| # taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Kleinbürger und wütende Jugend | |
| > Was ist 60 Jahre nach Gründung der Volksrepublik China und 20 Jahre nach | |
| > dem Tian'anmen-Massaker aus den literarischen Stereotypen der Revolution | |
| > geworden? Ein Beitrag zur Buchmesse. | |
| Bild: Peking, 1966: Inszenierter Enthusiamus | |
| Von sechs Uhr nachmittags bis tief in die Nacht wurde der Thread im | |
| Internetforum "Jugendthema" bei www.cyol.net immer facettenreicher: "Man | |
| muss auch was vom Kaffeetrinken verstehen", schrieb jemand mit einem | |
| weiblich klingenden Nickname. Kaffeetrinken ist eins von mehr als hundert | |
| Merkmalen, die bei dieser Diskussion 1999 zusammengetragen wurden und nach | |
| denen unterschieden wurde, wer zur "petite Bourgeoisie" (xiaozi) in China | |
| zu rechnen sei und wer nicht. Zu den Wesenszügen des schicken | |
| "Kleinbürgertums" gehörten vor allem Sentimentalität, umschrieben als | |
| "Empfindsamkeit", und ein genussvoller Lebensstil. Zu den | |
| Ausschlusskriterien zählte die Bereitschaft, sich über öffentliche Belange | |
| aufzuregen, vor allem politische. Wer sich fürs Gemeinwohl engagiert, | |
| erhielt die Gruppenbezeichnung "wütende Jugend" (fenqing), egal wie alt er | |
| oder sie sein mochte. | |
| Kaum jemand von den tausenden Teilnehmern an dem Forum hat in den folgenden | |
| drei Monaten je danach gefragt, woher diese Stereotype kommen; und kaum | |
| einer der zumeist jungen Netizen wusste, dass die aufgelisteten Merkmale | |
| der beiden Gruppen xiaozi und fenqing nahezu identisch dem Revolutionsroman | |
| "Das Lied der Jugend" aus den 1960er-Jahren(1) entlehnt sind: | |
| In diesem Roman erzählt die Autorin Yang Mo von einem sentimentalen, | |
| gütigen Mädchen namens Lin Daojing, das ein auf ästhetischen Genuss | |
| gerichtetes, urban beschauliches Leben führt. Daojing verliebt sich in | |
| einen europäisch geprägten, melancholischen Akademiker und entdeckt bald, | |
| wie hohl, falsch und egoistisch dieser Kleinbürger in Wirklichkeit ist. Und | |
| gut maoistisch erfährt die tief Enttäuschte durch eine neue Liebe zu einem | |
| Revolutionär ihre seelische Wiedergeburt und mausert sich im gemeinsamen | |
| Kampf zur Idealfigur einer für Gerechtigkeit einstehenden, wütenden und | |
| allen Belanglosigkeiten entsagenden Jugend. | |
| Die Umkehrung der Werte über dreißig Jahre nach dem Ende der | |
| Kulturrevolution scheint auf den ersten Blick logisch. 1999 gab es in China | |
| schon seit Jahren die kapitalistische Reform und für Chinas Intellektuelle | |
| galt das neue Credo: Alles ist erlaubt, nur keine Revolution mehr. | |
| Gerade das brutale Ende der friedlichen Studentenbewegung von 1989 legte | |
| nahe, dass kollektive Revolutionsversuche jedweder Couleur hoffnungslos | |
| seien, zudem untauglich für die Ausprägung von Individualität. Es | |
| verwundert also kaum, dass zehn Jahre nach dem nationalen Trauma vom Platz | |
| des Himmlischen Friedens erste Stimmen laut wurden, die den - erzwungenen - | |
| Rückzug ins Private als selbstbewusste Suche verklärten. Kein Revolutionär | |
