| # taz.de -- Kultur in Ostdeutschland: Wir haben ein gemeinsames Problem | |
| > Ein Aufschrei aus der sächsischen Provinz: eine Theatermacherin schreibt | |
| > über ihre kulturellen Erfahrungen und das Erstarken der Rechten. | |
| Bild: Schwierigkeiten mit Nazis gab es im Osten schon früher wie etwa 1991 in … | |
| Die Europa- und Kommunalwahlergebnisse im Osten waren keine Überraschung. | |
| Trotzdem Shocking. Sie warfen mich zurück in alte Gefühlswelten, die ich | |
| längst überstanden glaubte. Am Montag nach den Wahlen fand ich mich rasend | |
| auf der Autobahn gen Bautzen wieder bei 140 Stundenkilometern. Aus dem | |
| Radio schallten die Wahlergebnisse. Mein Kopf sollte kühl bleiben, dampfte | |
| aber gewaltig. | |
| Da war dieser alte Stress, dieses Flimmern: Angst. Vorbei an blühenden | |
| Landschaften und alten Kohlebaggern. In diesem Moment bin ich wütend auf | |
| das Interesse aus Westdeutschland, das viel zu spät kommt. Ich bin wütend | |
| auf die Prekarität unserer Arbeit, die Zustände, in denen sich alle | |
| abrackern, die versuchen, die guten Herzen im Osten beständig zu stärken | |
| und zu verbinden. | |
| Gleichzeitig ist da wieder diese alte Feindseligkeit allen Ostler*innen | |
| gegenüber, die mir in die Nasennebenhöhlen kriecht. Kenn ich aus meiner | |
| Jugend: alles Nazipack!? Ich bin verzweifelt, dass für so viele Kids | |
| Rechtssein jetzt wieder cool ist. Wer ist schuld an der ganzen Scheiße? Ach | |
| ja: der brutale Kapitalismus. Diese glamouröse Scheiße, die seit über 30 | |
| Jahren beständig einen Investor in mich hineinpflanzte. | |
| In Bautzen sollen wir mit meinem Aktionsduo „Zurück in die Zukunft“ an | |
| jenem Montag nach den Wahlen bei der [1][„Happy Monday Initiative“] vor dem | |
| Rathaus auftreten. Wir raufen uns die Haare über die Frage: Wie lange | |
| spielen wir in einer Stadt, in der über ein Drittel eine Nazipartei wählt? | |
| Denn eins ist klar: Protest ist das nicht, das ist zu billig. Diese | |
| Menschen wollen eine Nazipartei wählen! | |
| ## Stabile Leute | |
| Aber da sind auch noch immer jene, die nicht bei Blau oder Schwarz ihr | |
| Kreuz machen, und da sind all jene, die gar nicht wählen gehen. Und da sind | |
| diese stabilen Leute, die für ein paar Stunden jeden Montag der Stadt | |
| Lebendigkeit einhauchen. Ziemlich coole Kids stehen auf der Bühne, besingen | |
| den CSD und ihre Leben in Bautzen. Migrant*innen berichten, dass sie | |
| sich Montag endlich wieder in die Stadt wagen. | |
| Am anderen Ende der Straße die AfD-Kundgebung mit Deutschlandfahne, | |
| Reichskriegsflagge, Friedenstauben. Auf der Bühne wettert ein Redner und | |
| macht sich über die Proteste am anderen Ende der Straße lustig: „die ja | |
| offensichtlich eh nichts bringen: Wir haben gewonnen!“ | |
| Dazwischen bauen wir unsere mobile Erinnerungswerkstatt in der Innenstadt | |
| Bautzens auf. Wir werden die kommenden Tage die Frage stellen: „Ist die | |
| Wende zu Ende?“, und Anlaufpunkt für sehr viel Unmut und Unverständnis | |
| sein, was die Wahlergebnisse angeht. Wir erfahren, dass gleich am Morgen | |
| die AfD im lokalen alternativen Kulturhaus Steinhaus und dem Theater eine | |
| Anfrage nach deren Finanzierung und Unterstützung der „Happy Monday | |
| Inititative“ stellte. | |
| Es wird uns allen an den Kragen gehen. Viele von uns Kultur- und | |
| Bildungsarbeiter*innen kommen aus der Subkultur, wir gestalten mit | |
| wenigen Mitteln, immer prekär. Immer auch DIY. Wir sind Kinder der | |
| Maschinenrepublik und kennen es nicht anders. Wir haben kein großes Erbe, | |
| das auf uns wartet und uns erlaubt, uns mal auszuruhen oder große | |
