| # taz.de -- Komödie von Zhang Yimou im Kino: Die Reise einer Filmrolle | |
| > Zhang Yimous Komödie „Eine Sekunde“ spielt zur Zeit der Kulturrevolution. | |
| > Die chinesische Zensur hat ihn lange zurückgehalten. | |
| Bild: In Zhang Yimous „Eine Sekunde“ wird einer Filmrolle arg mitgespielt | |
| Durch den Sand, den der Wind über den Sandbergen der Wüste Gobi verweht, | |
| kämpft sich ein Mann aus dem Hintergrund voran: in den Vordergrund hinein, | |
| am Bildhorizont entlang, in die Weite der Landschaft hinaus. Als dieser | |
| schließlich in der Dunkelheit eine Kleinstadt erreicht, strömen die | |
| Menschen aus einer Veranstaltung. Zwei Männer verlassen als Letzte den | |
| Saal, schleppen Filmdosen heraus, die sie in den Seitentaschen eines | |
| Motorrads verstauen. | |
| Der Auftritt der Protagonistin von [1][Zhang Yimous] „Eine Sekunde“, | |
| nämlich eine Filmrolle, könnte einem leicht entgehen: Beiläufig gleitet das | |
| Zelluloid für die „Wochenschau Nr. 22“ mit den übrigen Filmrollen in die | |
| Seitentasche. Dieser Filmrolle gilt die Sehnsucht der geschundenen Figur, | |
| die sich durch die Wüste gekämpft hat. Für ihn, den Flüchtigen aus einem | |
| Arbeitslager der chinesischen Kulturrevolution, verheißt sie ein medial | |
| vermitteltes, kurzes Wiedersehen mit der eigenen Tochter. | |
| Doch gerade als er sich darauf einstellt, sein Glück am nächsten Tag, in | |
| der nächsten Stadt, bei der nächsten Vorführung versuchen zu müssen, | |
| schleicht eine Kontrahentin heran und macht sich mit einer der Filmdosen | |
| aus dem Staub. Der Flüchtige stellt die Diebin, aber die Kleinstadt hat | |
| sich schon zur Ruhe begeben. Niemand möchte die Filmdose zurückhaben. Am | |
| nächsten Tag folgt ein aberwitziger Staffellauf zwischen dem Flüchtigen und | |
| der Filmdiebin, der Waisen Liu, mit der Filmrolle quer durch die Wüste in | |
| die nächste Kleinstadt. Am Abend soll die Wochenschau als Vorfilm eines | |
| Filmprogramms laufen. | |
| [2][„Eine Sekunde“ hätte schon 2019 im Wettbewerb der Berlinale Premiere | |
| feiern sollen], hätte für Yimou die nahtlose Fortsetzung einer großen | |
| Regiekarriere des chinesischen Kinos sein sollen. Aus ominösen „technischen | |
| Gründen“ lief der Film jedoch nicht. Trotz Nachdrehs und Umarbeitungen | |
| wurde 2020 auch eine Premiere bei den Golden Rooster Awards abgesagt und | |
| der Film lief erstmals am 26. November 2020 mit anderthalb Jahren | |
| Verspätung im China Film Archive in Peking. Auch Zhangs nächster Film | |
| „Under the Light“/„Solid as a Rock“ lag nach Ende der Dreharbeiten im | |
| September 2019 bis letzten Sommer auf Eis. | |
| Was auch immer die konkreten Einwände gegen die ursprüngliche Fassung von | |
| „Eine Sekunde“ waren, sie haben die Filmografie eines der wichtigsten | |
| chinesischen Regisseure der Zeit nach der Kulturrevolution aus dem Tritt | |
| gebracht. Erst mit zwei politisch weniger heiklen Filmen, dem | |
| Spionagethriller „Cliff Walkers“ aus der Zeit der japanischen Besetzung von | |
| Teilen Chinas und „Snipers“, einem konzentrierten Duell zweier Gruppen von | |
| Scharfschützen im Koreakrieg, kehrte wieder Ruhe ein in die | |