| sein hieß: Niemand soll sich mehr für das Gemeinwohl ins Zeug legen. | |
| Das Private, das mit dem ersten materiellen Wohlstand auch bezahlbar wurde, | |
| bekam den Heiligenschein des bürgerlich Individuellen verliehen. Jedenfalls | |
| im Internet. Dort präsentierten sich Angehörige des xiaozi als | |
| individualistische Einzelkämpfer, profiliert durch ihre spezielle | |
| Automarke, ihre spezielle Weinsorte, ihre speziell wechselnden Liebes- | |
| beziehungsweise Lustentscheidungen und überhaupt Spezielles in allen | |
| Aspekten des Lifestyles; jeder für sich und fast schon autistisch auf sich | |
| selbst bezogen. | |
| Wie ein Gegenentwurf zu Yang Mos revolutionärem "Lied der Jugend" mutet der | |
| Sittenroman "Shanghai Baby"(2) an, der im Jahr 1999 erschien, als die | |
| Netizen eifrig ihr xiaozi-Gruppenbild im Internet designten. Akribisch | |
| listet die Autorin Wei Hui darin auf, worauf ihre Heldin, eine auf Sex | |
| fixierte Emanze, stolz ist. Vor allem sind das Utensilien, die ihr letzter | |
| Liebhaber, ein Deutscher mit ungestümer Libido, hinterließ: eine Dose | |
| Nescafé, eine Zigarillo-Etui aus argentinischem Kalbsleder, eine | |
| Ikea-Sitzgarnitur und so weiter. | |
| Doch diese Internetdebatte samt ihrer literarischen Radikalisierung qua | |
| Skandalroman gehört bereits der Vergangenheit an. Kaum jemand bezeichnet | |
| sich noch gern als xiaozi, obwohl das Gegenbild der fenquing erhalten | |
| blieb. Leidenschaftlich attackierten diese 2008 die westlichen Medien wegen | |
| der Berichterstattung über den Olympia-Fackellauf. Die "Bourgeoisie" nahm | |
| kaum Anteil an der massiv bekundeten politischen Passion - bis Vertreter | |
| der "wütenden Jugend" anregten, die französische Supermarktkette Carrefour | |
| in China zu boykottieren. Prompt kam die Ablehnung: Rote Fahnen in Paris | |
| entlang den Laufrouten schwenken, Droh-E-Mails an ausländische | |
| Korrespondenten in Peking schicken - das war irgendwie okay. Nicht mehr bei | |
| Carrefour shoppen zu gehen - das war zu viel, wenn man nicht zu den | |
| Vollidioten gehören wollte, die sich gegen eine urbane, zivilisierte | |
| Bürgerlichkeit stellten. | |
| Das Verhältnis der KP zu beiden Identitätsbildern ist gespalten. Die Partei | |
| war schließlich ebenso Urheberin der nunmehr fast verachteten Revolution | |
| wie Urheberin für deren Ersatz: das materielle Aufstreben des Einzelnen und | |
| den nationalen Zusammenschluss. Auch wenn bereits 1991, nach dem | |
| August-Putsch in Moskau, die chinesische KP-Führung geschworen hatte, aus | |
| der Revolutionspartei eine Regierungspartei zu machen, auch wenn sie bis | |
| 1999 unter Jiang Zemin dreimal das US-amerikanische Forbes-Forum zum Thema | |
| "Wie werde ich reich" ausrichten ließ: Aus dem Dilemma, einerseits die | |
| städtische Mitte als Machtbasis für sich zu gewinnen, ohne andererseits die | |
| ärmeren Schichten um Revolutionsverheißungen wie Gerechtigkeit zu prellen, | |
| kann sie nicht entkommen. Verstrickt in dieses Paradoxon, leidet sie als | |
| Kaderpartei zudem propagandistisch unter einem Mangel an glaubwürdigen | |
| Heldengestalten, die die Leistungen der Partei "verkörpern", wie sie | |
