| # taz.de -- Buch „Maos langer Schatten“: Unter der Oberfläche | |
| > In der Kommunistischen Partei Chinas begegneten sich nach Mao Täter und | |
| > Opfer. Deckte der ökonomische Aufstieg der Diktatur die Wunden zu? | |
| Bild: Nicht an Aufarbeitung interessiert: Xi Jinping. Bild an einer Hauswand in… | |
| Wer erinnert sich noch an [1][Hu Yaobang]? Chinesische Studenten wollten | |
| nach seinem Tod im Jahr 1989 an ihn erinnern und versammelten sich auf dem | |
| Platz des Himmlischen Friedens. Ihr öffentliches Gedenken wurde zum Fanal | |
| einer demokratischen Protestbewegung, die mit dem Tiananmen-Massaker im | |
| Juni 1989 brutal niedergeschlagen wurde. | |
| Hu Yaobangs Name stand für eine Hoffnung auf Demokratisierung, die mit | |
| seinem Sturz 1987 als Generalsekretär der Kommunistischen Partei einen | |
| herben Rückschlag erlitten hatte. Die Partei schickte Zhao Ziyang, den | |
| ehemaligen Mitstreiter Hu Yaobangs, der 1987 als Ministerpräsident | |
| ebenfalls entmachtet worden war, zu den rebellierenden Studenten, der sie | |
| aber nicht überzeugen konnte, den Platz zu verlassen. | |
| Die unmittelbar darauf erfolgende militärische Niederschlagung des Protests | |
| desavouierte die reformwilligen Kräfte in der Partei. Die Namen Hu Yaobang | |
| und Zhao Ziyang sollten aus dem Gedächtnis der Chinesen verschwinden. Der | |
| kontinuierliche ökonomische Aufstieg Chinas in den letzten 30 Jahren deckte | |
| viele Wunden der Vergangenheit zu. | |
| Daniel Leese arbeitet in seinem Buch „Maos langer Schatten“ die Bedeutung | |
| von Erinnerungspolitik für die chinesische Gesellschaft heraus. Die | |
| Vergangenheit wird nicht einfach der Vergessenheit überantwortet, sondern | |
| sie wird ständig neu bearbeitet. Auch nach 1989 hat die KPCh sich mit der | |
| Vergangenheit beschäftigt; die Parteiführung möchte aber die Kontrolle über | |
| die öffentliche Diskussion behalten. | |
| ## Politik des nicht so genauen Hinschauens | |
| Xi Jinping, der unumstrittene Machthaber im heutigen China, praktiziert | |
| eine Politik des nicht so genauen Hinschauens. Sein Vater Xi Zhongxun, | |
| altes Parteimitglied, war zur Zeit der Kulturrevolution von den Roten | |
| Garden gedemütigt worden, der Sohn verbrachte seine Jugend unter | |
| erbärmlichen Bedingungen auf dem Land. | |
| In der Zeit von Deng Xiaopings Aufstieg nach 1978 gelangte Xi Zhongxun ins | |
| Politbüro, er verteidigte Hu Yaobangs Reformversuche und wurde 1988 | |
| kaltgestellt. Der Sohn machte ungeachtet dieser Geschichte Parteikarriere | |
| und wurde 2012 Generalsekretär. Flexibilität im Umgang mit der eigenen | |
| Lebensgeschichte gehört zur Führungsqualität eines chinesischen | |
| Kommunisten. | |
| Deng Xiaoping verkörpert dies wie kein Zweiter. Er selbst war nach Liu | |
| Shaoqi Hauptfeind in der Kulturrevolution, wurde aber von Mao selbst 1973 | |
| zurückgeholt, leitete die Reformpolitik nach Maos Tod ein, ließ Hua Yaobang | |
| 1987 fallen, billigte den Militäreinsatz 1989 gegen die Protestbewegung und | |
| setzte die Fortsetzung der ökonomischen Reformbewegung durch. Allein die | |
| Kurzbiografien chinesischer Kommunisten am Ende des Buches lassen den Leser | |
| immer von Neuem staunen. | |
| Leese konstruiert sein Buch über die chinesische Vergangenheitspolitik mit | |
| Blick auf die viel zu wenig beachtete Periode von 1978 bis 1987. Um die | |
