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# taz.de -- Präsidentschaftswahl in den USA: Warum noch nichts entschieden ist
> Früher sprachen vor der Präsidentschaftswahl in den USA die Zahlen für
> sich. Doch in der Ära Trump gibt es keine Gewissheiten mehr.
Bild: Unterstützer und Gegner von Trump diskutieren während des Duells der Pr…
Unter normalen Umständen würden Journalist*innen einen Monat vor dem Termin
der US-Wahlen am 3. November abgegriffene Metaphern benutzen wie „Der
Wahlkampf geht in die Zielgerade“. Daraus spricht die Ermüdung unserer
Branche, die sich schon zwei Jahre vor diesen Wahlen mit ihnen beschäftigt,
also spätestens dann, wenn die ersten Meldungen für die
Präsidentschaftskandidatur eintrudeln.
Barack Obama formulierte es kurz nach seiner ersten Wahl 2008 einmal so:
„Seit ich meinen Wahlkampf gestartet habe, sind Kinder gezeugt und geboren
worden, die inzwischen laufen und sprechen können.“
Unter normalen Umständen also stünde dieser quälend lange Prozess jetzt
endlich kurz vor dem Abschluss, und die Umfragewerte würden eine Idee davon
geben, wer vermutlich die Wahl gewinnt und in den frühen Morgenstunden des
4. November eine Siegesrede vor seinen Anhänger*innen hält.
Das wäre nach derzeitigem Stand der demokratische Herausforderer Joe Biden:
Würden alle so stimmen, wie es die Umfragen derzeit prognostizieren,
gewänne Biden das 538 Wahlleute umfassende Electoral College mit 353 gegen
185 Stimmen, die Demokrat*innen würden mit einer Mehrheit von 51 gegen 49
Stimmen den Senat kontrollieren und aller Wahrscheinlichkeit nach auch die
Kontrolle über das Repräsentantenhaus verteidigen. Alle Zeichen stünden auf
Veränderung – der Albtraum der Trump-Präsidentschaft wäre nach nur einer
Amtsperiode vorbei.
Aber die Umstände sind nicht normal, von „Zielgerade“ kann nicht die Rede
sein. Die erste TV-Debatte geriet diese Woche zu einem solchen Chaos, dass
die „Commission on Presidential Debates“ bereits Regeländerungen überlegt.
Der Präsident lehnt es ab zuzusichern, dass er das Wahlergebnis anerkennt,
und schürt die Angst vor einem großen Wahlbetrug durch eine coronabedingt
verstärkte Briefwahl. Rechtsextreme Milizen rüsten für kommende
Auseinandersetzungen – befeuert von Trump, auch wenn der plötzlich
behauptet, die „Proud Boys“ gar nicht zu kennen, die er in der TV-Debatte
von Dienstagnacht aufrief, sich „bereitzuhalten“. Und kaum jemand geht
davon aus, dass der Sieger der Wahl noch in der Wahlnacht wird verkündet
werden können.
Dazu kommt: Bidens Umfragevorsprung ist zwar solide, aber die Erinnerung an
2016, als die Umfragen auch einen klaren Sieg Hillary Clintons
prognostizierten, lässt nicht nur Journalist*innen vorsichtig werden.
[1][Nate Silver], Gründer des Analyse-Portals FiveThirtyEight.com, versucht
die Zweifler*innen zu beruhigen: Selbst wenn man von Bidens Vorsprung
jeweils jene 3 Prozentpunkte abziehe, um die 2016 die Umfragen falsch
lagen, würde Biden eine Mehrheit im Electoral College gewinnen.
Das stimmt nach derzeitigem Stand, wie sich auf der Seite
[2][RealClearpolitics.com] jede*r selbst ansehen kann: In Michigan gewann
Trump damals mit 0,3 Prozentpunkten Vorsprung – Biden liegt derzeit 5,7
Prozentpunkte vorne. In Pennsylvannia gewann Trump mit 0,7 Prozentpunkten,
Biden führt jetzt mit 5,7. Und fast genauso ist es in Wisconsin. In
Arizona, Florida und North Carolina wird es enger: Hier liegt Biden derzeit
mit nur knapp 1 Prozentpunkt vorne.
Aber selbst wenn er diese drei Staaten und auch noch Ohio verliert, wo er
derzeit mit 3,3 Prozentpunkten führt, könnte er mit dem Rückgewinn von
Michigan, Pennsylvania und Wisconsin die 270 benötigten Stimmen im
Electoral College und damit die Wahl gewinnen – immer vorausgesetzt, dass
sich zweistellige Umfragevorsprünge in anderen Staaten nicht noch in ihr
Gegenteil verkehren. Kurz: Das aktuelle Umfragegeschehen legt einen Sieg
Bidens nahe, offen scheint demnach nur, ob es ein Landslide wird, ein
„Erdrutschsieg“, oder doch eher knapp.
