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# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Kleinbürger und wütende Jugend
> Was ist 60 Jahre nach Gründung der Volksrepublik China und 20 Jahre nach
> dem Tian'anmen-Massaker aus den literarischen Stereotypen der Revolution
> geworden? Ein Beitrag zur Buchmesse.
Bild: Peking, 1966: Inszenierter Enthusiamus
Von sechs Uhr nachmittags bis tief in die Nacht wurde der Thread im
Internetforum "Jugendthema" bei www.cyol.net immer facettenreicher: "Man
muss auch was vom Kaffeetrinken verstehen", schrieb jemand mit einem
weiblich klingenden Nickname. Kaffeetrinken ist eins von mehr als hundert
Merkmalen, die bei dieser Diskussion 1999 zusammengetragen wurden und nach
denen unterschieden wurde, wer zur "petite Bourgeoisie" (xiaozi) in China
zu rechnen sei und wer nicht. Zu den Wesenszügen des schicken
"Kleinbürgertums" gehörten vor allem Sentimentalität, umschrieben als
"Empfindsamkeit", und ein genussvoller Lebensstil. Zu den
Ausschlusskriterien zählte die Bereitschaft, sich über öffentliche Belange
aufzuregen, vor allem politische. Wer sich fürs Gemeinwohl engagiert,
erhielt die Gruppenbezeichnung "wütende Jugend" (fenqing), egal wie alt er
oder sie sein mochte.
Kaum jemand von den tausenden Teilnehmern an dem Forum hat in den folgenden
drei Monaten je danach gefragt, woher diese Stereotype kommen; und kaum
einer der zumeist jungen Netizen wusste, dass die aufgelisteten Merkmale
der beiden Gruppen xiaozi und fenqing nahezu identisch dem Revolutionsroman
"Das Lied der Jugend" aus den 1960er-Jahren(1) entlehnt sind:
In diesem Roman erzählt die Autorin Yang Mo von einem sentimentalen,
gütigen Mädchen namens Lin Daojing, das ein auf ästhetischen Genuss
gerichtetes, urban beschauliches Leben führt. Daojing verliebt sich in
einen europäisch geprägten, melancholischen Akademiker und entdeckt bald,
wie hohl, falsch und egoistisch dieser Kleinbürger in Wirklichkeit ist. Und
gut maoistisch erfährt die tief Enttäuschte durch eine neue Liebe zu einem
Revolutionär ihre seelische Wiedergeburt und mausert sich im gemeinsamen
Kampf zur Idealfigur einer für Gerechtigkeit einstehenden, wütenden und
allen Belanglosigkeiten entsagenden Jugend.
Die Umkehrung der Werte über dreißig Jahre nach dem Ende der
Kulturrevolution scheint auf den ersten Blick logisch. 1999 gab es in China
schon seit Jahren die kapitalistische Reform und für Chinas Intellektuelle
galt das neue Credo: Alles ist erlaubt, nur keine Revolution mehr.
Gerade das brutale Ende der friedlichen Studentenbewegung von 1989 legte
nahe, dass kollektive Revolutionsversuche jedweder Couleur hoffnungslos
seien, zudem untauglich für die Ausprägung von Individualität. Es
verwundert also kaum, dass zehn Jahre nach dem nationalen Trauma vom Platz
des Himmlischen Friedens erste Stimmen laut wurden, die den - erzwungenen -
Rückzug ins Private als selbstbewusste Suche verklärten. Kein Revolutionär
sein hieß: Niemand soll sich mehr für das Gemeinwohl ins Zeug legen.
Das Private, das mit dem ersten materiellen Wohlstand auch bezahlbar wurde,
bekam den Heiligenschein des bürgerlich Individuellen verliehen. Jedenfalls
im Internet. Dort präsentierten sich Angehörige des xiaozi als
individualistische Einzelkämpfer, profiliert durch ihre spezielle
Automarke, ihre spezielle Weinsorte, ihre speziell wechselnden Liebes-
beziehungsweise Lustentscheidungen und überhaupt Spezielles in allen
Aspekten des Lifestyles; jeder für sich und fast schon autistisch auf sich
selbst bezogen.