| während der revolutionären Phasen - zumeist literarisch - produziert | |
| wurden. Was für Leistungen das sind und von welchen Charakteren sie | |
| dargestellt werden könnten, ist bis dato eine ungelöste Frage. | |
| 2004 startete das Chinesische Zentrale Fernsehen (CCTV) einen gewagten | |
| Versuch: Es betraute den bekannten Autor Eryue He damit, aus dem | |
| historischen Roman des taiwanesischen Schriftstellers Gao Yang "Hu Xueyan, | |
| Kaufmann mit roter Hutschleife" ein Drehbuch für eine vierzigteilige Serie | |
| zu machen. Das vorsichtige Kalkül der KP-Propagandaabteilung: Es war ja | |
| nicht so, dass ein festlandchinesischer Schriftsteller, schon gar keiner | |
| mit Parteibuch, einen Antihelden gegen die marxistische Lehre kreieren | |
| sollte. Eryue He war nur Interpret. Im Zweifelsfall war eben der Taiwanese | |
| der Sünder. | |
| Der Romanheld Hu Xueyan ist eine historische Figur, aber er lebte vor den | |
| Zeiten der ideologischen Revolutionen von 1927 bis 1949. Und ihm haftete | |
| nicht der Stallgeruch der Ausbeuterklasse an, denn der heldenhafte Kaufmann | |
| war kein reicher Erbe, sondern arbeitete sich vom Gehilfen eines | |
| Pfandleihers in die Position eines modernen Bankiers empor. Derart nach | |
| allen Seiten abgesichert, mixte Eryue He die passende Heldenidentität. Aus | |
| einem innerlich zerrissenen Besitzbürger à la Thomas Buddenbrook wurde ein | |
| durchtriebener Altruist. Nicht die Gier, sondern die Erkenntnis der | |
| sozialen Not motiviert nun Hu, nach Geld zu jagen. Nicht der Instinkt, mit | |
| dem jeder Bankier sein Tagesgeschäft gegen die Konkurrenz betreibt, beseelt | |
| ihn, sondern der Wunsch, das himmelschreiende Unrecht mit eigenen Waffen zu | |
| schlagen. | |
| Bei so viel "Leistung" sei dem Helden ein wenig Extravaganz erlaubt - | |
| Protz, Konkubinen und Vetternwirtschaft. Am Ende scheitert der tragische | |
| Held, aber nicht, weil er sich verspekuliert hätte wie Thomas Buddenbrook | |
| mit seinem Getreide. Nein, Hu finanziert aus Patriotismus den kaiserlichen | |
| Krieg in Xinjiang gegen die rebellischen Uiguren, hinter denen russische | |
| Imperialisten stecken; sein Weggefährte, General Zuo, lässt den Kaufmann im | |
| Stich und zahlt das für den Sold der Soldaten geliehene Geld nicht zurück. | |
| Hu scheitert, so will's der Maoismus, letztlich an Chinas gierigen | |
| Kapitalisten im Bunde mit noch gierigeren westlichen Geldhäusern, die in | |
| ihm das größte Hindernis sehen, den chinesischen Markt unter sich | |
| aufzuteilen. | |
| Während die parteiideologische Unterhaltungsindustrie die "Leistungen" der | |
| Neureichen mit hermeneutischer Akrobatik verkauft, tun sich die wahren | |
| Revolutionsautoren schwer. Etwa die Autorin Zhang Jie. Seit Anbeginn ihrer | |
| literarischen Laufbahn hat sie wider die Falschheit der Bourgeoisie und die | |
| Ausbeutung angeschrieben. Dieselben nun entsprechend dem schnelllebigen | |
| Zeitgeist wieder zu schätzen, fällt ihr schwer - zumal Chinas | |
| Intellektuelle um 2003 begannen, die "Erbsünde" des Kapitalismus neu zu | |
| debattieren. Literarische Reportagen wie der "Bericht über Chinas Bauern" | |
