# taz.de -- Buch zur chinesischen Kulturrevolution: Umerzogene Subjekte | |
> Der chinesische Schriftsteller Wang Xiaobo erzählt in „Das Goldene | |
> Zeitalter“ satirisch vom Albtraum der Kulturrevolution. | |
Bild: Chinesisches Propagandaposter von 1971 | |
Eines Tages, während der chinesischen Kulturrevolution, kommt die junge | |
Ärztin Chen Qingyang den Berg ins Tal hinunter, wo der Student Wang Er, der | |
Held und Erzähler aus Wang Xiaobos Roman „Das Goldene Zeitalter“, in einer | |
landwirtschaftlichen Kooperative arbeiten muss. Wang Er hatte Chen Qingyang | |
nur einmal kurz gesehen, als er hinaufgegangen war, um sich von der Ärztin | |
eine Spritze gegen die Schmerzen seines von der ungewohnten Feldarbeit | |
geschundenen Rückens geben zu lassen. | |
Sie bittet ihn, öffentlich zu erklären, dass sie kein „ausgelatschter | |
Schuh“ ist. Denn das sei sie nicht. Doch Wang Er enttäuscht Chen Qingyang. | |
Seiner Erfahrung nach wäre die Wahrheit im Falle eines Gerüchts irrelevant. | |
„Wenn du nicht als ausgelatschter Schuh gelten willst, musst du dir dein | |
Gesicht schwarz machen und dafür sorgen, dass deine Brüste hängen, dann | |
erzählen die Leute auch nicht mehr, dass du ein ausgelatschter Schuh bist. | |
Das wäre allerdings kein gutes Geschäft für dich. Besser wäre es, wenn du | |
mit einem anderen Mann schläfst, dann kannst du dich selbst mit bestem | |
Gewissen als ausgelatschten Schuh bezeichnen.“ Shen Qingyang wird rot, | |
schweigt und geht. | |
## Gescheiterter Annäherungsversuch | |
Dann aber taucht sie ein zweites Mal bei Wang Er auf und sagt, es würde nun | |
behauptet, sie hätte eine Affäre mit ihm, die könne er doch überzeugend | |
abstreiten. Wang Er, der noch Jungfrau ist, macht einen weiteren | |
Annäherungsversuch bei Shen Qingyang und bekommt daraufhin von ihr eine | |
geknallt. | |
„Natürlich wollte ich ihre Anatomie studieren, keine Frage, aber mit ihrer | |
Erlaubnis. Wenn sie damit nicht einverstanden war, hätte sie es ja sagen | |
können. Mich zu schlagen, war jedenfalls nicht fair. Sie lachte laut auf | |
und sagte, sie könne den Anblick dieses Dingsda an meinem Körper nicht | |
ertragen. Sich dieses alberne, peinliche Dingsda ansehen zu müssen, bringe | |
sie in Rage.“ | |
„Das Goldene Zeitalter“ war in China ein Bestseller. Es überrascht deshalb, | |
dass der satirische Roman über die Zeit der Kulturrevolution, der im | |
Original bereits 1992 erschienen ist, erst jetzt übersetzt wurde. Dabei hat | |
Wang Er, den Wang Xiaobo mal in der Ich-Form auftreten lässt, mal von ihm | |
als allwissender Erzähler erzählt, als jugendlicher Rebell durchaus | |
Entsprechungen in der westlichen Literatur. | |
## Verlogenheit des Establishments | |
Es ist die Verlogenheit und Heuchelei des Establishments, von Eltern und | |
Gesellschaft, die Wang Xiaobo mit seinem Roman in Frage stellt und die gibt | |
es in allen Kulturen. Aber vielleicht verhindern hierzulande ambivalente | |
Gefühle gegenüber dem Land der Mitte, das inzwischen einen großen Teil der | |
Gegenstände unseres Lebens produziert, während es gleichzeitig wegen seiner | |
Geopolitik sowie seines autokratischen Führungsstils als Bedrohung | |