Wie ein Gegenentwurf zu Yang Mos revolutionärem "Lied der Jugend" mutet der
Sittenroman "Shanghai Baby"(2) an, der im Jahr 1999 erschien, als die
Netizen eifrig ihr xiaozi-Gruppenbild im Internet designten. Akribisch
listet die Autorin Wei Hui darin auf, worauf ihre Heldin, eine auf Sex
fixierte Emanze, stolz ist. Vor allem sind das Utensilien, die ihr letzter
Liebhaber, ein Deutscher mit ungestümer Libido, hinterließ: eine Dose
Nescafé, eine Zigarillo-Etui aus argentinischem Kalbsleder, eine
Ikea-Sitzgarnitur und so weiter.
Doch diese Internetdebatte samt ihrer literarischen Radikalisierung qua
Skandalroman gehört bereits der Vergangenheit an. Kaum jemand bezeichnet
sich noch gern als xiaozi, obwohl das Gegenbild der fenquing erhalten
blieb. Leidenschaftlich attackierten diese 2008 die westlichen Medien wegen
der Berichterstattung über den Olympia-Fackellauf. Die "Bourgeoisie" nahm
kaum Anteil an der massiv bekundeten politischen Passion - bis Vertreter
der "wütenden Jugend" anregten, die französische Supermarktkette Carrefour
in China zu boykottieren. Prompt kam die Ablehnung: Rote Fahnen in Paris
entlang den Laufrouten schwenken, Droh-E-Mails an ausländische
Korrespondenten in Peking schicken - das war irgendwie okay. Nicht mehr bei
Carrefour shoppen zu gehen - das war zu viel, wenn man nicht zu den
Vollidioten gehören wollte, die sich gegen eine urbane, zivilisierte
Bürgerlichkeit stellten.
Das Verhältnis der KP zu beiden Identitätsbildern ist gespalten. Die Partei
war schließlich ebenso Urheberin der nunmehr fast verachteten Revolution
wie Urheberin für deren Ersatz: das materielle Aufstreben des Einzelnen und
den nationalen Zusammenschluss. Auch wenn bereits 1991, nach dem
August-Putsch in Moskau, die chinesische KP-Führung geschworen hatte, aus
der Revolutionspartei eine Regierungspartei zu machen, auch wenn sie bis
1999 unter Jiang Zemin dreimal das US-amerikanische Forbes-Forum zum Thema
"Wie werde ich reich" ausrichten ließ: Aus dem Dilemma, einerseits die
städtische Mitte als Machtbasis für sich zu gewinnen, ohne andererseits die
ärmeren Schichten um Revolutionsverheißungen wie Gerechtigkeit zu prellen,
kann sie nicht entkommen. Verstrickt in dieses Paradoxon, leidet sie als
Kaderpartei zudem propagandistisch unter einem Mangel an glaubwürdigen
Heldengestalten, die die Leistungen der Partei "verkörpern", wie sie
während der revolutionären Phasen - zumeist literarisch - produziert
wurden. Was für Leistungen das sind und von welchen Charakteren sie
dargestellt werden könnten, ist bis dato eine ungelöste Frage.
2004 startete das Chinesische Zentrale Fernsehen (CCTV) einen gewagten
Versuch: Es betraute den bekannten Autor Eryue He damit, aus dem
historischen Roman des taiwanesischen Schriftstellers Gao Yang "Hu Xueyan,
Kaufmann mit roter Hutschleife" ein Drehbuch für eine vierzigteilige Serie
zu machen. Das vorsichtige Kalkül der KP-Propagandaabteilung: Es war ja
nicht so, dass ein festlandchinesischer Schriftsteller, schon gar keiner
mit Parteibuch, einen Antihelden gegen die marxistische Lehre kreieren
sollte. Eryue He war nur Interpret. Im Zweifelsfall war eben der Taiwanese
der Sünder.