| (Chen Guidi und Wu Chuntao, 2000)(3) und "Wovon soll sich unser Volk noch | |
| ernähren" (Zhou Qing, 2004)(4) deckten die Misere der neuen industriellen | |
| Gesellschaft auf: die Ausbeutung der Landbewohner oder die | |
| Lebensmittelskandale, an denen das Besitz- und Leistungsbürgertum nicht | |
| weniger beteiligt ist als der korrupte Parteiapparat. | |
| Für Zhang Jie oder jemanden wie den ehemaligen Kulturminister und | |
| Romanschriftsteller Wang Meng wurde die Überzeugung, dass epische Fiktionen | |
| die gesellschaftliche Realität wie Seismografen widerzuspiegeln haben, zur | |
| Last. Zhang Jie hat nicht die Unverfrorenheit, die neue Bürgerlichkeit als | |
| Grundlage eines breiten Fortschritts zu feiern, und ebenso wenig wagt sie | |
| es, der Emanzipation von der Bürgerlichkeit, also der "Revolution", treu zu | |
| bleiben. Mit ihrem Roman "Ohne ein einziges Zeichen" (2006) gestaltet Zhang | |
| Jie(5) die seelischen Wirren einer gespaltenen Persönlichkeit. | |
| Ihre Romanheldin, die Schriftstellerin Wu Yun, längst von der Revolution | |
| desillusioniert, glaubt an die Emanzipation nach bürgerlichem Ideal: an die | |
| monogame Liebesehe, die allen Verführungen durch Geld oder Macht lebenslang | |
| standhielte. So, wie es einst das "Lied der Jugend" gepredigt hatte. Doch | |
| ihr Mann, ein kriegserprobter Geheimdienstler der KP im Ministerrang, | |
| enttäuscht sie: Der hartgesottene Revolutionär neigt zu freier Liebe, ist | |
| ein Machtmensch und Macho. Im Laufe der kapitalistischen Wirtschaftsreform | |
| verblassen seine Verdienste zusehends. | |
| Die Parabel ist komplex: Um die Bourgeoisie als Feind der alle befreienden | |
| Revolution zu qualifizieren, bemühten sich die Revolutionsautoren | |
| jahrzehntelang, das Bürgertum zu diskreditieren: als durch und durch bigott | |
| und wankelmütig. Der Antibürger hingegen bleibt standhaft, wenn nicht gar | |
| eisern, in der Liebe wie in der Revolution. Bis sie ihn zwingt, aus | |
| derselben Prinzipientreue heraus die Liebe aufzugeben. | |
| In drei Bänden spart die Revolutionsautorin Zhang Jie nicht mit gut | |
| recherchierten Einzelheiten über die Gehirnwäsche, der sich Wu Yun und ihr | |
| Mann während der revolutionären Säuberungskampagnen unterziehen, auch im | |
| Zuge der Kulturrevolution. Die Revolution, findet die Romanheldin, zwingt | |
| ihre Helden zur Heuchelei. Wenn selbst der höchst vertrauenswürdige | |
| Geheimdienstler der KP als Ergebnis dieser Gehirnwäsche beim Tanzen keine | |
| Empfindungen für die in Hauchnähe schwebende Schönheit zeigt, sondern das | |
| richtige Gesicht für irgendeinen in der Nähe lauernden Aufpasser macht: | |
| Wäre nicht doch das Bürgerliche, das die Revolution mit solcher Strenge | |
| bekämpft, die wahre, freie Liebesempfindung ohne Posen? | |
| Jene Liebe mag egoistisch sein. Aber hat die in der Revolution inflationär | |
| missbrauchte Allegorie "die Liebe zur Revolution gleicht der ewigen Liebe | |
| zwischen Mann und Frau" noch irgendetwas Freies, wenn diese Liebe | |
| besitzergreifend und notorisch-hysterisch wird, ähnlich wie die Revolution | |