| Investitionen zu machen. | |
| ## Was passiert, wenn die Finanzierung weg bleibt? | |
| [2][Was passiert, wenn nun die AfD die finanziellen Mittel für die letzten | |
| lebens- und weltbejahenden Inseln schließen wird?] Dann bleibt den coolen | |
| Kids nichts weiter als die Bushaltestelle, die unsicheren öffentlichen | |
| Räume. Zum Glück traf ich stabile Kids in diesen Tagen: Da sind Mädchen, | |
| die durch den Verein Bautzen rollt e. V. ermutigt wurden zu skaten. | |
| Da sind Jugendliche, die zusammen Musik machen, weil ihnen das | |
| soziokulturelle Zentrum Steinhaus Freizeitprogramm und Bühne bietet. Sie | |
| erzählen mir von den vielen Mitschüler*innen, die Nazis und die AfD cool | |
| finden. Sie berichten, dass sie seit einem halben Jahr keinen | |
| Geschichtsunterricht haben. Der Lehrer sei krank und es gibt keine | |
| Vertretung, dabei wäre in diesem Schuljahr der Nationalsozialismus auf dem | |
| Plan gewesen. | |
| Was ich immer wieder auf meiner diesjährigen Tour durch Ostdeutschland | |
| höre, ist der Unmut über den Krieg in der Ukraine und die anhaltend | |
| ungleichen Löhne. „Solange das nicht gleich ist, ist die Wende nicht zu | |
| Ende“, berichten Passant*innen meist wenig verärgert, eher abgeklärt. | |
| ## Die Grenzen des Kapitalismus | |
| In Bautzen höre ich für mich völlig neue Töne von Menschen, die zu | |
| DDR-Zeiten die Möglichkeit hatten, in den Westen zu reisen: „Hätten die | |
| DDR-Eliten die Bevölkerung in den Westen gelassen, dann hätten diese sich | |
| selbst ein Bild machen können von den Grenzen des Kapitalismus, dem | |
| Überangebot, hätten einen Blick hinter die Fassade bekommen, dass dort | |
| wirklich nicht das Paradies auf Erden auf sie wartete.“ Ein anderer kommt | |
| auf uns zu und fragt nach Alkohol, um sich seinen Wahlfrust wegzusaufen. | |
| „Ob das hilft?“, frag ich. „Kurzfristig schon“, sagt er. „Der Osten i… | |
| durch, is’ vorbei“, schiebt er hinterher. | |
| Im Gespräch mit einer alteingesessenen Theatermacherin erfahre ich, dass | |
| das Problem jedoch nicht erst einsetzen wird, sondern schon längst da ist. | |
| Theaterschaffende werden für politische Inhalte kritisiert, sind | |
| vorsichtig, was ihre Stückauswahl angeht, werden ermahnt. Für Beschwerden | |
| muss man gar nicht mehr auf die AfD warten. Mitte Juni wurde bekannt, dass | |
| rechte Gymnasiast:Innen eine Inszenierung am Stollberger Theater als | |
| „linksradikale Indoktrination“ kritisierten, in der Fotografien von Putin, | |
| Trump und Weidel eine Hitlerabbildung ersetzen sollten. Das Stück befasste | |
| sich mit der Münchner Widerstandsgruppe „Weiße Rose“. | |
| An vielen Stellen erlebe ich in diesem Jahr großen Mut, aber auch eine | |
| Kultur des Wegduckens, die mich an meine Jugendjahre im ostdeutschen | |
| Hinterland erinnert. Die von Künstler*innen und Jugendlichen aus Sachsen | |
| gestalteten Wahlplakate mit dem Hashtag #machdeinkreuz appellierten dazu, | |
| zur Wahl zu gehen. Nicht mehr und nicht weniger. Kein Parteilogo, keine | |
| Förderer, völlig neutral. Doch selbst das aufzuhängen ist im Osten so | |
| mancher Institution bereits zu politisch. Ich versuche das zu verstehen. | |
| ## Symptom ostdeutscher Verbitterungsstörung? | |
| Handelt es sich um ein Symptom ostdeutscher Verbitterungsstörung, wie es | |
| die Psychoanalytikerin Annette Simon nennt? Oder ist es ein Symptom des | |
| schnellen Anpassungsdrucks und der Unsicherheit bezüglich | |
| zivilgesellschaftlicher Kräfte? Darf jemand jenseits staatlicher | |
| Institutionen oder Parteien überhaupt zu den Wahlen aufrufen? Wann hat | |
| diese Unsicherheit, wann werden diese Zweifel endlich ein Ende haben? | |