Der Romanheld Hu Xueyan ist eine historische Figur, aber er lebte vor den
Zeiten der ideologischen Revolutionen von 1927 bis 1949. Und ihm haftete
nicht der Stallgeruch der Ausbeuterklasse an, denn der heldenhafte Kaufmann
war kein reicher Erbe, sondern arbeitete sich vom Gehilfen eines
Pfandleihers in die Position eines modernen Bankiers empor. Derart nach
allen Seiten abgesichert, mixte Eryue He die passende Heldenidentität. Aus
einem innerlich zerrissenen Besitzbürger à la Thomas Buddenbrook wurde ein
durchtriebener Altruist. Nicht die Gier, sondern die Erkenntnis der
sozialen Not motiviert nun Hu, nach Geld zu jagen. Nicht der Instinkt, mit
dem jeder Bankier sein Tagesgeschäft gegen die Konkurrenz betreibt, beseelt
ihn, sondern der Wunsch, das himmelschreiende Unrecht mit eigenen Waffen zu
schlagen.
Bei so viel "Leistung" sei dem Helden ein wenig Extravaganz erlaubt -
Protz, Konkubinen und Vetternwirtschaft. Am Ende scheitert der tragische
Held, aber nicht, weil er sich verspekuliert hätte wie Thomas Buddenbrook
mit seinem Getreide. Nein, Hu finanziert aus Patriotismus den kaiserlichen
Krieg in Xinjiang gegen die rebellischen Uiguren, hinter denen russische
Imperialisten stecken; sein Weggefährte, General Zuo, lässt den Kaufmann im
Stich und zahlt das für den Sold der Soldaten geliehene Geld nicht zurück.
Hu scheitert, so will's der Maoismus, letztlich an Chinas gierigen
Kapitalisten im Bunde mit noch gierigeren westlichen Geldhäusern, die in
ihm das größte Hindernis sehen, den chinesischen Markt unter sich
aufzuteilen.
Während die parteiideologische Unterhaltungsindustrie die "Leistungen" der
Neureichen mit hermeneutischer Akrobatik verkauft, tun sich die wahren
Revolutionsautoren schwer. Etwa die Autorin Zhang Jie. Seit Anbeginn ihrer
literarischen Laufbahn hat sie wider die Falschheit der Bourgeoisie und die
Ausbeutung angeschrieben. Dieselben nun entsprechend dem schnelllebigen
Zeitgeist wieder zu schätzen, fällt ihr schwer - zumal Chinas
Intellektuelle um 2003 begannen, die "Erbsünde" des Kapitalismus neu zu
debattieren. Literarische Reportagen wie der "Bericht über Chinas Bauern"
(Chen Guidi und Wu Chuntao, 2000)(3) und "Wovon soll sich unser Volk noch
ernähren" (Zhou Qing, 2004)(4) deckten die Misere der neuen industriellen
Gesellschaft auf: die Ausbeutung der Landbewohner oder die
Lebensmittelskandale, an denen das Besitz- und Leistungsbürgertum nicht
weniger beteiligt ist als der korrupte Parteiapparat.
Für Zhang Jie oder jemanden wie den ehemaligen Kulturminister und
Romanschriftsteller Wang Meng wurde die Überzeugung, dass epische Fiktionen
die gesellschaftliche Realität wie Seismografen widerzuspiegeln haben, zur
Last. Zhang Jie hat nicht die Unverfrorenheit, die neue Bürgerlichkeit als
Grundlage eines breiten Fortschritts zu feiern, und ebenso wenig wagt sie
es, der Emanzipation von der Bürgerlichkeit, also der "Revolution", treu zu
bleiben. Mit ihrem Roman "Ohne ein einziges Zeichen" (2006) gestaltet Zhang
Jie(5) die seelischen Wirren einer gespaltenen Persönlichkeit.
Ihre Romanheldin, die Schriftstellerin Wu Yun, längst von der Revolution
desillusioniert, glaubt an die Emanzipation nach bürgerlichem Ideal: an die
monogame Liebesehe, die allen Verführungen durch Geld oder Macht lebenslang
standhielte. So, wie es einst das "Lied der Jugend" gepredigt hatte. Doch
ihr Mann, ein kriegserprobter Geheimdienstler der KP im Ministerrang,
enttäuscht sie: Der hartgesottene Revolutionär neigt zu freier Liebe, ist
ein Machtmensch und Macho. Im Laufe der kapitalistischen Wirtschaftsreform
verblassen seine Verdienste zusehends.