| gegenüber Revolutionären? Auf diese Parabel mit Fragezeichen erhält Zhang | |
| Jies Romanheldin keine Antwort. Sie landet in der Psychiatrie. | |
| Draußen - jenseits kleinbürgerlichen Internetgeflüsters, jenseits medial | |
| aufgepeppter Lobpreisungen des Besitzbürgertums und jenseits einer über das | |
| Sein oder Nichtsein wahrer Befreiung reflektierenden Revolutionsliteratur - | |
| formiert sich seit 2000 eine Alternativszene, die immer mehr den Anspruch | |
| erhebt, das Bürgerrechtliche als das eigentlich Bürgerliche zu zeigen. Aus | |
| der Perspektive der Revolutionsopfer jeglicher Couleur wird hier das | |
| unterdrückte Bürgerliche erzählt und neu erfunden. Doch auch die Opfer | |
| können sich auf keine verbindliche Gestalt des Bürgerlichen einigen. | |
| Das Vergangene vergeht nicht wie Rauch | |
| In einem Erzähl- und Essayband von 2004 zeichnet die Autorin Zhang Yihe6 | |
| die Lebensbilder von kulturellen und politischen Größen außerhalb der | |
| kommunistischen Bewegung nach. Zum Teil stark idealisierend beschreibt sie | |
| diese Elite als aufgeklärt, gebildet, kosmopolitisch und doch in der | |
| chinesischen Kultur tief verwurzelt: Diven der Peking-Oper, Kalligrafen, | |
| Siegelschneider, Maler oder Wissenschaftler pflegen in ihrer Umgebung eine | |
| kunst- und geistvolle Konversation. Das für sie Selbstverständliche aber | |
| bringt diesen Großbürgern viel Leid unter einem sie zutiefst demütigenden | |
| Zwangsregime. | |
| In Zhang Yihes Memoiren findet sich keine Spur von der viel gescholtenen | |
| "Ausbeutung". Hier wenden sich die Großbürger auch nicht von der sozialen | |
| Not in China ab. Im Gegenteil, sie suchen Anschluss an die Erneuerung | |
| Chinas, bieten sich unterwürfig als ideologisch umerziehbar und für die | |
| neue Gesellschaft nützlich an und geben sich größte Mühe, ihr Wesen zu | |
| begreifen. Am Ende lernen sie: Sie sind und bleiben Fremde, nicht mehr zu | |
| retten und doch gerettet. In gesicherter Verzweiflung dürfen und müssen sie | |
| sich nicht mehr beweisen, weder durch Eigentum, das ideologisch verfemt und | |
| ihnen sowieso genommen wurde, noch durch Leistung. Solange die | |
| Ausgegrenzten am Leben gelassen, solange sie nicht als Zielscheibe für die | |
| Massen hervorgezerrt werden, gehen sie ihren eigenen Dingen nach: Die Diven | |
| geben Privatkonzerte, Kalligrafen tauschen sich im kleinsten Kreis aus, | |
| dazu gesellen sich die Überreste der Mandschu-Aristokratie in stilvoll | |
| gestalteten Höfen, von denen es in der alten Hauptstadt Peking einst so | |
| viele gab. | |
| Das Novum bei der Entdeckung des Großbürgertums als Opfer der Revolution | |
| ist nicht allein seine charakterliche Rehabilitierung. Bei Zhang Yihe | |
| verstecken die Großbürger auch ihre politischen Ambitionen nicht. Die 1957 | |
| während der Kampagne gegen die Rechtsabweichler in Ungnade gefallenen | |
| Führungsfiguren der Blockparteien, zu denen Zhang Yihes Vater Zhang Bojun | |
| gehörte, befragen gemeinsam die Vergangenheit: Ab wann war der Spuk der | |
| kommunistischen Diktatur in China nicht mehr zu stoppen? Warum haben sie, | |