| Nun landete diese Artikelanfrage in meinem Postfach. Für die taz schreiben, | |
| die 2013 noch Werbung für die AfD druckte? Ich war unsicher, möchte aber | |
| die Chance nicht verpassen, Leser*innen mit offenem Herzen zu erreichen. | |
| Schlicht und ergreifend, weil wir uns in Anbetracht der faschistischen | |
| Gefahr nicht leisten können, leise zu sein. Kurz bevor ich den Artikel | |
| abschließe, mitten in den Sommerferien, erfahre ich, dass eine vermummte | |
| Gruppe das alternative Jugendzentrum Kurti überfallen und zwei Menschen | |
| verletzt hat. Laut Polizeiangaben ist noch unklar, ob die Tat politisch | |
| motiviert war. | |
| Ich will „den Westen“ nicht mehr aufklären. Das können andere viel besser | |
| als ich. Ich wünsche mir ehrliche Solidarität. Ein ehrliches Infragestellen | |
| eigener westdeutscher Gewissheiten und Selbstverständlichkeiten, eine | |
| Aufarbeitung von Wende und vielleicht sogar Verlusterfahrungen mit 1989/90 | |
| aus westdeutscher Perspektive, eine Umverteilung von westdeutschem Kapital | |
| aus Erbschaften, um für Zukünfte einzustehen und progressive Kräfte im | |
| Osten zu unterstützen (Spendet an das Netzwerk [3][Polylux]!). | |
| Ich wünsche mir, dass namhafte Institutionen im Westen Patenschaften für | |
| Theater, Kultureinrichtungen, Bildungsträger, freie Spielstätten im Osten | |
| übernehmen. [4][Vielen wird künftig der Hahn zugedreht werden.] | |
| ## Rechte TikTok-Power | |
| Mit der Abwicklung von DDR-Betrieben durch die Treuhand wurde ebenfalls ein | |
| umfangreiches kostenfreies kulturelles Weiterbildungsangebot in | |
| Ostdeutschland eingestampft. Wenn wir das Sporttreiben, Theaterspielen, | |
| Tanzkurse-Besuchen nicht den AfD- oder Dritte-Weg-Trainer*innen | |
| überlassen wollen, braucht es Ressourcen, um für Kinder und Jugendliche | |
| analoge Gegenprogramme anbieten zu können. Wir überlassen sie sonst der | |
| rechten Tiktok-Power. | |
| Hört diese Mahnung: Trotzen wir nicht gemeinsam mit Lebenslust und | |
| Politiken der sozial-ökologischen Gerechtigkeit den kapitalistischen | |
| Zerstörungen, die Menschen und Natur erschöpfen, werden wir in fünf bis | |
| zehn Jahren ähnliche Wahlerfolge der AfD in den alten Bundesländern zu | |
| verzeichnen haben. Wir haben ein gemeinsames Problem und das heißt | |
| Faschismus. | |
| In meiner Verzweiflung hab ich begonnen, Adorno zu lesen. „Der | |
| Nationalsozialismus lebt nach, und bis heute wissen wir nicht, ob bloß als | |
| Gespenst dessen, was so monströs war, dass es am eigenen Tode noch nicht | |
| starb, oder ob es gar nicht erst zum Tode kam; ob die Bereitschaft zum | |
| Unsäglichen fortwest in den Menschen wie in den Verhältnissen, die sie | |
| umklammern.“ | |
| ## Es braucht Räume | |
| Es braucht in Ost- wie Westdeutschland Räume, um die Gefühlserbschaften des | |
| letzten Jahrhunderts zu verdauen. Das ist Drecksarbeit und es wird nicht | |
| besser, wenn die eine Seite den Dreck nur auf die andere Seite kehrt. | |
| Solange die Geschichte des Nationalsozialismus nicht gemeinsam | |
| durchgearbeitet wird, werden die Unterschiede zwischen Ost und West | |
| bestehen bleiben. | |
| Solange dabei nicht die Rolle des auf Ungleichheit basierenden | |
| Gesellschaftssystem reflektiert wird und die sogenannte Wiedervereinigung | |
| nicht als nationale Restauration des Kapitalismus verstanden wird, kann auf | |
| lange Sicht keine wirklich solidarische Gesellschaft entstehen. Letztere | |
| ist wohl die einzige Rettung aus der Barbarei! | |
| 12 Aug 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Anna Stiede | |
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