Die Parabel ist komplex: Um die Bourgeoisie als Feind der alle befreienden
Revolution zu qualifizieren, bemühten sich die Revolutionsautoren
jahrzehntelang, das Bürgertum zu diskreditieren: als durch und durch bigott
und wankelmütig. Der Antibürger hingegen bleibt standhaft, wenn nicht gar
eisern, in der Liebe wie in der Revolution. Bis sie ihn zwingt, aus
derselben Prinzipientreue heraus die Liebe aufzugeben.
In drei Bänden spart die Revolutionsautorin Zhang Jie nicht mit gut
recherchierten Einzelheiten über die Gehirnwäsche, der sich Wu Yun und ihr
Mann während der revolutionären Säuberungskampagnen unterziehen, auch im
Zuge der Kulturrevolution. Die Revolution, findet die Romanheldin, zwingt
ihre Helden zur Heuchelei. Wenn selbst der höchst vertrauenswürdige
Geheimdienstler der KP als Ergebnis dieser Gehirnwäsche beim Tanzen keine
Empfindungen für die in Hauchnähe schwebende Schönheit zeigt, sondern das
richtige Gesicht für irgendeinen in der Nähe lauernden Aufpasser macht:
Wäre nicht doch das Bürgerliche, das die Revolution mit solcher Strenge
bekämpft, die wahre, freie Liebesempfindung ohne Posen?
Jene Liebe mag egoistisch sein. Aber hat die in der Revolution inflationär
missbrauchte Allegorie "die Liebe zur Revolution gleicht der ewigen Liebe
zwischen Mann und Frau" noch irgendetwas Freies, wenn diese Liebe
besitzergreifend und notorisch-hysterisch wird, ähnlich wie die Revolution
gegenüber Revolutionären? Auf diese Parabel mit Fragezeichen erhält Zhang
Jies Romanheldin keine Antwort. Sie landet in der Psychiatrie.
Draußen - jenseits kleinbürgerlichen Internetgeflüsters, jenseits medial
aufgepeppter Lobpreisungen des Besitzbürgertums und jenseits einer über das
Sein oder Nichtsein wahrer Befreiung reflektierenden Revolutionsliteratur -
formiert sich seit 2000 eine Alternativszene, die immer mehr den Anspruch
erhebt, das Bürgerrechtliche als das eigentlich Bürgerliche zu zeigen. Aus
der Perspektive der Revolutionsopfer jeglicher Couleur wird hier das
unterdrückte Bürgerliche erzählt und neu erfunden. Doch auch die Opfer
können sich auf keine verbindliche Gestalt des Bürgerlichen einigen.
Das Vergangene vergeht nicht wie Rauch
In einem Erzähl- und Essayband von 2004 zeichnet die Autorin Zhang Yihe6
die Lebensbilder von kulturellen und politischen Größen außerhalb der
kommunistischen Bewegung nach. Zum Teil stark idealisierend beschreibt sie
diese Elite als aufgeklärt, gebildet, kosmopolitisch und doch in der
chinesischen Kultur tief verwurzelt: Diven der Peking-Oper, Kalligrafen,
Siegelschneider, Maler oder Wissenschaftler pflegen in ihrer Umgebung eine
kunst- und geistvolle Konversation. Das für sie Selbstverständliche aber
bringt diesen Großbürgern viel Leid unter einem sie zutiefst demütigenden
Zwangsregime.