| die Politiker der "demokratischen Parteien", so lange versucht, mit dem | |
| Teufel zu paktieren, in dem Glauben, die Kommunisten unter Mao würden ihr | |
| erklärtes Ziel der Demokratisierung Chinas irgendwann verwirklichen? Auf | |
| solche unter Hausarrest geflüsterten Unterredungen folgt dann im Buch stets | |
| ein großes Essen, mit höfischer Kochkunst und Peking-Oper-Darbietung. | |
| Betrogene Revolutionäre oder unterdrückte Großbürger kümmern den Romancier | |
| Wang Xiaobo (1950-1997) herzlich wenig. Im Roman "Das goldene Zeitalter" | |
| (1996)(7) gab er einer urbanen Generation eine Stimme, die einen Ausweg aus | |
| der Dichotomie "Revolution versus Bourgeoisie" sucht. Ihre Strategie heißt: | |
| seelische Entpolitisierung durch Sinnenrausch. Der Held heißt in den | |
| diversen Episoden des Romans immer "Wang'er" (gleich dem deutschen Meier | |
| oder Schmidt), aber er hat immer ganz unterschiedliche Lebensläufe. Egal | |
| aber welches Leben es ist, wie verwoben auch immer mit ideologischen | |
| Massenbewegungen in die eine oder die andere Richtung: Wang'er folgt seinen | |
| Sinnen, und alles andere prallt an ihm ab, ist für ihn bloße Kulisse eines | |
| grandios absurden Welttheaters. | |
| 1974 zum Beispiel überredet Wang'er die schöne Landärztin Chen Qingyang mit | |
| kühnen Worten zum Sex. Dafür nimmt er in stoischem Gleichmut den Titel | |
| "schlechtes Element" in Kauf und geht als solches - begleitet von der | |
| "Hure" Chen Qingyang - durchaus amüsiert zu der Massenkundgebung, auf der | |
| die beiden öffentlich geschmäht werden sollen; als biete er auf Bestellung | |
| "ein Abendprogramm für gelangweilte Dörfler und aufgegeilte Kader". Um | |
| danach wieder mit Chen Qingyang "unsere grandiose Freundschaft körperlich | |
| zu zelebrieren, denn Paarung mit Eheglück steht uns ja nicht zu". | |
| 1975 wird ein anderer Wang'er wegen einer freundschaftlichen Rauferei als | |
| Übeltäter abgestempelt und dem Psychoterror einer Sekretärin des | |
| Kommunistischen Jugendverbands ausgeliefert. Wie ein Dackel "joggt Wang'er | |
| hinter dem Fahrrad von X-Haiying hinterher", so schnurgerade aufrecht, wie | |
| es nur Laufprofis können, und plärrt eine Melodie aus der Oper "Aida" so in | |
| den schneidenden Wind hinein, dass niemand, auch nicht Wang'er selbst, ein | |
| Wort davon versteht. Genauso wenig versteht er, warum er kurze Zeit später, | |
| im Mai, mit der von ihm so innig gehassten X-Haiying ins Bett steigt. | |
| Vielleicht weil die Qual so unentrinnbar ist, dass ihm nichts anderes übrig | |
| bleibt, als sich in die Qual selbst zu verlieben …" | |
| In den 1990er-Jahren verwehrt ein US-Professor dem angehenden Mathematiker | |
| Wang'er die Mitarbeit an der Entwicklung einer sensiblen Software, wobei | |
| dieser akademische Kapitalist seine billige Arbeitskraft aus Fernost sonst | |
| gern ausbeutet. Das Rechengenie rächt sich, indem es seine Teilprogramme | |
| mit Cao Ni Ma (motherfucker) 1, Cao Ni Ma 2 bis Cao Ni Ma X | |
| durchnummeriert: "Dichter bin ich, Fantast! Immer schon, während der | |
| Kulturrevolution, als ich für Rotgardisten zeitgemäße Waffen konstruierte; | |