Was all diese Umfragewerte jedoch nicht berücksichtigen können, sind die
besonderen Umstände dieser Wahl, zu denen Trumps wiederholt geäußerter
Verdacht des Briefwahlbetrugs zählt. Insgesamt messen demokratische
Wähler*innen der Coronapandemie größere Bedeutung bei als republikanische,
weshalb vermutet wird, dass sie eher per Briefwahl abstimmen, während
Trump-Wähler*innen zum Wahllokal gehen.
Bei der Auszählung am Wahlabend in einem der wahlentscheidenden Staaten
könnte Trump knapp vorne liegen. Die per Briefwahl abgegebenen Stimmen
werden erst anschließend gezählt. Wenn sich nun Trump noch in der Nacht zum
Sieger erklärt und die Briefwahlstimmen für betrügerisch erklärt, während
auf Fox News Berichte über angeblich doppelt abgegebene Briefwahl-Stimmen
erscheinen, wäre eine handfeste Krise augenscheinlich.
Es könnte Wochen dauern, bis es ein Wahlergebnis gibt und das Ganze
schließlich vor dem Supreme Court landet – der bis dahin aller
Wahrscheinlichkeit nach mit 6 konservativen und 3 liberalen Richter*innen
besetzt ist. Auf den Straßen würden Linke gegen Trumps Autoritarismus
demonstrieren, dagegen könnten die rechten Milizen aufmarschieren – ein
Szenario kurz vor dem Bürgerkrieg. Und niemand sollte darauf hoffen, dass
Trump plötzlich Verantwortung übernimmt, um das zu verhindern.
Es gibt noch eine Reihe anderer Szenarien, die deutlich machen, dass
Umfragewerte oder selbst Mehrheiten bei diesen Wahlen nicht die einzige
Rolle spielen. Was diesen Horrorvorstellungen den Wind aus den Segeln
nehmen könnte: ein Sieg einer der beiden Kandidaten, der so eindeutig ist,
dass er nicht ernsthaft bezweifelt werden kann.
Aber nicht nur um den Bewohner des Weißen Hauses geht es am 3. November.
Die Ohnmacht, die den Demokrat*innen gerade wieder vor Augen geführt wird,
weil sie keine einzige Möglichkeit haben, die Berufung der konservativen
Juristin Amy Coney Barrett an den Supreme Court zu verhindern, lässt den
Kampf um den Senat umso wichtiger erscheinen. Derzeit stehen im Senat 53
Republikaner*innen 47 Demokrat*innen und mit ihnen koalierende Unabhängigen
(wie Bernie Sanders aus Vermont) gegenüber.
Bei den Zwischenwahlen 2018 gewannen die Demokraten zwar die Kontrolle über
das Repräsentantenhaus zurück, hatten aber kaum Chancen, auch den Senat
wiederzuerobern – einfach weil die Mehrheit der zur Wahl anstehenden
Senatssitze schon vonDemokrat*innen besetzt war. Das ist diesmal anders: 23
der diesmal 35 zur Wahl stehenden Sitze werden von Republikaner*innen
gehalten – und mindestens acht davon wackeln deutlich. Sollten die
Demokrat*innen auch nur die Hälfte davon gewinnen und ihre eigenen Sitze
verteidigen, hätten sie die Mehrheit im zukünftigen Senat.
Sollte das so kommen, Donald Trump aber doch im Weißen Haus bleiben, wäre
es eine Situation, mit der Präsident Barack Obama auch konfrontiert war,
nachdem die Demokrat*innen 2010 das Repräsentantenhaus, 2014 dann auch die
Senatsmehrheit verloren: Obama war Präsident, hatte aber keine Chance mehr,
irgendwelche Reformvorhaben in Gesetzesform zu gießen, und musste per
Dekret regieren, soweit das rechtlich möglich ist.
Sollte sich allerdings der Umfragetrend bestätigen und die Kontrolle über
alle drei Instanzen an die Demokrat*innen gehen, würde sich der Albtraum
derjenigen Republikaner*innen erfüllen, die schon 2016 davor warnten, Trump
könnte die Partei nachhaltig zerstören. Ihr Problem wird dann sein, dass
die treu an Trump gebundene Wählerschaft mit seiner Niederlage nicht
verschwunden wäre, der Trumpismus die Partei aber so weit in eine
verschwörungsideologisch inspirierte rechte Ecke gedrängt hätte, dass sie
keine Wahlen mehr gewinnt.
Zumal nach Trumps Abgang auch Loyalitätsfragen in einer Partei neu
ausgehandelt werden müssten, die sich daran gewöhnt hat, dass
Trump-Kritiker*innen sofort abgestraft werden. Das allerdings wäre auch so,
wenn Trump Präsident bliebe. Denn spätestens ab den Zwischenwahlen 2022
wird es um die Nachfolge gehen.
1 Oct 2020
## LINKS
[1] https://fivethirtyeight.com/features/trumps-chances-are-dwindling-that-coul…
[2] https://www.realclearpolitics.com/epolls/2020/president/2020_elections_elec…
## AUTOREN
Bernd Pickert
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