In Zhang Yihes Memoiren findet sich keine Spur von der viel gescholtenen
"Ausbeutung". Hier wenden sich die Großbürger auch nicht von der sozialen
Not in China ab. Im Gegenteil, sie suchen Anschluss an die Erneuerung
Chinas, bieten sich unterwürfig als ideologisch umerziehbar und für die
neue Gesellschaft nützlich an und geben sich größte Mühe, ihr Wesen zu
begreifen. Am Ende lernen sie: Sie sind und bleiben Fremde, nicht mehr zu
retten und doch gerettet. In gesicherter Verzweiflung dürfen und müssen sie
sich nicht mehr beweisen, weder durch Eigentum, das ideologisch verfemt und
ihnen sowieso genommen wurde, noch durch Leistung. Solange die
Ausgegrenzten am Leben gelassen, solange sie nicht als Zielscheibe für die
Massen hervorgezerrt werden, gehen sie ihren eigenen Dingen nach: Die Diven
geben Privatkonzerte, Kalligrafen tauschen sich im kleinsten Kreis aus,
dazu gesellen sich die Überreste der Mandschu-Aristokratie in stilvoll
gestalteten Höfen, von denen es in der alten Hauptstadt Peking einst so
viele gab.
Das Novum bei der Entdeckung des Großbürgertums als Opfer der Revolution
ist nicht allein seine charakterliche Rehabilitierung. Bei Zhang Yihe
verstecken die Großbürger auch ihre politischen Ambitionen nicht. Die 1957
während der Kampagne gegen die Rechtsabweichler in Ungnade gefallenen
Führungsfiguren der Blockparteien, zu denen Zhang Yihes Vater Zhang Bojun
gehörte, befragen gemeinsam die Vergangenheit: Ab wann war der Spuk der
kommunistischen Diktatur in China nicht mehr zu stoppen? Warum haben sie,
die Politiker der "demokratischen Parteien", so lange versucht, mit dem
Teufel zu paktieren, in dem Glauben, die Kommunisten unter Mao würden ihr
erklärtes Ziel der Demokratisierung Chinas irgendwann verwirklichen? Auf
solche unter Hausarrest geflüsterten Unterredungen folgt dann im Buch stets
ein großes Essen, mit höfischer Kochkunst und Peking-Oper-Darbietung.
Betrogene Revolutionäre oder unterdrückte Großbürger kümmern den Romancier
Wang Xiaobo (1950-1997) herzlich wenig. Im Roman "Das goldene Zeitalter"
(1996)(7) gab er einer urbanen Generation eine Stimme, die einen Ausweg aus
der Dichotomie "Revolution versus Bourgeoisie" sucht. Ihre Strategie heißt:
seelische Entpolitisierung durch Sinnenrausch. Der Held heißt in den
diversen Episoden des Romans immer "Wang'er" (gleich dem deutschen Meier
oder Schmidt), aber er hat immer ganz unterschiedliche Lebensläufe. Egal
aber welches Leben es ist, wie verwoben auch immer mit ideologischen
Massenbewegungen in die eine oder die andere Richtung: Wang'er folgt seinen
Sinnen, und alles andere prallt an ihm ab, ist für ihn bloße Kulisse eines
grandios absurden Welttheaters.
1974 zum Beispiel überredet Wang'er die schöne Landärztin Chen Qingyang mit
kühnen Worten zum Sex. Dafür nimmt er in stoischem Gleichmut den Titel
"schlechtes Element" in Kauf und geht als solches - begleitet von der
"Hure" Chen Qingyang - durchaus amüsiert zu der Massenkundgebung, auf der
die beiden öffentlich geschmäht werden sollen; als biete er auf Bestellung
"ein Abendprogramm für gelangweilte Dörfler und aufgegeilte Kader". Um
danach wieder mit Chen Qingyang "unsere grandiose Freundschaft körperlich
zu zelebrieren, denn Paarung mit Eheglück steht uns ja nicht zu".
1975 wird ein anderer Wang'er wegen einer freundschaftlichen Rauferei als
Übeltäter abgestempelt und dem Psychoterror einer Sekretärin des
Kommunistischen Jugendverbands ausgeliefert. Wie ein Dackel "joggt Wang'er
hinter dem Fahrrad von X-Haiying hinterher", so schnurgerade aufrecht, wie
es nur Laufprofis können, und plärrt eine Melodie aus der Oper "Aida" so in
den schneidenden Wind hinein, dass niemand, auch nicht Wang'er selbst, ein
Wort davon versteht. Genauso wenig versteht er, warum er kurze Zeit später,
im Mai, mit der von ihm so innig gehassten X-Haiying ins Bett steigt.
