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# taz.de -- Kunst zur Situation der Uigur:innen: „Die Kultur wird zerstört“
> Künstlerin Mukaddas Mijit und Journalistin Jessica Batke verhandeln in
> einer Performance Themen wie Zwang, Inhaftierung und Überwachung. Ein
> Gespräch.
Bild: Mukaddas Mijit ist uigurische Künstlerin und Ethnomusikologin und hostet…
taz: Mukaddas Mijit, Sie kommen aus [1][Xinjiang – einer Region Chinas,]
die wegen der dort praktizierten Menschenrechtsverletzungen immer wieder in
den Nachrichten auftaucht, über die aber sonst wenig bekannt ist. Wie war
es, dort aufzuwachsen?
Mukaddas Mijit: Mein Vater war Professor an der Universität von Xinjiang.
Seine Tätigkeit prägte das Umfeld meiner Kindheit. Ich wuchs in einer
segregierten Gesellschaft auf, hauptsächlich unter Uigur:innen,
Kasach:innen, Kirgis:innen und anderen Turkstämmigen. Han-Chinesen waren
nicht unter meinen Freund:innen. So war das Bildungssystem ausgerichtet,
der Schulunterricht wurde, im Unterschied zu heute, auf Uigurisch
abgehalten.
Gleichzeitig herrschte – in den Jahren nach der [2][chinesischen
Kulturrevolution] – eine Atmosphäre der Hoffnung und der Erneuerung. Wir
haben westliches Fernsehen empfangen und westliche Musik gehört und mit
unserer eigenen Kultur kombiniert. Spannende Kunstszenen blühten auf.
Wann waren Sie zuletzt dort und wie war das?
MM: 2013. Mein französischer Partner hatte mich begleitet. Diese Tatsache
machte die Reise damals schon schwierig. Er wurde ständig von der Polizei
kontrolliert, wir sahen uns in Hotels verhörartigen Situationen ausgesetzt.
Er sagte daraufhin: „Dein Herkunftsland ist unglaublich schön, aber ich
denke, dass ich in nächster Zeit nicht mehr dorthin kommen kann. Der Druck
versetzt mich zu sehr in Stress.“
Das Kontroll- und Überwachungssystem war also schon stark ausgeprägt. 2015
war ich noch einmal in China – auf Tour mit einem Musikprojekt. Unter
anderem hatten wir einen Auftritt in meiner Heimatregion geplant, der uns
jedoch wegen des internationalen Casts nicht erlaubt wurde. 2017 ergab sich
eine weitere Gelegenheit für eine Reise, die ich ausschlug, weil ich meine
Sicherheit nicht mehr gewährleistet sah.
Jessica Batke, Sie haben die Performance „Everybody is gone“ über die
Situation der Uigur:innen in China mit Mukaddas produziert, sind aber
hauptberuflich Recherche-Journalistin und Analystin, waren lange im
US-State Department’s Bureau of Intelligence and Research, inzwischen bei
der investigativen und akademisch orientierten Plattform ChinaFile tätig.
Wie kriegen Sie diese zwei Herausforderungen zusammen?
Jessica Batke: Gute Frage. Es ist hart, aber es lohnt sich. Die Arbeit an
der Performance hat nichts mit meinem Job bei ChinaFile zu tun. Als die
Situation der Uigur:innen ab 2017 bedeutend schlechter wurde, suchte ich
nach weiteren Möglichkeiten, darüber zu kommunizieren, was passiert. Der
Theaterkontext erlaubt einen anderen Zugang, ein gemeinsames Erleben –
diese Ebene interessiert mich sehr. Bereits im Prozess einer performativen
Arbeit gibt es viel Kommunikation. Zum Beispiel mit den Schauspieler:innen,
die das erworbene Wissen in deren Umfelder weiter vermitteln.
Waren Sie selbst in der Region Xinjiang?
JB: Ja, ich war mehrere Male dort, zuletzt Ende 2016. Damals arbeitete ich
noch für die US-amerikanische Regierung – in diesem Rahmen hatte ich auch
Uigurisch gelernt – und fühlte mich daher relativ gut abgesichert. Seither
war ich einige Male für meine aktuelle Arbeit in Zentralchina. Auch
außerhalb Xinjiangs fühle ich mich inzwischen jedoch nicht mehr sicher. Ich
würde nicht sagen, dass ich wichtig genug bin, um der chinesischen
Regierung schlaflose Nächte zu bereiten, dennoch wäre ich wahrscheinlich
durch meine Arbeit ein gutes Ziel, wenn es darum geht, ein Exempel zu
statuieren.
Das niederländische Parlament hat die Maßnahmen gegen die Uigur:innen
2021 als Genozid bezeichnet. Der Begriff ist jedoch sehr umstritten. Der
deutsche Sinologe Björn Alpermann spricht von einem „kulturellen Genozid“.
Trifft das die von Ihnen erfahrene Situation?