wahrgenommen wird, dass mehr chinesische Literatur übersetzt wird. | |
[1][Wang Xiaobo,] der 1997 im Alter von nur 44 Jahren starb, konnte „Das | |
Goldene Zeitalter“ zunächst nur in Taiwan veröffentlichen. Zu sehr hatte er | |
dem Großen Vorsitzenden und seinen Anhängern mit seinem Roman ans Bein | |
gepinkelt. Erst einige Jahre nach seinem Tod wurde das Buch auch in der | |
Volksrepublik gedruckt, wo Wang Xiaobo, wie die Übersetzerin Karin Betz im | |
Nachwort schreibt, „unter jungen chinesischen Intellektuellen [2][der | |
Post-Tiananmen-Generation] und in der chinesischsprachigen Welt außerhalb | |
der Volksrepublik“ bereits zu einem gefeierten Kultautor geworden war. | |
Vieles in „Das Goldene Zeitalter“ ist autobiografisch und der Autor wurde | |
wie sein Alter Ego zwei Jahre lang in die Provinz gezwungen, um sich „in | |
der Produktion zu bewähren“. Das geschilderte stürmische Liebesleben von | |
Wang Er dagegen ist wohl Fiktion. Wang Xiaobo war von 1980 bis zu seinem | |
Tod mit der Sexualforscherin und LGBT-Aktivistin Li Yinhe verheiratet, mit | |
der er 1991 die erste ernsthafte Studie über Homosexualität in China | |
veröffentlichte. | |
Leid und Opfer der Kulturrevolution, die konservativen Schätzungen nach | |
zwischen 1967 und 1976 über eine Million Tote gefordert hat, sind in „Das | |
Goldene Zeitalter“ überall präsent. Im zweiten Teil des Romans, in dem Wang | |
Er an seine Universität nach Peking zurückkehrt, springt ein alter | |
Professor aus dem vierten Stock in den Tod. Ob dabei jemand nachgeholfen | |
hat, wird nie aufgeklärt, weil eine Obduktion der Leiche nicht durchgeführt | |
wird. | |
## Albtraum der Kulturrevolution | |
Sarkastisch beschreibt Wang Xiaobo die Fesselungen und das öffentliche | |
Zurschaustellen von Wang Er und Chen Qingyang. Oft lauert der Albtraum der | |
Kulturrevolution, von der insbesondere Akademiker betroffen waren, hinter | |
vermeintlich lustigen Geschichten. Größenwahn und Absurdität der | |
Umerziehungsidee, bei der Studenten und Professoren ganzer Universitäten | |
von einem Tag auf den anderen zur Landarbeit in die Provinz geschickt | |
wurden, wird im Roman überall deutlich. | |
[3][Liao Yiwu, der seit 2011 im deutschen Exil lebt,] hat das Leid der | |
Opfer von Kulturrevolution und „Großer Sprung nach vorn“ beeindruckend in | |
„Fräulein Hallo und der Bauernkaiser“ erzählt; Basis seiner Erzählungen | |
waren dabei Interviews mit Betroffenen. [4][Can Xue, von der gerade | |
parallel bei Matthes & Seitz faszinierende Erzählungen unter dem Titel | |
„Schattenvolk“ erschienen sind,] erzählt in von Kafka und Borges | |
inspirierten rätselhaft-fantastischen Dystopien von Alltag und Gewalt in | |
China. | |
Wang Xiaobo hat mit „Das Goldene Zeitalter“ die Satire gewählt, bei der es | |
viel zu lachen gibt, aber bei der dem Leser das Lachen auch oft im Halse | |
stecken bleibt. Es ist ein anderer, aber nicht weniger überzeugender Weg, | |
die Wirklichkeit zu vermitteln, ihr einen Ausdruck zu verleihen. | |
4 Nov 2024 | |
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## AUTOREN | |
Fokke Joel | |
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