Vielleicht weil die Qual so unentrinnbar ist, dass ihm nichts anderes übrig
bleibt, als sich in die Qual selbst zu verlieben …"
In den 1990er-Jahren verwehrt ein US-Professor dem angehenden Mathematiker
Wang'er die Mitarbeit an der Entwicklung einer sensiblen Software, wobei
dieser akademische Kapitalist seine billige Arbeitskraft aus Fernost sonst
gern ausbeutet. Das Rechengenie rächt sich, indem es seine Teilprogramme
mit Cao Ni Ma (motherfucker) 1, Cao Ni Ma 2 bis Cao Ni Ma X
durchnummeriert: "Dichter bin ich, Fantast! Immer schon, während der
Kulturrevolution, als ich für Rotgardisten zeitgemäße Waffen konstruierte;
jetzt erst recht. Aber der blutleere Kapitalismus duldet nun mal keine
Dichtung, so what!"
Lange traf Wang Xiaobo mit seiner scheinbar apolitisch witzelnden jungen
Figur den Nerv der modernen Städter. 2008, elf Jahre nach seinem Tod, fand
Wang'ers fiktiver Gag mit dem US-Professor eifrige Nachahmer, als Chinas
Netizen den Aufstand gegen die staatliche Internetzensur probten. Sie
kreierten die Flash-Figur "cao(Gras)-ni(Schlamm)-ma(Pferd)" (motherfucker),
die gegen die misstrauischen Apparatschiks, dargestellt als "hexie"
(Harmonie, auf Chinesisch gleichlautend wie Flusskrebs), in die virtuelle
Schlacht zieht. Die Internetjugend wirkt bei alledem eher belustigt denn
verbittert und schon gar nicht wütend.
Doch Wang Xiaobos romantisierende Lesart liberal-privater Bürgerlichkeit
findet umso weniger Zustimmung, je mehr Chinas neoliberales
Wirtschaftswunder implodiert und je mehr die Bürgerrechtler ihre
gesellschaftlichen Forderungen in und außerhalb Chinas auf der Grundlage
des humanistischen Wertekanons formulieren. Besonders in der jungen
Exilliteratur findet das neue Verständnis des Bürgerrechtlichen seine
mitunter scharfe Formsprache - ganz im Stil einer "wütenden Jugend", wie
sie sich im Roman von Ma Jian(8) "Peking-Koma" (2008) aus dem Londoner Exil
zu Worte meldet.
Ma Jians Romanheld, Dai Wei, ist Student. Auf dem Platz des Himmlischen
Friedens hat er 1989 für Bürgerrechte demonstriert und wurde mit einer
Maschinengewehrkugel ins Wachkoma geschossen. Quasi aus dem Sterbebett
heraus beobachtet der für tot gehaltene Dai, wie China immer
bürgerlich-kapitalistischer wird und der Mensch immer mehr seine Würde
verliert. Fast plakativ wählt Ma Jian den 1. Juli 1997 als Datum der
Handlung: An diesem Tag kehrte Hongkong unter Chinas Hoheit zurück. Der
Roman schildert die Staatsfeierlichkeiten, bei der die jungen Menschen
weniger aus Überzeugung denn in nationaler Massenhysterie johlend
mitfeiern.
Derart euphorisiert und vom Alkohol berauscht, entdeckt einer der Feiernden
den Komapatienten und missbraucht ihn sexuell. "Das war fantastisch! Ich
wusste gar nicht, dass lebende Leichen einen Steifen kriegen können. Jetzt
blase ich dir jeden Tag einen." Und Ma Jian lässt den Wachkomapatienten
denken: "Die wilden Schreie der Menschen draußen hallen immer noch durch
die Nacht. Lichtblitze von Feuerwerkskörpern und Knallfröschen, die vor
meinem Fenster explodieren, zucken über meine trockenen, schrumpeligen
Augenlider. (...) Obwohl mein Körper nur noch ein verrotteter Haufen
Knochen ist, klammert er sich nach wie vor an diese Welt. Der Tod ist eine
ewige Straße geworden, deren Ende ich nie erreichen werde. Mein Sperma, der
einzige Beweis meiner Lebendigkeit, erregt und erniedrigt mich zugleich. Es
hat meinen Körper verlassen und klebt jetzt zwischen Xue Qins Zähnen … Was
war dies für ein jämmerlicher Tag!"
