SPD dieses aus der Zeit gefallene und alteingesessene | |
Partei-Image an. Vielen scheinen die wirklich konkreten eigenen Themen, | |
außer Arbeit, Löhne und Renten, zu fehlen. | |
Ich verstehe, dass die SPD auf andere Menschen zunächst etwas veraltet | |
wirkt. Es gibt ja auch längst keine Klassen mehr in unserer Gesellschaft | |
und die vielen sozialen Milieus ändern sich ständig. Auch ist der | |
anzusprechende „Mittelstand“ inzwischen so groß, dass die meisten Menschen | |
darin verortet sind. Nicht wenige mussten dafür aber aus tatsächlichen | |
Arbeitermilieus aufsteigen, oder haben zumindest ihre Eltern dabei erlebt. | |
Und ich frage mich: Wieso kommt die SPD an diese Menschen nicht heran? Es | |
scheint nämlich so, als spreche sie nur eine ausgewählte Klientel an. Dabei | |
will sie ja das Gegenteil! Und um das zu zeigen, muss sie auch den Menschen | |
in der IT-Branche oder in der Wissenschaft verdeutlichen, dass sie zwar | |
nicht den klassischen „Arbeitern“ entsprechen, aber auch gemeint sind, wenn | |
es darum geht, für mehr Gerechtigkeit innerhalb der Gesellschaft zu sorgen. | |
Hat Olaf Scholz es geschafft, dass die SPD jetzt auch im Osten attraktiver | |
werden kann? | |
Der … nun ja … Erfolg der SPD im Osten muss auch mit Olaf Scholz | |
zusammenhängen. Denn was sich ja gezeigt hat, ist, dass den Wählern gerade | |
sozialpolitische Themen wichtig waren. Und viele Menschen haben selbst hier | |
im Osten die Verantwortung dafür nicht bei der Linkspartei, sondern bei der | |
SPD gesehen. Dass die Wahl aber gerade hier in Sachsen anders ausgefallen | |
ist, ist bemerkenswert. Unterm Strich kann man sagen, dass fast alle | |
Wahlkreise, in denen die CDU einmal stark gewesen ist, nun an die AfD | |
gegangen sind. Die Stärke der AfD hängt mit der Schwäche der CDU zusammen. | |
30 Sep 2021 | |
## AUTOREN | |
Aron Boks | |
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