| jetzt erst recht. Aber der blutleere Kapitalismus duldet nun mal keine | |
| Dichtung, so what!" | |
| Lange traf Wang Xiaobo mit seiner scheinbar apolitisch witzelnden jungen | |
| Figur den Nerv der modernen Städter. 2008, elf Jahre nach seinem Tod, fand | |
| Wang'ers fiktiver Gag mit dem US-Professor eifrige Nachahmer, als Chinas | |
| Netizen den Aufstand gegen die staatliche Internetzensur probten. Sie | |
| kreierten die Flash-Figur "cao(Gras)-ni(Schlamm)-ma(Pferd)" (motherfucker), | |
| die gegen die misstrauischen Apparatschiks, dargestellt als "hexie" | |
| (Harmonie, auf Chinesisch gleichlautend wie Flusskrebs), in die virtuelle | |
| Schlacht zieht. Die Internetjugend wirkt bei alledem eher belustigt denn | |
| verbittert und schon gar nicht wütend. | |
| Doch Wang Xiaobos romantisierende Lesart liberal-privater Bürgerlichkeit | |
| findet umso weniger Zustimmung, je mehr Chinas neoliberales | |
| Wirtschaftswunder implodiert und je mehr die Bürgerrechtler ihre | |
| gesellschaftlichen Forderungen in und außerhalb Chinas auf der Grundlage | |
| des humanistischen Wertekanons formulieren. Besonders in der jungen | |
| Exilliteratur findet das neue Verständnis des Bürgerrechtlichen seine | |
| mitunter scharfe Formsprache - ganz im Stil einer "wütenden Jugend", wie | |
| sie sich im Roman von Ma Jian(8) "Peking-Koma" (2008) aus dem Londoner Exil | |
| zu Worte meldet. | |
| Ma Jians Romanheld, Dai Wei, ist Student. Auf dem Platz des Himmlischen | |
| Friedens hat er 1989 für Bürgerrechte demonstriert und wurde mit einer | |
| Maschinengewehrkugel ins Wachkoma geschossen. Quasi aus dem Sterbebett | |
| heraus beobachtet der für tot gehaltene Dai, wie China immer | |
| bürgerlich-kapitalistischer wird und der Mensch immer mehr seine Würde | |
| verliert. Fast plakativ wählt Ma Jian den 1. Juli 1997 als Datum der | |
| Handlung: An diesem Tag kehrte Hongkong unter Chinas Hoheit zurück. Der | |
| Roman schildert die Staatsfeierlichkeiten, bei der die jungen Menschen | |
| weniger aus Überzeugung denn in nationaler Massenhysterie johlend | |
| mitfeiern. | |
| Derart euphorisiert und vom Alkohol berauscht, entdeckt einer der Feiernden | |
| den Komapatienten und missbraucht ihn sexuell. "Das war fantastisch! Ich | |
| wusste gar nicht, dass lebende Leichen einen Steifen kriegen können. Jetzt | |
| blase ich dir jeden Tag einen." Und Ma Jian lässt den Wachkomapatienten | |
| denken: "Die wilden Schreie der Menschen draußen hallen immer noch durch | |
| die Nacht. Lichtblitze von Feuerwerkskörpern und Knallfröschen, die vor | |
| meinem Fenster explodieren, zucken über meine trockenen, schrumpeligen | |
| Augenlider. (...) Obwohl mein Körper nur noch ein verrotteter Haufen | |
| Knochen ist, klammert er sich nach wie vor an diese Welt. Der Tod ist eine | |
| ewige Straße geworden, deren Ende ich nie erreichen werde. Mein Sperma, der | |
| einzige Beweis meiner Lebendigkeit, erregt und erniedrigt mich zugleich. Es | |
| hat meinen Körper verlassen und klebt jetzt zwischen Xue Qins Zähnen … Was | |
| war dies für ein jämmerlicher Tag!" | |
| Noch findet die Exilliteratur aus China im Land selbst kaum Beachtung. Das | |