JB: Kompliziertes Thema. Wir sind keine Menschenrechtsanwälte und denken,
dass es nicht unsere Aufgabe ist, den Terminus zu bestimmen. Es geht uns
darum, darauf aufmerksam zu machen, was passiert, damit klar wird, dass es
aufhören muss. „Kultureller Genozid“ ist, soweit ich weiß, kein im
internationalen Recht definierter Begriff. Was gesagt werden kann: Die
Kultur der Uigur:innen wird zerstört, vor allem durch die Unterbindung
einer Weitergabe zwischen den Generationen. Daher gibt es Kinder, die in
Waisenhäuser verschleppt werden, ist das Uigurisch aus dem Schulunterricht
verschwunden, etcetera.
Welche Art von kulturellem Erbe wird darüber hinaus zerstört?
MM: Es gibt eine lange Liste von Künstler:innen und Intellektuellen, die
in Camps deportiert wurden. Sie gehörten zu den ersten Opfern der
Maßnahmen. Ein Großteil unseres Kulturerbes und Wissens steckt daher nun in
sogenannten Umerziehungslagern. Darüber hinaus werden historische Bauten
und Friedhöfe umfunktioniert. Weiterhin wird zwar ein kleiner Teil des
Liedguts für Repräsentationszwecke erlaubt, allerdings nur, wenn die
dichterischen Inhalte entfernt werden – zum Beispiel all die
jahrhundertealte spirituelle Sufi-Poesie – und die Texte letztlich darauf
hinauslaufen, wie süß die Trauben sind.
Wie gehen Sie selbst mit Ihrem kulturellen Erbe und dem, was Sie als
Ethnomusikologin gesammelt haben, um?
MM: Vor allem durch künstlerische Arbeit. Wenn man zu sehr befürchtet,
etwas zu verlieren und es nur um die Konservierung geht, dann verliert das
Material letztlich seine Lebendigkeit. Die wissenschaftliche Methode hat
mir ein Wissen über das Feldforschungsmaterial, das ich noch aus den Zeiten
besitze, in denen ich mich frei in der Region bewegte, verschafft. Dieses
Wissen vergrößert die Möglichkeiten der Weiterentwicklung.
Gibt es internationale Unterstützung für uigurische Künstler:innen um
ihre künstlerische Praxis zu erhalten?
MM: Nicht, dass ich wüsste. Auch ist die Gefahr, dass es kaum ein
Bewusstsein für zeitgenössische uigurische Kunst in der Welt gibt. Wenn die
Kultur meiner Heimatregion in anderen Ländern sehr gelegentlich präsentiert
wird, dann meist einem folkloristischen Verständnis folgend.
Nach ausschlaggebenden Leaks 2019 und 2022 und darauf folgenden
[3][investigativen Medien-Recherchen] ist die Weltöffentlichkeit über
sogenannte „Umerziehungslager“ für etwa eine Million Menschen, über Folte…
Überwachung, Zwangssterilisation und andere Maßnahmen der chinesischen
Regierung gegen die Uigur:innen informiert. Wie verarbeiten Sie solche
Informationen künstlerisch?
JB: Wenn jemand über die von Ihnen genannten Zustände liest, stellt sich
oft die Frage: Kann das alles wahr sein? Heute noch? Wir bieten dem
Publikum szenische Stationen an, anhand derer es nach eigenem Ermessen das
Ausgeliefertsein an einen Überwachungsstaat erfahren kann. Wir haben uns
jedoch bewusst dagegen entschieden, die Bedingungen in den Camps zu
inszenieren. Aus mehreren Gründen: Es ist schwer, an Informationen
heranzukommen, die Camps sind unterschiedlich und je nachdem, wer du bist
und warum du dort bist, wirst du auch unterschiedlich behandelt.
Daher werden wir diese Erfahrungen nicht generalisieren. Jede Person in der
Region ist jedoch einer permanenten Überwachung und der ständigen Drohung,
deportiert zu werden oder zur Zwangsarbeit eingezogen zu werden,
ausgesetzt. In erster Linie geht es uns um diese Unfreiheit im alltäglichen
Leben und die Auswirkungen auf das Denken und Fühlen.
„Everybody is gone“ ist eine interdisziplinäre Arbeit zwischen Kunst und
Journalismus. Kunst darf mit Suggestion und Affekt viel freier umgehen als
Journalismus. Welche Fallstricke und Möglichkeiten sehen Sie in der
Kombination?
MM: Das ist eine zentrale Frage für uns. Da es sehr schwierig ist,
dokumentarisches Video-Rohmaterial aus Xinjiang zu bekommen, müssen wir die
Realität auf Grundlage von Erzählungen und journalistischem Material
konstruieren. Unsere Szenen sind aufgrund konkreter Quellen entstanden, die
allesamt dem Publikum zugänglich sind. Die künstlerische Arbeit besteht
darin, das Material zum interaktiven Erfahrungsraum zu gestalten, in dem
die Mechanismen der Überwachung spürbar werden – darunter auch solche, die
nicht nur chinaspezifisch sind, sondern Teilen eines deutschen Publikums
ebenso bekannt vorkommen dürften.
26 Jul 2022
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## AUTOREN
Astrid Kaminski
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