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# taz.de -- Roman in russischer Provinz: Trostlos komische Tristesse
> Ein Kommissar mit Liebeskummer, Jugendliche mit Selbstmordneigung – Sasha
> Filipenkos neuer Roman führt tief ins Herz der russischen Provinz.
Bild: Einsamer Baum
Dass der Ton die Musik macht, gilt im übertragenen Sinne auch für die
Literatur. Etwas überspitzt ließe sich behaupten, dass die Wirkung eines
Prosawerks weniger davon abhängt, wovon die Rede ist, als vielmehr von der
Art, wie darüber geschrieben wird.
Im Fall des russisch schreibenden, im Schweizer Exil lebenden
[1][belarussischen Autors Sasha Filipenko] bedeutet das: Der grimmige
Humor, der für seine Texte charakteristisch ist, macht es erst möglich,
auszuhalten, was er zu erzählen hat – ja, es sogar lustig zu finden. Aber
ganz nüchtern betrachtet, ist es ein durch und durch trostloses Stück
Russland, das Filipenko in seinem Roman „Der Schatten einer offenen Tür“
porträtiert.
Dem fiktiven Städtchen Ostrog kommt darin eine Stellvertreterfunktion für
die geballte Tristesse der russischen Provinz zu. In das freudlose Kaff,
mehrere tausend Kilometer vom heimatlichen Moskau entfernt, wird der
Kriminalbeamte Alexander Koslow entsandt, um eine rätselhafte
Selbstmordserie unter den jugendlichen Insassen des örtlichen Kinderheims
aufzuklären.
## Korruption und Krise
Bei seinem letzten Aufenthalt in der Stadt hatte der Moskauer Kommissar
dafür gesorgt, dass der korrupte ehemalige Bürgermeister von Ostrog ins
Gefängnis kam. Seitdem haben sich die Dinge im Ort nicht zum Besseren
gewandelt. Und diesmal wird Koslow auch noch von einer ganz privaten, sehr
existenziellen Krise geplagt, denn seine Frau hat ihn verlassen, und er
kann einfach nicht verstehen, dass es wirklich vorbei ist und warum.
Weder die sexuellen Avancen einer Journalistin noch das Karaokesingen, das
in der einzigen erträglichen Bar von Ostrog angeboten wird, können den
depressiven Ermittler nachhaltig trösten.
Auch die zweite Hauptfigur ist ein tragischer Charakter: Der hypersensible,
autistische Petja, selbst ein ehemaliges Heimkind, gilt allgemein als
Dorftrottel, hat aber in Wirklichkeit Einsichten in die wahren
Zusammenhänge der verstörenden Geschehnisse, die allen anderen verschlossen
bleiben. Als Außenseiter ist Petja ein gefundener Sündenbock für den
örtlichen Revierinspektor, der sich vor dem Kollegen aus Moskau profilieren
und den Fall auf eigene Faust lösen will. Bei der Wahl der Mittel geht er
nicht zimperlich vor…
## Überzeichnete Charaktere
Alle Charaktere sind tendenziell überzeichnet, ohne zur Karikatur zu
werden. Durch die kräftige Strichführung werden sie leicht verfremdet und
objektiviert, was es uns erspart, zu sehr mit ihnen mitzufühlen.
Die Heimkinder, deren Leiden am Leben doch der eigentliche Handlungsanlass
ist, tauchen, mit Ausnahme einer einzigen Nebenfigur, als individuelle,
handelnde Personen gar nicht auf, sondern sind nur Diskursgegenstand – in
den wenig mitfühlenden Äußerungen der erwachsenen Betreuungspersonen und in
den Dokumenten der Ermittlungsakten, die Koslow liest und die hier und da
in den Erzähltext montiert werden.
Die schrägen Dialoge und der unbeirrt lapidare Tonfall von Filipenkos
Prosa, mit dem auch die drastischsten Geschehnisse referiert werden, stehen
in maximalem Kontrast zu dem emotionalen Elend, in dem sämtliche Figuren
leben.
Das hat einen eigenartig komischen Effekt und spiegelt gleichzeitig die
empathiefreie Lebenswelt dieser traurigen und dabei radikal egozentrischen,
emotional vereinzelten Menschen, inmitten derer allein der Außenseiter
Petja – ein moderner Wiedergänger von Dostojewskijs „Idiot“ – anderen …
tut, ohne für sich selbst auf Vorteile zu hoffen. Das alles liest sich weg
wie ein flott geschriebenes Stück absurdes Theater. Aber es ist böse, weil
man sehr wohl ahnt, wie nah dahinter die Realität liegen muss.
9 Dec 2024
## LINKS
[1] /Schriftsteller-zu-Russland-und-Ukraine/!5833893
## AUTOREN
Katharina Granzin
## TAGS
wochentaz
Kriminalroman
Russland
Provinz
Selbstmord
Kinderheim
Roman
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
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