| chinesische Gesellschaft nach dem Chaos der Kulturrevolution zu befrieden, | |
| musste die KP einen Umgang mit der eigenen Vergangenheit finden. In der | |
| Partei begegneten sich Millionen Täter und Opfer. Die Verbrechen ließen | |
| sich nicht als parteiinterne Angelegenheit wie die Entstalinisierung in der | |
| Sowjetunion behandeln. | |
| Auch der Umgang mit der chinesischen Bevölkerung musste thematisiert | |
| werden, wenn man das Vertrauen der chinesischen Bevölkerung zurückgewinnen | |
| wollte. Es musste ein rechtlicher Rahmen geschaffen werden, in dem die | |
| Vergangenheit bearbeitet werden konnte. | |
| ## Reformen als ein komplexer gesellschaftlicher Prozess | |
| Der Name Hu Yaobang steht für diesen gewagten Versuch. Leese, der schon | |
| eine lesenswerte kurze Geschichte der Kulturrevolution verfasst hat, | |
| zeichnet diesen gescheiterten Versuch anspruchsvoll nach. Die Reformen, die | |
| vor allem mit Deng Xiaoping verknüpft werden, erscheinen aus dieser | |
| Perspektive als ein komplexer gesellschaftlicher Prozess. Fraktions- und | |
| Generationskämpfe erscheinen in neuem Licht. | |
| Die Rolle des Rechts in nachrevolutionären Gesellschaften wird | |
| eindrucksvoll aufgearbeitet. An exemplarischen Einzelfällen verdeutlicht | |
| Leese die Behandlung von Verbrechen in den unterschiedlichen Perioden des | |
| kommunistischen China. | |
| Daniel Leese ist mit „Maos langer Schatten“ eines der eindrücklichsten | |
| Bücher über die chinesische Gesellschaft nach dem Tod Maos gelungen. Der | |
| Fokus, der auf der Periode von 1978 bis 1987 liegt, verdeutlicht die | |
| Notwendigkeit eines rechtlichen Umgangs mit der Zeit der Rechtlosigkeit. | |
| Die Flut von Beschwerden über ungerechte Behandlung, das Begehren von | |
| Millionen über Revisionen ihrer Gerichts- und Parteiverfahren schildert | |
| Leese eindrücklich mit empirischem Material. | |
| ## Maoistischer Rechtsnihilismus | |
| Dieser Einblick in die konfrontative Alltagspraxis in Familie, Betrieb und | |
| den Grundeinheiten der Partei vermittelt eine Ahnung, wie gefährdet die | |
| Herrschaft der KP zu diesem Zeitpunkt war. Leese zeigt glaubhaft, wie die | |
| Führung nach einer autoritären Lösung suchte, die das Unrecht nicht | |
| verleugnete, aber auch nicht den Ursachen des maoistischen Rechtsnihilismus | |
| nachging. | |
| Als Formel einer gelungenen Vergangenheitspolitik setzte sich die | |
| Unterscheidung von Fehlern und Verbrechen durch. Die Ansprüche der Opfer | |
| ließen sich mit Urteilen beschwichtigen, die sozialpolitischen Wohltaten | |
| gleichkamen. Die Täter ließen sich je nach Opportunität disziplinieren, | |
| ohne einem erneuten Volkszorn Tür und Tor zu öffnen. | |
| Die gegenwärtige chinesische Führung spricht von den Fehlern der | |
| Vergangenheit, ohne vor neuen Verbrechen zurückzuschrecken. Die | |
| Gnadenlosigkeit einer politischen Justiz, die Hongkong und Taiwan das | |
| Fürchten lehren soll, und die rücksichtslose Unterdrückung der Uiguren | |
| zeigen, wie taktisch das Verhältnis der Macht zu Recht und Wahrheit | |
| geblieben ist. Xi Jinpings absoluter Führungsanspruch lässt ihn die | |
| Geschichte und die Rolle Chinas neu deuten. Auch internationales Recht soll | |
| die Weltmacht China nicht mehr aufhalten. | |
| 10 Nov 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Detlev Claussen | |
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