| # taz.de -- Roman von Maylis de Kerangal: Ganz nah an der Realität | |
| > In „Weiter nach Osten“ versucht ein russischer Rekrut dem Militärdienst | |
| > zu entgehen. Eine Erzählung aus der Transsibirischen Eisenbahn. | |
| Bild: Die transsibirische Eisenbahn durchschneidet die endlose russische Landsc… | |
| Maylis de Kerangal ist in Toulon geboren und in Le Havre aufgewachsen, das | |
| waren bereits zwei Ansichten vom Meer. Und dass der Vater als Kapitän auf | |
| hoher See fuhr, scheint sich auch in ihren literarischen Texten | |
| niederzuschlagen. Die Sujets dieser Autorin können genauso gut in | |
| Frankreich wie in Lateinamerika oder Kanada spielen. | |
| Sie hat früh die Auswirkungen der Globalisierung thematisiert, das | |
| migrantische Leben in Frankreich, etwa an der Corniche Kennedy in | |
| Marseille, in das Zentrum von Romanen gestellt und aus der Karibik | |
| stammende Fußballer als große Chance erkannt. In ihrem Heimatland gilt sie | |
| längst [1][als eine der wichtigsten Schriftstellerinnen,] und langsam wird | |
| sie auch hierzulande entdeckt. | |
| Ihr jetzt ins Deutsche übersetzter Roman „Tangente vers l’est“ ist im | |
| Original bereits 2012 erschienen. Er mutet aber äußerst aktuell an, denn er | |
| nimmt die zeitgenössischen russischen Verhältnisse in den Blick – noch vor | |
| der russischen Besetzung der Krim [2][und dem Krieg gegen die Ukraine,] | |
| aber umso prägnanter. | |
| „Weiter nach Osten“ ist von der Form her eher eine äußerst konzentrierte, | |
| längere Erzählung. Ort und Zeit sind sehr genau umrissen, und der Text | |
| bleibt immer ganz nah an dem, was gerade passiert. Es geht um eine Reise | |
| mit der Transsibirischen Eisenbahn, aber ohne jeglichen touristischen | |
| Aspekt. Im Mittelpunkt steht der Rekrut Aljoscha aus Moskau. Er ist ein | |
| sozialer Außenseiter und hat es im Gegensatz zu besser betuchten | |
| Gleichaltrigen, deren Familien über einschlägige Beziehungen verfügen, | |
| nicht geschafft, sich der Einberufung zur russischen Armee zu entziehen. | |
| Die Atemlosigkeit des Geschehens, die bedrängende Gegenwart zeigen sich | |
| bereits am Anfang, als Aljoscha inmitten vieler blasser junger Kerle, die | |
| alle gleich aussehen, in ärmlichem Drillich in Moskau in einen Waggon der | |
| dritten Klasse des Zuges steigt. Ausgesetztsein, Aggressivität, | |
| Sinnlosigkeit, diese Gefühlsfarben durchdringen alles, und die Szenerie | |
| wird äußerst realistisch beschrieben: der Suff, die Schlägereien, die | |
| Ohnmacht der völlig austauschbar scheinenden Einzelnen, die sich | |
| gegenseitig drangsalieren, aber irgendwie auch brauchen und die Ghetto- und | |
| Lagermentalität aus der Zukunft bereits vorwegzunehmen scheinen. | |
| ## Die Poesie der Landschaft | |
| Obwohl dies alles hautnah geschildert wird, hat die Sprache der Autorin | |
| jedoch noch etwas ganz anderes im Blick als eine bloß äußerliche | |
| Darstellung der Wirklichkeit. Dabei geht es nicht in erster Linie um | |
| Psychologie oder um ein tieferes Eindringen in das Innenleben der Figuren. | |
| Was hier wie mit einer nah heranzoomenden Kamera erfasst wird, nimmt | |
| unwillkürlich etwas Mythisches an, etwas aus klassischen Epen, das eine | |
| ganz eigene Poesie hat und über den Einzelnen hinausweist: die Landschaft, | |
| die Schienen, das Schicksalhafte dieses Unterwegsseins. | |
| Wie Aljoscha eine Zeitlang ganz hinten am Zug sein Gesicht an das Glas des | |