Noch findet die Exilliteratur aus China im Land selbst kaum Beachtung. Das
neue "Bürgerliche" erscheint widersprüchlich, wie das Selbstbild der
Schreibenden und der Leserschaft in den Städten. Klar ist, dass dieses wie
auch immer definierte "Bürgerliche", sich in der modernen Erzählliteratur
Chinas über ihr Verhältnis zur "Revolution" definieren müsste - weniger zur
ideologisch-kommunistischen Revolution als zur
kollektivistisch-erzieherischen oder nationalistischen, die Chinas
Nomenklatur als neues Ziel propagiert: China müsse aufsteigen. Genauso der
chinesische Mensch.
Bezeichnend für dieses neue Ziel und für seine breite Akzeptanz unter
städtischen Lesern ist der Bestsellerroman von Jiang Rong(9) "Der Zorn der
Wölfe" (2004). Hauptfigur darin ist ein Städter, der während der
Kulturrevolution zur Umerziehung, also zur Zwangsarbeit in die Innere
Mongolei geschickt wird. Der junge Mensch lernt die weite Steppe kennen. Er
lernt, dass die chinesische Rasse für ihren Aufstieg in der Welt das
Fabeltier Drachen zu ihrem Totem gemacht hat und dass dies für ihren
Aufstieg in der Welt ein Hindernis, ein Fehler im kulturellen Erbgut ist;
während die Mongolen das reale Raubtier Wolf verehren:
"Das Wolfstotem ist älter als der Konfuzianismus der Chinesen. Es ist
dauerhafter und hat mehr Kraft. Viele Ideen im Gedankengebäude des
Konfuzianismus, etwa die drei Pflichten und die fünf Tugenden, sind längst
veraltet, während der Geist des Wolftotems so jung und lebendig ist wie
ehedem, weil er von den vorzüglichsten Völkern der Erde weitergetragen
wurde."
(1) Siehe Yang Mo, "The song of the youth", Peking (Foreign Language Press)
1978.
(2) Wei Hui, "Shanghai Baby", München (Ullstein) 2002.
(3) Chen Guidi und Wu Chuntao, "Zur Lage der chinesischen Bauern",
Frankfurt am Main (Zweitausendeins) 2006. Das Buch war in China ein
Bestseller, doch der Nachdruck wurde verboten. Heute kursiert es als
Raubdruck in millionenfacher Auflage.
(4) Zhou Qing, " ,What Kind of God.' A Survey of the Current Safety of
China's Food"; siehe auch: "Leckerei kalte Haut", in: "Lettre International
74, 2006.
(5) Siehe Zhang Jie, "She knocked at the door", San Francisco (Long River
Press) 2006. Viele ihrer Werke erschienen auf Deutsch, zuletzt: "Abschied
von der Mutter", Zürich (Unionsverlag) 2009.
(6) Zhang Yihe, "Vergangenes vergeht nicht wie Rauch: Autobiografische
Berichte über das Leben der Künstler und Intellektuellen in China unter Mao
Zedong", Zürich (Haffmanns) 2008.
(7) Bisher nicht in deutscher, aber in französischer Übersetzung
erschienen: Wang Xiaobo, "L'âge d'or", Paris (Sorgho) 2001.
(8) Ma Jian, "Peking-Koma", Reinbek (Rowohlt) 2009.
(9) Jiang Rong, "Der Zorn der Wölfe", München (Goldmann) 2008.
© [1][Le Monde diplomatique], Berlin
Fotos von Solange Brand, Peking 1966: [2][LMd, London]
9 Oct 2009
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## AUTOREN
Shi Ming
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