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# taz.de -- Chinesischer Dokumentarroman über Corona: Menschen wie Viren behan…
> Liao Yiwus Roman „Wuhan“ beschreibt die desaströse Coronapolitik in China
> – und entwirft ein vielfältiges Bild eines autoritär regierten Landes.
Bild: Erschöpfter Krankenpfleger in Klinik des Viertels Qingshan in Wuhan, Feb…
Seit seiner Flucht aus China vor zehn Jahren lebt Liao Yiwu im deutschen
Exil. Bekannt wurde der chinesische Dichter und Schriftsteller hierzulande
mit „Fräulein Hallo und der Bauernkaiser“. Ähnlich wie die belarussische
Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch hatte er für dieses Buch
in China Interviews zu Themen geführt, die in der chinesischen
Öffentlichkeit tabu sind.
Themen wie die Zeit der Kulturrevolution oder die des „Großen Sprungs nach
vorn“, bei dem schätzungsweise 40 Millionen Chinesen verhungert sind. Wie
Swetlana Alexijewitsch kämpft Liao Yiwu gegen das Vergessen an, will an das
Leid der zahllosen Menschen erinnern, die in die gnadenlosen Mühlen des
Maoismus geraten sind.
Auch Liao Yiwus neues Buch, der Dokumentarroman „Wuhan“, versucht die
Erinnerung an traumatische Ereignisse wachzuhalten. Es sind Ereignisse, die
schon heute, zwei Jahre nach dem Ausbruch der Pandemie in der
zentralchinesischen Millionenstadt Wuhan, durch die [1][systematische
Geschichtsklitterungspolitik der chinesischen Regierung in Vergessenheit zu
geraten drohen]. In einer Mischung aus Fiktion und Dokumentation versucht
Liao Yiwu, Ereignisse, Atmosphäre und die desaströse Politik der
chinesischen Regierung am Anfang der Pandemie anhand von Einzelschicksalen
zu erzählen.
## Beliebte TV-Sendung „Trend-Drehscheibe“
Der Roman beginnt mit Kcriss Li, einem ehemaligen Mitarbeiter des
staatlichen chinesischen Fernsehens, der sich selbst vor Ort ein Bild der
Pandemie machen will. Statt seine erfolgreiche Karriere als Moderator der
beliebten Sendung „Trend-Drehscheibe“ weiterzuverfolgen, bewirbt sich der
1995 geborene Journalist Anfang 2020 auf eine Stellenanzeige in einem
Krematorium von Wuhan.
Dort stellt er fest, dass die Mitarbeiter zahllose Überstunden machen
müssen, um alle eingelieferten Toten verbrennen zu können. Durch eine
Hochrechnung, die die sieben weiteren Krematorien Wuhans mit einbezieht,
stellt er fest, dass die offiziellen Zahlen der chinesischen Regierung zu
den Coronatoten nicht stimmen können.
Am 26. Februar 2020 versucht er dann, an das streng bewachte P4-Virenlabor
in Wuhan heranzukommen. Bis heute kann nicht mit hundertprozentiger
Sicherheit ausgeschlossen werden, dass das Covid-19-Virus in diesem
Hochsicherheitslabor entstanden und durch einen Unfall freigesetzt worden
ist.
## 800 User sehen bei Verhaftung zu
Aber wie die zuvor verschwundenen Bürgerjournalisten Chen Qiushi und Fang
Bin, die über die Anfänge der Pandemie aus China berichtet hatten, wird
Kcriss nach einer Verfolgungsjagd von der Staatssicherheit in seiner
Wohnung verhaftet. Unter Umgehung der sogenannten Firewall, die China vom
weltweiten Internet abschotten soll, sendet er live über Youtube von der
Verfolgungsjagd. Als er sich in seine Wohnung flüchtet und die
Staatssicherheit die Tür aufbricht, um ihn zu verhaften, sehen dabei über
800 chinesische User zu.
Bereits diese erste Szene in Liao Yiwus Roman macht deutlich, wie groß die
Bedeutung von Internet und sozialen Medien trotz der allgegenwärtigen
Kontrolle der Kommunistischen Partei für die kritische Öffentlichkeit in
China ist. Im Land gibt es über 800 Millionen Handyverträge, fast die
gesamte Kommunikation läuft über die App „WeChat“, deren Funktionen eine
Mischung aus Whatsapp, Facebook, Twitter und Paypal ist.
Zwar wird der Dienst, der inzwischen 1,2 Milliarden Nutzer hat, von der
chinesischen Regierung kontrolliert; aber trotz dieser Überwachung (der
jeder über die Allgemeinen Geschäftsbedingungen zustimmen muss) kamen die
Zensoren am Anfang der Coronapandemie mit der Löschung von Beiträgen und
Accounts nicht hinterher. So konnten Stimmen wie die von Kcriss oder die
des Arztes Li Wenliang, der bereits am 30. Dezember 2019 über die Gefahren
des Virus auf WeChat warnte, über Kanäle außerhalb des chinesischen
Internets verfügbar gemacht und gerettet werden.
## Die Regierung negiert das Virus
Die eigentliche Geschichte, die Liao Yiwu in „Wuhan“ erzählt, ist jedoch
nicht die von Kcriss Li, sondern die des fiktiven Historikers Ai Ding. Der
Vater einer Tochter stammt aus Wuhan und will während seines einjährigen
Stipendiums in Deutschland zum chinesischen Neujahrsfest für ein paar
Wochen zu seiner Familie nach Hause reisen.
