# taz.de -- Autor Richard Kreitner über die USA: „Die Angst hält das Land z… | |
> In den USA spitzen sich die Auseinandersetzungen zu. US-Autor Richard | |
> Kreitner spürt den spalterischen Tendenzen und neuen Ablösungstendenzen | |
> nach. | |
Bild: Proteste von Black Lives Matter, Juli 2020 in Portland, Oregon | |
taz am wochenende: Machen wir ein Gedankenexperiment. Es ist das Jahr 2040, | |
die Vereinigten Staaten von Amerika existieren nicht mehr. Wo würden Sie | |
leben und wie würde das Land aussehen? | |
Richard Kreitner: Ich lebe in New York, ich mag die Stadt und die Menschen | |
sehr. Wären die Vereinigten Staaten auseinandergebrochen, würde ich immer | |
noch hier leben wollen. Vermutlich würden Kalifornien oder Texas die Union | |
zuerst verlassen. | |
Warum? | |
Beide Staaten, auch deren Gouverneure und Mainstream-Politiker*innen, | |
haben in den letzten Jahren mehr oder weniger laut über dieses Szenario | |
nachgedacht. Die Geschichte zeigt, dass andere Staaten folgen, wenn einer | |
seine Unabhängigkeit erklärt. Das haben wir aus dem Sezessionskrieg | |
zwischen Nord- und Südstaaten von 1861 bis 1865 gelernt. Geografisch würde | |
das Land wohl in mehrere regionale Nationen zerfallen und New York könnte | |
eine nordöstliche Republik anführen. Ich bin kein Fan dieser Vorstellung. | |
Im Endeffekt wäre das nur ein konfuser Prozess, um den Niedergang der | |
Vereinigten Staaten zu verwalten. | |
Der Sezessionskrieg brachte die USA an den Rand der Auflösung. An welchem | |
Punkt in der Geschichte war diese Gefahr ähnlich groß? | |
Zehn Jahre vor dem Sezessionskrieg hätte es beinahe einen ähnlichen | |
Konflikt gegeben. Die Vereinigten Staaten expandierten in den Westen und | |
die große Streitfrage war, ob die Sklaverei auch dort eingeführt werden | |
sollte. | |
Was ist denn der historisch schwerwiegendste Faktor für die innere | |
Instabilität der US-amerikanischen Union? | |
Besonders in der Anfangsphase der jungen Republik wirkte die Geografie des | |
Landes destabilisierend. Nach der Revolution gegen Großbritannien, im | |
späten 18. Jahrhundert, zogen Siedler auf die Westseite der Appalachen. Das | |
Gebirge zieht sich im Osten der USA von Nord- nach Südosten. Um zu | |
überleben, mussten diese Siedler Handel betreiben. Sie konnten ihre Waren | |
aber nicht auf dem beschwerlichen Weg über die Berge schicken, an die | |
östlichen Häfen wie New York. Also schickten sie ihre Waren den Mississippi | |
runter, nach New Orleans. Allerdings war die Stadt damals nicht unter | |
US-amerikanischer, sondern unter spanischer Kontrolle. Diese Leute standen | |
also vor der Wahl, sich zum Osten zu bekennen, eine eigene Nation mit | |
Treueschwur an Spanien zu gründen oder gleich ganz Teil von Spanien zu | |
werden. | |
Wenn man in die Gegenwart schwenkt, auf die heutigen Konflikte und Diskurse | |
in den USA, dann hat es den Anschein, als fände sich das Land erneut in | |
einer Art Revolution wieder. Man könnte vielleicht sogar von einem | |
diskursiven Kriegszustand sprechen. | |
Politik in den USA ist wie Bürgerkrieg mit anderen Mitteln. Manche Menschen | |
sind bereit, auf noch schärfere Mittel als den Diskurs zurückzugreifen. Das | |
ist beängstigend in einem Land, in dem es fast mehr Waffen als | |
Einwohner*innen gibt. Linke und Rechte sprechen relativ locker über die | |
Spaltung der USA. Nach den Wahlen 2016 meinten Bekannte von mir, dass sie | |
gern ein eigenes Land gründen oder nach Kanada ziehen würden. Hinter den | |
Rechten versammeln sich Verschwörungstheoretiker*innen, die schon den | |
nächsten Bürgerkrieg kommen sehen. Solche Abspaltungsgedanken gibt es in | |
den USA schon immer. Allerdings wirkt das politische System immer | |
unfähiger, unsere inneren Streitereien abzufedern. | |
In seiner Wahlkampagne setzt Donald Trump auf Angst. Die | |
Black-Lives-Matter-Proteste bezeichnet er als Terrorismus, China bedroht | |
das wirtschaftliche Überleben der USA. Brauchen die Vereinigten Staaten die | |
äußere und innere Bedrohung, um zusammenzuhalten? | |
Absolut. Es fing mit den Überfällen indigener Bewohner*innen auf die | |
frühen Siedlungen an. Die Siedler*innen waren so verängstigt, dass sie | |
sich zusammentaten, obwohl sie das nicht vorhatten. Das zieht sich bis | |
heute durch. Die Angst hält das Land zusammen. Viel mehr als die Sprache, | |
die Religion, Kultur oder die Geografie. Ständig wird irgendein Krieg | |