| Fensters presst, die Gleise kurz aufblitzen und sich sofort im dunklen | |
| Unendlichen verlieren, ist ein einprägsames Bild, und dass er gleich danach | |
| von zwei betrunkenen Mitrekruten zusammengeschlagen wird, scheint sich wie | |
| folgerichtig daraus zu ergeben. | |
| Das Poetische dieser Sprache ist irritierend exakt, es bedient sich | |
| auffällig häufig aus dem Vokabular der Naturwissenschaften. Tag und Nacht | |
| wechseln sich vor der Landschaft ab, die eintönig ist und dennoch | |
| abwechslungsreich, magisch, fremd. Und wenn die Nacht plötzlich „aufreißt�… | |
| wird die Natur draußen „hart, pur, geometrisch“: | |
| „Es ist immer noch derselbe Wald, es sind noch dieselben hoch aufragenden | |
| Bäume, dieselben rötlichen Stämme, ein derart mit sich identischer Wald, es | |
| ist zum Verrücktwerden, mag man auch einen Fluss sehen, der unter dem Eis | |
| hervorquillt, Büsche mit blassen Blüten, schmutzigbraune Schneeflecken am | |
| Rand eines schlammigen Wegs, Dächer, Zäune, es ist derselbe Wald, immer und | |
| immer noch, nicht mehr der Ozean, sondern die Haut der Erde, die Epidermis | |
| Russlands, Krallen und Seide“ – doch bei alldem bewegt sich dieser Text | |
| nicht in höheren Sphären, sondern bleibt immer ganz konkret. | |
| Die gesellschaftlichen Verhältnisse, die menschenunwürdigen Zustände werden | |
| exakt erfasst, in schmerzhaft vergrößerten Einzelmomenten. | |
| ## Man sieht ihr die Französin an | |
| Zum unerwarteten Ereignis, zum Glutkern des Textes, wird die Begegnung | |
| Aljoschas mit der Französin Hélène. Sie betritt unvermutet in Krasnojarsk | |
| den Zug und fährt bis zum Endbahnhof Wladiwostok. Man sieht ihr die | |
| Französin sofort an, sie hat ein Ersteklasseabteil und es in Krasnojarsk | |
| nicht mehr ausgehalten, obwohl sie ihrem Freund in dessen herausragender | |
| Stellung sehr verbunden ist. Aljoscha begegnet Hélène an seinem exponierten | |
| Fensterplatz am Ende des Zugs. Sie spricht nur rudimentär Russisch, aber | |
| bemerkt seine Verzweiflung. | |
| Er hat bereits vergeblich versucht, bei einem Halt trotz des gut | |
| gesicherten Bahnsteigs zu fliehen und sich allein durchzuschlagen, Hélènes | |
| Erscheinung wie aus einer anderen Welt verleiht ihm einen verwegenen | |
| Hoffnungsschub. Und sie versteckt ihn tatsächlich, ohne dass sie genau weiß | |
| warum, in ihrem Abteil – er ist nicht sonderlich anziehend, aber verkörpert | |
| offensichtlich etwas, was sie auch im postsowjetisch zerrütteten | |
| Krasnojarsk gespürt hat. | |
| Es entwickelt sich eine spannende Geschichte, bei der lange offenbleibt, ob | |
| Aljoscha von den Häschern der Armee und den allgegenwärtigen Spitzeln im | |
| Zug doch noch aufgegriffen wird. Aber diese Spannung ist nur ein Teil der | |
| Handlung. | |
| Auf intensive Weise werden hier Leerstellen der Gefühle abgetastet, und es | |
| ist ästhetisch äußerst faszinierend, wie die Beziehung von Aljoscha und | |
| Hélène in all ihren Ambivalenzen dargestellt wird, wie ihre völlig | |
| entgegengesetzten Lebenswelten und Erfahrungen auf engstem Raum | |
| zusammenprallen. Das Ganze hat etwas zeitlos Allegorisches und ist dennoch | |
| nah an der unmittelbaren politischen Gegenwart – hart und pur eben. | |
| 27 Dec 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Helmut Böttiger | |
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