Doch Ai Ding landet genau an dem Tag in Peking, an dem sich die
Coronapolitik der chinesischen Regierung radikal ändert. Statt weiter
abzustreiten, dass überhaupt ein Virus existiert, hatte die kommunistische
Führung einen Tag zuvor die Neun-Millionen-Stadt Wuhan sowie eine Reihe
weiterer Großstädte hermetisch von der Außenwelt abriegeln lassen. Obwohl
Ai Ding aus dem von Corona noch unbetroffenen Europa kommt, wird er auf dem
Weg nach Wuhan in Quarantäne gesteckt.
„Das neue Coronavirus ist unsichtbar, also betrachtet man einfach die
Menschen aus Wuhan und Hubei als Viren“, schreibt er Freunden auf WeChat.
Erst nach einigen Tagen gelingt es ihm, die Erlaubnis zur Weiterreise zu
erhalten. Doch der Weg nach Hause wird aufgrund der inzwischen chaotischen
Situation zur Odyssee. Ai Ding gerät zwischen Checkpoints und sieht sich
absurden lokalpatriotischen Streitigkeiten ausgesetzt.
## Überfüllte Krankenhäuser
Er sieht Menschen auf der Straße an Covid-19 sterben, nachdem keines der
überfüllten Krankenhäuser sie aufgenommen hatte, trifft auf die
Gnadenlosigkeit der lokalen Behörden, aber auch auf Menschen, die ihm
selbstlos weiterhelfen. Nach und nach entsteht so ein vielfältiges Bild vom
Leben in einem autokratisch regierten Land, in der der Pandemiealltag von
Willkür, Korruption und Gewalt geprägt ist.
Lange Zeit schien die dokumentarische Literatur tot zu sein. Der
Auffassung, dass sie authentischer sei als fiktive Geschichten, stand vor
allem das Problem ihrer Lesbarkeit entgegen. Viele Autoren, die
dokumentarisch gearbeitet haben, sind heute vergessen. Nur wenige, wie etwa
Alexander Kluge, sind dem Genre treu geblieben und werden auch heute noch
gelesen. Anfang der 1980er dann erhielt das Genre einen neuen Aufschwung
durch die polnische Journalistin Hanna Krall. Sie hatte ihre Erzählungen
aus Gesprächen mit Überlebenden der deutschen Besatzung in Polen
entwickelt. Der Erfolg ihrer Bücher zeigt, wie wichtig die Literarisierung
von Erinnerungen für deren Weitergabe an nachgeborene Generationen ist.
## Lebendiger und adäquater Ausdruck von Realität
Hanna Krall und Swetlana Alexijewitsch haben ihre Gespräche mit Betroffenen
des Terrors im 20. Jahrhundert literarisch so gut aufbereitet, dass sie
nicht nur das Interesse des Lesers wachhalten, sondern auch ein lebendiger
und im besten Fall adäquater Ausdruck der Realität entsteht. Es ist
engagierte Literatur im besten Sinne. Auch Liao Yiwu reiht sich mit „Wuhan“
in diese Reihe ein, wobei der Anteil der Fiktion in seinem Roman größer ist
als in den Texten der osteuropäischen Autorinnen. Sein Buch ist ein
kunstvolles Patchwork aus Dokumenten, Zitaten aus der chinesischen
Literaturgeschichte und einer Geschichte, die so nicht stattgefunden hat,
aber hätte stattfinden können.
Viele Personen werden in „Wuhan“ beim Namen genannt. Zum Beispiel Ai Fen,
die ehemalige Leiterin der Notaufnahme des Zentralkrankenhauses von Wuhan.
„Sie war die Erste“, schreibt Liao Yiwu, „der die von Li Wenliang
weitergeleitete MAPMI-Test-Diagnose in die Hände fiel, die sie
abfotografierte, die Worte ‚SARS-Corona-Virus‘ rot umkringelte, das in
einer WeChat-Gruppe von Ärzten postete und so deren Verbreitung auslöste.“
Doch die Ärztin wurde von der Krankenhausdirektion zurechtgewiesen: „Sie
sind vom Fach, wie können Sie derart prinzipienlos und derart ohne jede
Organisationsdisziplin derart rufschädigende Gerüchte in die Welt setzen?“
Die autoritären chinesischen Strukturen haben dazu geführt, dass die
drohende Gefahr ignoriert werden konnte, was nicht nur zu einer Katastrophe
für China, sondern in erheblichem Maß auch zur Verbreitung des Virus in der
ganzen Welt beitrug. Hätte die chinesische Staatsführung (und die WHO) den
Warnungen von Ärzten wie Li Wenliang und Li Fen ernst genommen, das Virus
hätte das Land mit einiger Wahrscheinlichkeit erst gar nicht verlassen.
Li Wenliang starb mit 33 Jahren an Corona. „Wuhan“ ist auch ein Denkmal für
ihn. Der Trauerzug zu seiner Beerdigung fand im Netz statt. „In die
Realität verlegt“, schreibt Liao Yiwu, „wäre dieser Trauerzug für einen
Whistleblower weitaus imposanter gewesen als 1976 für Mao Zedong. Mit dem
alten Mao war ein Gott gestorben, mit dem jungen Li ist ein Herz gestorben,
und zwar das Herz all derer, die die Epidemie quälte und die ihn als
ihresgleichen betrauerten.“
11 Apr 2022
## LINKS
[1] /Coronamassnahmen-in-China/!5827737
## AUTOREN
Fokke Joel
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