| # taz.de -- Roman über Coronakrise: Sommernachtstraum mit Pandemie | |
| > In Gary Shteyngarts Roman „Landpartie“ schart ein Schriftsteller auf | |
| > seinem Landsitz während des Lockdowns eine Gruppe von Freunden um sich. | |
| Bild: Ein guter Ort, um die Seuche auszusitzen? | |
| Eine Konstellation ähnlich wie in Boccaccios „Decamerone“ entwirft Gary | |
| Shteyngart in seinem neuen Roman: In ländlicher Abgeschiedenheit sitzt eine | |
| Gruppe gutsituierter Menschen eine Seuchensituation aus, nur handelt es | |
| sich bei der Seuche in diesem Fall nicht um die Pest, sondern um Covid-19. | |
| Außerdem werden bei Shteyngart keine Geschichten erzählt. Stattdessen wird | |
| gelabert, getafelt und gevögelt. Und damit wäre fast schon alles | |
| gespoilert, was in diesem Roman passiert, denn eine Handlung im | |
| herkömmlichen Sinne hat er nicht, und eine Entwicklung ergibt sich | |
| vornehmlich aus der Beziehungsdynamik zwischen den Personen. | |
| Im Zentrum des Romans steht eine Figur, in der Gary Shteyngart eine | |
| Karikatur seiner selbst mit verschiedenen Charakterklischees aus der | |
| russischen Literatur des vorletzten Jahrhunderts gekreuzt hat: ein | |
| Schriftsteller mit wenig Talent fürs praktische Leben, der meist im | |
| Hausrock umherläuft, einen etwas verwahrlosten Eindruck macht und viel Geld | |
| ausgibt, ohne es im selben Maße einzunehmen. | |
| Dieser Sasha Senderovsky besitzt ein feriendorfähnliches Anwesen an der | |
| US-Ostküste, in das er eine erlesene Handvoll Personen für die Zeit des | |
| Lockdowns eingeladen hat. Seine drei besten KindheitsfreundInnen gehören | |
| dazu, ferner eine seiner ehemaligen Studentinnen, die es inzwischen als | |
| Essayistin zu einiger Prominenz gebracht hat, und ein berühmter | |
| Schauspieler, von dem Sascha hofft, dass er sein neuestes Drehbuch | |
| verfilmt. Masha, Senderovskys Gattin, und die gemeinsame adoptierte Tochter | |
| Natasha, genannt Nat (das achtjährige, chinesischstämmige Kind ist | |
| tendenziell genderfluid), komplettieren den Cast. | |
| Das zentrale Motiv des Romans besteht in einem ausgiebigen „Wer mit wem?“, | |
| angefangen damit, dass die kleine Nat, leidenschaftlicher K-Pop-Fan, sich | |
| überraschend eng an Senderovskys koreanischstämmige alte Freundin Karen | |
| anschließt, die selbst weder Kinder noch eine Beziehung hat, ihrerseits | |
| aber schon seit Jahrzehnten begehrt wird vom gemeinsamen (indischstämmigen) | |
| Freund Vinod. | |
| Karen ist reich geworden mit der Entwicklung einer App, die als digitales | |
| Pendant eines Liebestranks fungiert. Test- und unterhaltungshalber probiert | |
| die Gesellschaft die App am berühmten Schauspieler und der gutaussehenden | |
| jungen Essayistin aus, was den Schauspieler gänzlich liebeskrank | |
| zurücklässt und Ed, den Dritten der Kindheitsfreunde, krank vor Eifersucht | |
| macht. Während die Essayistin den Schauspieler noch hinhält, kann wiederum | |
| Senderovskys von der Ehe frustrierte Gattin sich für die Triebabfuhr des | |
| Schauspielers nützlich machen. | |
| Insgesamt scheint das Treiben in seinen Konstellationen sehr vom | |
| „Sommernachtstraum“ inspiriert, ist aber in seiner Geheimnislosigkeit, mit | |
| der alles, aber auch alles ausagiert und ausgesprochen wird, einige | |
| Galaxien weit entfernt von Shakespeare – und noch ein gutes Stück weiter | |
| weg von Tschechows „Onkel Wanja“, aus dem nicht nur ausführlich zitiert, | |
| sondern der zu guter Letzt sogar szenisch aufgeführt wird. | |
| Dieses beziehungsreiche Spiel mit übergroßen literarischen Vorbildern ist | |
| allerdings trotz, oder vielleicht auch wegen, seiner offensiven | |
| Dreistigkeit nicht ganz ohne Reiz. Und unter dem ganzen Gerammel und Gerede | |
| liegen auch noch deutlich existenziellere Themen. Aus der Ferne dringen | |
| Splitter der harschen Wirklichkeit in die ländliche Idylle. Die Zeit der | |
| Handlung umfasst Frühjahr und Sommer 2020. Während die Pandemie insgesamt | |
| eher wenig thematisiert wird, läuft nach dem Mord an George Floyd eine | |
| spürbare Schockwelle durch die kleine Gemeinschaft. | |
| ## Die Zumutungen der Gesellschaft | |
| Generell fühlen sich fast alle SommerfrischlerInnen ethnischen Minderheiten | |
| zugehörig und von den vermeintlich rassistischen Nachbarn in der ländlichen | |
| Umgebung latent bedroht. Der Aufenthalt im künstlichen Feriendorf scheint | |
| auch ein Refugium vor den Zumutungen der Gesellschaft an sich zu sein – und | |
| vor der Politik. | |
| Weder der damals amtierende amerikanische noch der ewige russische | |
| Präsident werden beim Namen genannt, doch die Erzählerstimme spart weder in | |
| die eine noch in die andere Richtung mit sarkastischen Kommentaren. | |
| Es sind eben Zeiten, in denen man sich am liebsten zu Steve, dem | |
| Murmeltier, das auf Sashas Anwesen haust, in den Bau verkriechen würde. In | |
| dessen Erdloch versteckt Sasha stattdessen nur ein Romanmanuskript, das | |
| Freund Vinod ihm vor vielen Jahren zum Lesen gegeben hat. | |
| Er will es aus purem Neid aus dem Weg räumen, weil es Vinod im Gegensatz zu | |
| ihm selbst nämlich gelungen ist, einen Roman über etwas zu schreiben, das | |
| zum einen „wirklich“ ist und zum anderen nicht einmal von ihm selbst | |
| handelt. Und das ist wohl in der Tat etwas, das Gary Shteyngart nie | |
| gelingen wird. | |
| 13 Jun 2022 | |
| ## AUTOREN | |
| Katharina Granzin | |
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