| # taz.de -- Neues Buch von Can Xue: Zikaden im Schnee | |
| > Experimentell: Die chinesische Schriftstellerin Can Xue umkreist in | |
| > „Schattenvolk“ existenzielle Fragen, die sich Mensch und Tier | |
| > gleichermaßen stellen. | |
| Bild: Die in Changsha geborene Autorin Can Xue lebt seit 2001 in Peking | |
| Wie würden Sie einem Tier die Funktionsweise eines Arbeitslagers erklären? | |
| Mit welchen Worten die Existenz von Großraumbüros rechtfertigen? Irgendwo | |
| zwischen einem Satz und einem Tierlaut dürfte es bei „Angst“, bei | |
| „Ohnmacht“ Schnittmengen geben. Etwas Unheimliches ist zweifellos im Gange, | |
| dem das neugierige Elsterpaar in Can Xues Erzählung „In der Nachbarschaft | |
| von Menschen“ beiwohnt. Doch so richtig schlau wird es nicht aus seinen | |
| neuen Nachbarn, die reihenweise Häuser bauen, Löcher graben und sich | |
| schließlich kampflos dem Flammentod ergeben. | |
| Trauen kann man der Handlung bei Can Xue allerdings ohnehin nicht: Was in | |
| den Geschichten von „Schattenvolk“ eben noch feststand, ist im nächsten | |
| Moment schon Nebel geworden. Dass es in einem Slum kaum Privatsphäre gibt, | |
| verdeutlicht Can Xue anhand seiner durchsichtigen Bewohner:innen, die | |
| in durchsichtigen Häusern leben und nachts im Traum miteinander sprechen. | |
| Nur die Kinder schlafen nicht, sondern laufen draußen herum, bis sie vor | |
| Kälte einfach erstarren: „Ihre Eltern kommen erst im Morgengrauen, um sie | |
| einzusammeln.“ | |
| Erzählt werden die „Geschichten aus dem Slum“ von einem Nagetier, etwas | |
| zwischen Ratte und Maus, das auf die Gnade der Hausbewohner:innen | |
| angewiesen ist und schließlich in einem Tunnel unter dem Slum zwischen | |
| kleineren Tieren landet, die für einen Mann sklavisch graben. | |
| Als dem Tier böswillig Verbrennungen zugefügt werden, erinnert sein | |
| torkelndes Selbstgespräch nicht zuletzt an den verletzten Hund aus Michail | |
| Bulgakows „Hundeherz“, der jedoch im Gegensatz zur Slumratte mit einer | |
| Menschwerdung belohnt wird. | |
| ## Beeinflusst von Kafka und Borges | |
| Can Xue nimmt erklärtermaßen bei westlichen Autor:innen Einfluss, | |
| verehrt Jorge Luis Borges und [1][Franz Kafka.] Letzterer schimmert im | |
| Nagerartigen, im Kriechenden immer wieder durch; allerdings eher motivisch | |
| denn sprachlich. Dafür verweigert sich die Autorin zu oft jeglicher | |
| Stringenz, was ihrer Arbeitsweise zulasten zulegen ist. | |
| Can Xue ist Vertreterin der „écriture automatique“ und schreibt jeden Tag | |
| eine gewisse Anzahl von Sätzen, die ungefiltert aufs Papier fließen. Und | |
| auch so stehenbleiben, denn wo Virginia Woolf in ihrer Schreibroutine | |
| täglich Stunden für die Revision des Geschrieben einplante, vertraut Can | |
| Xue ganz auf ihr Unbewusstes. | |
| Das klappt mitunter weniger gut, etwa wenn sich das surreale Moment allzu | |
| sehr anhand der Raumstrukturen offenbart, die sich pro Seite mindestens | |
| einmal auflösen. Doch wie „die alte Zikade“ sich aus Neugier auf die Lust | |
| im Sterben in einen Kampf mit einer Spinne stürzt, den keiner so ganz | |
| überlebt, ist wiederum so grandios, dass es die Leserin versöhnlich auf die | |
| traumtastende Xue’sche Glaubenslehre blicken lässt. Wo gehobelt wird, | |
| fallen eben Späne. | |
| Sprichwörter und Metaphern sucht man in „Schattenvolk“ übrigens vergebens… | |
| was ungewöhnlich ist für die sehr metaphernreiche chinesische Sprache. | |
| Dabei hat sich die Autorin, die 1953 in Changsha als Deng Xiaohua zur Welt | |
| kam, ein mehr als doppeldeutiges Pseudonym erwählt: Can Xue bezeichnet | |
| sowohl schmutzigen Schnee, der schmilzt, als auch reinen Schnee auf einem | |
| Berggipfel. | |
| Die Schwierigkeit, aus dem Chinesischen zu übersetzen, das keine | |
| grammatikalischen Zeitformen, keine Konjugationen und Deklinationen kennt | |
| und dessen Schriftzeichen keine Laute, sondern Ideen darstellen, offenbart | |
| sich so bereits auf dem Buchumschlag. | |
| ## Heikles kommt zur Sprache | |
| Mit dem von Eva Schestag übersetzten „Schattenvolk“ ist nun das dritte Buch | |
| aus dem umfangreichen Œuvre Can Xues auf Deutsch erschienen. Dass sich auch | |
| mit einer radikalen Experimentalprogrammatik Romane schreiben lassen, hat | |
| Can Xue in „Liebe im neuen Jahrtausend“ bewiesen. | |