ausgefochten, intern oder extern, kalt oder heiß, real oder metaphorisch, | |
dauernd muss irgendein Feind bekämpft werden. | |
Ein konservativer Kommentator nannte die Sezession eine dumme Fantasie der | |
Linken. Ihr Buch sei demnach nur ein Beweis für den linken Hass auf die | |
Vereinigten Staaten. | |
Sobald sich Politiker*innen oder Intellektuelle, von welcher Seite auch | |
immer, äußern, kommt gleich der Vorschlaghammer. All das sei festgefahren, | |
links oder rechts. Ich bin nur ein Typ, der in seinem Kämmerlein ein Buch | |
geschrieben hat. 2016, als ich die Idee zu dem Buch hatte, konnte ich | |
natürlich nicht ahnen, dass wir heute eine Art Live-Action-Epilog dazu | |
erleben würden. | |
Was wäre denn trotzdem ein triftiger Grund, die Union der Vereinigten | |
Staaten aufzulösen? | |
Wir könnten so die Demokratie bewahren. Von den frühen Tagen der Verfassung | |
bis heute sind sich viele Menschen einig, dass ein so großes Land nicht | |
demokratisch regiert werden kann. 2016 gewannen die Demokraten die | |
Präsidentschaftswahl mit drei Millionen Stimmen Vorsprung und trotzdem | |
wurde Trump Präsident. Letztendlich bestimmt das Wahlmännerkollegium | |
den*die Präsident*in. Wenn es dieses Jahr wieder so läuft wie 2016, | |
könnte zum Beispiel ein Ultimatum zur Abschaffung dieses Kollegiums auf den | |
Plan treten. Außerdem hat jeder Bundesstaat die gleiche Anzahl an Stimmen | |
im Senat, obwohl zum Beispiel Kalifornien ungefähr 70 Mal so viele | |
Einwohner*innen hat wie kleine Staaten wie Wyoming oder Rhode Island. Wo | |
ist da die Balance? Ein weiteres Argument für eine Spaltung ist der | |
Klimawandel. Wir haben zehn Jahre verloren, weil die USA völlig | |
dysfunktional agieren. Anstatt nochmal zehn Jahre zu verlieren, wäre es | |
besser, wenn die Staaten im liberalen Nordosten oder Kalifornien | |
vorangehen. | |
Welche Wirkung hätte das denn auf die Bundespolitik? | |
In Kalifornien gelten strengere Regeln für Abgasemissionen von Autos. | |
Aufgrund seiner Größe hat Kalifornien viel Gewicht bei der | |
Bundesgesetzgebung. Wenn Kalifornien dieses Gewicht einsetzt, müssen sich | |
andere Staaten diesen Regeln anpassen. Trump hat Kalifornien wegen seiner | |
strengen Regeln verklagt, der Prozess steht noch aus. Wenn die | |
Bundesregierung weiter progressive Vorstöße in den Bundesstaaten | |
unterdrückt, werden sich mehr und mehr Menschen noch einmal überlegen, ob | |
eine Loslösung von der Union nicht sinnvoller wäre. Aber wie gesagt, ich | |
finde diese Vorstellung ganz und gar nicht gut. | |
Dennoch haben die Bundesstaaten Mittel an der Hand, um Widerstand zu | |
signalisieren. Wie sehen die konkret aus? | |
Kalifornien könnte sich zum Beispiel langsam vortasten, ohne gleich | |
komplett aus der Union auszutreten. Ein tragisches, aber interessantes | |
Beispiel sind die großen Waldbrände dort. In solchen Fällen sind die | |
Bundesstaaten sehr auf Hilfe von der Bundesregierung angewiesen und darin | |
liegt ein wichtiger Beweggrund, nicht aus dem Staatenverbund auszutreten. | |
Wie die New York Times kürzlich allerdings berichtete, wollte Trump diese | |
offizielle Nothilfe für Kalifornien streichen, weil es nicht seine | |
politische Basis ist. Wenn ein*e künftige*r republikanische*r | |
Präsident*in ähnlich vorgeht, könnten Staaten wie Kalifornien zum | |
Beispiel Steuereinnahmen zurückhalten, die an die Bundeskassen fließen. | |
Demokratisch geführte Staaten zahlen mehr in diese Kassen ein als | |
republikanisch geführte. Die nehmen mehr, als sie geben. | |
In ihrem Buch „Break It Up“ lesen Sie die Vorstellungen der USA gegen den | |
Strich. Was wollen Sie im derzeitigen politischen Klima bei den Menschen | |
auslösen? | |
Wir sprechen zu viel über Begriffe wie Nation oder Amerika. Letztendlich | |
sind die Vereinigten Staaten eine Union einzelner Bundesstaaten, die schon | |
seit langer Zeit schwächelt. Jeder Präsident spricht in der traditionellen | |
Ansprache zur Lage der Union natürlich trotzdem davon, wie stark sie ist. | |
Stattdessen steuern wir auf einen Bruch zu, auf eine Wahl, die | |
möglicherweise angefochten werden wird, auf neue Gewalt auf den Straßen. | |
Wir müssen also ganz bewusst und klar darüber diskutieren, ob die Union | |
zusammenhalten soll oder nicht. Ansonsten schlafwandeln wir doch bloß in | |
eine Katastrophe. | |
3 Oct 2020 | |
## AUTOREN | |
Fabian Ebeling | |
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