| neue "Bürgerliche" erscheint widersprüchlich, wie das Selbstbild der | |
| Schreibenden und der Leserschaft in den Städten. Klar ist, dass dieses wie | |
| auch immer definierte "Bürgerliche", sich in der modernen Erzählliteratur | |
| Chinas über ihr Verhältnis zur "Revolution" definieren müsste - weniger zur | |
| ideologisch-kommunistischen Revolution als zur | |
| kollektivistisch-erzieherischen oder nationalistischen, die Chinas | |
| Nomenklatur als neues Ziel propagiert: China müsse aufsteigen. Genauso der | |
| chinesische Mensch. | |
| Bezeichnend für dieses neue Ziel und für seine breite Akzeptanz unter | |
| städtischen Lesern ist der Bestsellerroman von Jiang Rong(9) "Der Zorn der | |
| Wölfe" (2004). Hauptfigur darin ist ein Städter, der während der | |
| Kulturrevolution zur Umerziehung, also zur Zwangsarbeit in die Innere | |
| Mongolei geschickt wird. Der junge Mensch lernt die weite Steppe kennen. Er | |
| lernt, dass die chinesische Rasse für ihren Aufstieg in der Welt das | |
| Fabeltier Drachen zu ihrem Totem gemacht hat und dass dies für ihren | |
| Aufstieg in der Welt ein Hindernis, ein Fehler im kulturellen Erbgut ist; | |
| während die Mongolen das reale Raubtier Wolf verehren: | |
| "Das Wolfstotem ist älter als der Konfuzianismus der Chinesen. Es ist | |
| dauerhafter und hat mehr Kraft. Viele Ideen im Gedankengebäude des | |
| Konfuzianismus, etwa die drei Pflichten und die fünf Tugenden, sind längst | |
| veraltet, während der Geist des Wolftotems so jung und lebendig ist wie | |
| ehedem, weil er von den vorzüglichsten Völkern der Erde weitergetragen | |
| wurde." | |
| (1) Siehe Yang Mo, "The song of the youth", Peking (Foreign Language Press) | |
| 1978. | |
| (2) Wei Hui, "Shanghai Baby", München (Ullstein) 2002. | |
| (3) Chen Guidi und Wu Chuntao, "Zur Lage der chinesischen Bauern", | |
| Frankfurt am Main (Zweitausendeins) 2006. Das Buch war in China ein | |
| Bestseller, doch der Nachdruck wurde verboten. Heute kursiert es als | |
| Raubdruck in millionenfacher Auflage. | |
| (4) Zhou Qing, " ,What Kind of God.' A Survey of the Current Safety of | |
| China's Food"; siehe auch: "Leckerei kalte Haut", in: "Lettre International | |
| 74, 2006. | |
| (5) Siehe Zhang Jie, "She knocked at the door", San Francisco (Long River | |
| Press) 2006. Viele ihrer Werke erschienen auf Deutsch, zuletzt: "Abschied | |
| von der Mutter", Zürich (Unionsverlag) 2009. | |
| (6) Zhang Yihe, "Vergangenes vergeht nicht wie Rauch: Autobiografische | |
| Berichte über das Leben der Künstler und Intellektuellen in China unter Mao | |
| Zedong", Zürich (Haffmanns) 2008. | |
| (7) Bisher nicht in deutscher, aber in französischer Übersetzung | |
| erschienen: Wang Xiaobo, "L'âge d'or", Paris (Sorgho) 2001. | |
| (8) Ma Jian, "Peking-Koma", Reinbek (Rowohlt) 2009. | |
| (9) Jiang Rong, "Der Zorn der Wölfe", München (Goldmann) 2008. | |
| © [1][Le Monde diplomatique], Berlin | |
| Fotos von Solange Brand, Peking 1966: [2][LMd, London] | |
| 9 Oct 2009 | |
| ## LINKS | |
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| Shi Ming | |
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