| Zwar tauchen auch hier Personen auf und wieder ab, folgt Vergangenheit auf | |
| noch nicht Geschehenes, doch mutet wirklich surreal eigentlich nur das | |
| Fehlen von List und Hintersinn im Sprechen der Figuren an. | |
| Liebesgeständnisse kommen freigiebig über die Lippen, auch Polizisten geben | |
| rundheraus zu, die im Mittelpunkt des Romans stehenden Prostituierten | |
| attraktiv zu finden – obwohl Prostitution in China illegal ist. | |
| Das scheint jedoch keine Rolle zu spielen. Auch in „Schattenvolk“ kommt | |
| Heikles zur Sprache, wie in der titelgebenden Erzählung, die auf | |
| Überwachung anspielt. Armut und dem Bauboom geschuldete Verdrängung spielen | |
| stets eine Rolle. Can Xue umschreibt das Leben von Außenseitern, von | |
| Randständigen, die gar nicht auf die Idee kommen, für ihre Misere einen | |
| Schuldigen zu suchen. | |
| Ganz fremd dürfte ihr das Aussätzige nicht sein, wuchs Can Xue doch bei | |
| ihrer Großmutter auf, nachdem ihre Eltern als politisch zu weit rechts | |
| stehend [2][von der Mao-Regierung] zur Zwangsarbeit aufs Land geschickt | |
| wurden. Can Xue lernte das Schneiderhandwerk und begann die | |
| Schriftstellerei, die sie schließlich zu einer der bedeutendsten | |
| Avantgarde-Autor:innen Chinas machte, erst als über 30-Jährige. | |
| ## Can Xue schöpft aus dem Unbewussten | |
| Mit Schnittmustern, „Blumenkränzen“, vergleicht Can Xue ihre Schreibweise | |
| denn auch selbst. Vielleicht geben ihre Erzählungen am ehesten den Zustand | |
| von Gedanken wieder, bevor sie Sprache werden: schwerelos, abgebrochen. Can | |
| Xue, aus dem Unbewussten schöpfend, agiert im über- wie untersprachlichen | |
| Bereich. Oft genug sprechen ihre Protagonist:innen denn auch gar nicht. | |
| In der Übersetzung von Tier zu Mensch muss zwangsläufig einiges verloren | |
| gehen, obwohl man der schreibenden Can Xue zutraut, dass sie jegliche | |
| Tiersprachen fließend spricht. | |
| Das Unerwartete wird in „Schattenvolk“ erwartbar, eher früher als später | |
| begegnen alle Protagonist:innen irgendwann Übersinnlichem. Vom Alltag | |
| im Absurden will Can Xue allerdings nicht erzählen, ihr geht es vor allem | |
| um das Wundern, um das Gefühl, als Einzige nicht Bescheid zu wissen. Wo das | |
| zwischenweltliche Sumpfgebiet liegt zum Beispiel oder warum die neue | |
| Mieterin in Zhou Yizhens Haus deren Leben nachbaut. | |
| In unserer modernen Welt, in der die meisten Zeichen ihren Referenzwert | |
| verloren haben, macht Can Xue vor, wie sich Bedeutung in | |
| Bedeutungslosigkeit finden lässt. | |
| Wenn der rumänische Nihilist und Philosoph E. M. Cioran davon spricht, dass | |
| wir kein Problem damit haben, anzuerkennen, dass das All keinen Sinn hat, | |
| gegen unsere eigene vermeintliche Sinnlosigkeit jedoch heftig protestieren, | |
| beschreibt er damit den Überlebenswillen, den Menschen wie Zikaden in sich | |
| spüren. Zumindest für gewöhnlich. Vielleicht ist es das, was Can Xue so | |
| meisterhaft betreibt: uns die Auflösung als eine vergnügliche Sache zu | |
| verkaufen. | |
| 18 Aug 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] /100-Todestag-von-Franz-Kafka/!6011520 | |
| [2] /Buch-Maos-langer-Schatten/!5723513 | |
| ## AUTOREN | |
| Julia Hubernagel | |
| ## TAGS | |
| China | |
| Kurzgeschichte | |
| Prosa | |
| Insekten | |
| Social-Auswahl | |
| Erzählungen | |
| Schwerpunkt Coronavirus | |
| China | |
| Taiwan | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Neue Erzählungen von Anna Weidenholzer: Macht es wie die Seehunde | |
| Anna Weidenholzers Figuren sind reich an Eigenheiten. Worauf zielt ihr | |
| melancholischer Humor im Erzählungsband „Hier treibt mein Kartoffelherz“? | |
| Chinesischer Dokumentarroman über Corona: Menschen wie Viren behandelt | |
| Liao Yiwus Roman „Wuhan“ beschreibt die desaströse Coronapolitik in China … | |
| und entwirft ein vielfältiges Bild eines autoritär regierten Landes. | |
| Reisebericht über Hongkong und China: Fußangeln für die Durchmarschierer | |
| Marko Martin verbringt einen Jahreswechsel in Hongkong. Angesichts der | |
| chinesischen Repression denkt er über Unterdrückung und Befreiung nach. | |
| Literatur aus Taiwan: Unerhörtes aus Taiwan | |
| In der jungen Generation in Taiwan wächst die Sorge vor dem aggressiven | |
| Festland-China, die Politik hält Einzug in Gedichte. Lesung in Berlin. |