| Produktionsabläufe von Zhang Yimous Filmen. | |
| Zelluloid, zerschnitten und zusammengeklebt | |
| Als in „Eine Sekunde“ schließlich auch die Wochenschau, der unser | |
| namenloser Flüchtling hinterherjagt, wieder auftaucht, hängt sie hinten an | |
| einem Eselskarren und hat mit den Filmstreifen des Hauptfilms ein | |
| längliches Knäuel gebildet. Wie überhaupt die Filmrolle mit den ersehnten | |
| Aufnahmen bei Yimou gründlich malträtiert wird. Sie wird durch den | |
| Wüstensand geschleift und als Endlosschlaufe durch den Raum gespannt. Der | |
| Film wird gewaschen, abgewischt, bekommt Luft zugefächert, wird | |
| zerschnitten und wieder zusammengeklebt. | |
| „One Second“, so der internationale Titel, eine Sekunde lang ist die | |
| Tochter des Geflüchteten auf den Bildern der Wochenschau zu sehen. Wieder | |
| und wieder lässt sich der Vater die Bilder seiner Tochter, die nach der | |
| Verurteilung zum Arbeitslager jeden Kontakt mit ihm abgebrochen hat, | |
| vorführen. Und während der Geflüchtete sich nach dem Inhalt der Bilder | |
| sehnt, will die Waise Liu aus den Filmstreifen einen Lampenschirm für ihren | |
| kleinen Bruder kleben. „Eine Sekunde“ ist eine Spielfilm gewordene Ode an | |
| den fotochemischen Film und seine Unverwüstlichkeit. | |
| Zhang Yimou muss sich bewusst gewesen sein, dass es heikel sein würde, | |
| seinen Film in der Kulturrevolution anzusiedeln. Unter Xi Jinping häufen | |
| sich gewissermaßen die positiven Bezüge auf diese Zeit des Terrors. Umso | |
| interessanter ist die Wahl jenes Films, der auf den Kinoabenden in „Eine | |
| Sekunde“ als Hauptfilm nach der Wochenschau läuft. „Heroic Sons and | |
| Daughters“ (1964) handelt von einem chinesischen Offizier, der im | |
| Koreakrieg auf Umwegen seine Tochter wiederfindet. Zwanzig Jahre zuvor | |
| hatte der Offizier, damals noch als Revolutionär im Untergrund, seine | |
| Tochter einer Nachbarin übergeben, nachdem seine Frau von der Guomindang, | |
| der Nationalen Volkspartei, getötet wurde. | |
| Der Film basiert auf dem Roman „Reunion“ (1961) von Ba Jin, einem der | |
| wichtigsten chinesischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Obwohl Ba Jin | |
| schon vor der Gründung der Volksrepublik China in linken Literatenkreisen | |
| verkehrte und nach dem Krieg Anschluss an die Kommunistische Partei fand, | |
| war er während der Kulturrevolution brutaler Verfolgung ausgesetzt. | |
| Ausgerechnet die historischen Filmausschnitte schlagen eine Brücke in die | |
| Gegenwart des chinesischen Films, in der immer wieder aufs Neue Schlachten | |
| des Koreakriegs geschlagen werden, heroische Massen durchs Bild stürmen und | |
| die Amerikaner in die Flucht schlagen. | |
| Jene Zeiten, in denen Regisseure wie Zhang Yimou in den späten 1980er | |
| Jahren begannen, nach Formen zu suchen für die Transformation des Landes, | |
| sind lange vergangen. Zhang Yimous Hommage an den analogen Film in „Eine | |
| Sekunde“ wirkt wie ein Abgesang auf bessere Zeiten des chinesischen Kinos. | |
| 15 Jul 2022 | |
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| ## AUTOREN | |
| Fabian Tietke | |
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