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# taz.de -- Neuer Roman von Katharina Hacker: Café in entrückter Welt
> Der Roman „Die Gäste“ von Katharina Hacker ist ein literarischer
> Balanceakt. Die Handlung? Bewegt sich in einem undurchschaubaren
> Geflecht.
Bild: „Die Gäste“ spielt in Berlin, in einer Zeit, in der Pandemien in den…
Man erkennt die Potsdamer Straße wieder, die Kurfürstenstraße und die
Bülowstraße – es ist ein einschlägig bekanntes Berliner Viertel, [1][in dem
Katharina Hackers Roman spielt.] Und dennoch scheint über der ganzen Gegend
ein merkwürdiger Schleier zu liegen. Die Sprache dieses Buchs setzt sich
über die Realität, wie wir sie wahrnehmen, zunächst unmerklich hinweg, doch
bald wird klar: So viel Zeit ist seit unserer unmittelbaren Gegenwart hier
nicht vergangen. Das Geschehen ist um wenige Jahre in die Zukunft versetzt,
aber mit vielen Merkmalen, die jetzt schon vorhanden sind.
Das Unheimliche ist alltäglich geworden. In Traufhöhe surren die Drohnen,
grüne Papageien sitzen in den Platanen mit ihren klein gebliebenen
Blättern, und es sind etliche Wildschweine, Füchse und aasfressende Krähen
unterwegs, die gar nicht mehr weiter auffallen. Die Autorin hat ihr
Romanensemble nur ein bisschen nach vorn verschoben, in eine Zeit, in der
Viren und Pandemien in das Leben wie selbstverständlich integriert sind.
Man ist an die Todeszahlen längst gewöhnt, wenn sie wieder einmal „nach
oben schwellen“, aber es wäre viel zu kurz gegriffen, dieses Buch einfach
nur als eine Reaktion auf die jetzt virulenten Corona-Erfahrungen zu lesen.
Es bewegt sich in größeren Zusammenhängen, und dort ist auch das
Rätselhafte verortet, das seine Wirkung ausmacht.
Dass hier etwas Bedrohliches mitschwingt, erschließt sich allerdings gar
nicht so schnell, denn die Ich-Erzählerin Friederike ist durch eine recht
unbeschwerte Haltung charakterisiert. Es ist wie eine leicht verzauberte
Welt, in die wir am Anfang eintreten. Ein alter Rechtsanwalt, der ein
Freund von Friederikes Großmutter war, hat eine verblüffende Nachricht:
Die vor einiger Zeit gestorbene Großmutter hat ihr ein Café vererbt, und es
gibt nur noch wenige davon.
Damit eröffnet sich eine Szenerie, die wie traumwandlerisch zu Friederikes
Tätigkeit am „Institut für schwindende Idiome“ in Dahlem passt. Professor
Huber spricht lustvoll lauter alte Vokabeln aus, und ihr Kollege scherzt,
dass Friederikes Männer immer verschwinden – ihr Sohn und ihr Mann haben
sich abgesetzt. „Abwesenheiten“ werden zu einem eher launig intonierten
Leitmotiv. Und romantisch federleicht wird die Geschichte der Kollegin
erzählt, die immer mit einem recht sonderbaren Professor anbandeln wollte,
der dann aber mit einer Trompeterin abhaut.
## Elektrisierende Mischung
Das taugenichtshaft Verträumte dieser Geschehnisse ergibt zusammen mit dem
unheimlichen Umfeld eine elektrisierende Mischung, ein fremdartig
spannungsreiches Textgewebe.
Jeder Versuch einer Nacherzählung der Romanhandlung ist zum Scheitern
verurteilt. In sorgsam durchnummerierten, aber meist äußerst kurzen
Kapiteln entfaltet sich eine skurril anmutende, entrückte Welt, in der sich
langsam das Café in der Pohlstraße als Mittelpunkt des Geschehens entpuppt.
Zum Inventar gehören die entzückende, zupackende und patente polnische
Putzfrau Kasia und der Handwerker Stislaw. Aber mit den Gästen ist es
nicht so leicht. Wie nebenbei fallen mitunter Sätze wie der, dass die
Menschen ja schon seit geraumer Zeit [2][„abends nicht mehr gesellig
trinken“,] und Kasia fragt mit ihrem charakteristischen Akzent, der
zwischen Fremde und Heimeligkeit hin und her schwingt, einmal nachdenklich
danach, wo sie alle sind, die Leute „von Galerien und Abendveranstaltungen
und Konzert und Zeitungen, wie früher“.
Überhaupt scheint es nur wenige Menschen zu geben, der Gang durch die
Straßen wirkt fast wie in einem Dorf. Allmählich lernt man einige
Bezugspersonen kennen wie Herrn Karimi, den Trödler in der Grunewaldstraße,
Frau Plessow oder Herrn Lehmann, der eine Art Späti betreibt und einen
Dackel hat, der auf den Namen „Frau Merkel“ hört – eine Pointe, die nicht
sonderlich ausgestellt wird, aber doch ein bestimmtes Zeitgefühl
vermittelt.
## Traumhafte Eskapaden
Die Gäste, die ins Café kommen, sind umherstreunende Jugendliche, die es
bei ihren Eltern nicht mehr aushalten, oder Einzelgänger und Sonderlinge.
Und mitten zwischen anrührenden Szenen und traumhaften Eskapaden mit
Friedrikes Geliebtem Robert, der plötzlich im Roman auftaucht und ab und zu
wieder abtaucht, stehen auch gegenläufige Begegnungen wie etwa mit einem
Herrn Benedikt, der jedes Mal mit sehr dünnen Damen auftritt, diese etwas
unterschreiben lässt und dann auf einmal von mehreren dieser Opfer mit
blutigen inneren Organen beworfen wird – ein abgründiges Geschehen, in dem
unvermutet kriminelle Machenschaften dieses Herrn zum Vorschein kommen.
Die Handlung bewegt sich immer intensiver hinein in ein undurchschaubares
Geflecht aus realistischen Partikeln und fantastischen Konstellationen, und
irgendwann ist man gar nicht mehr überrascht, dass Tiere sprechen können
und im Keller ein ganzer Rattenzirkus stattfindet – Friederike entdeckt
dieses spukartige Treiben, als sie einmal die Bodenluke öffnet. Das Ganze
wirkt wie ein Schauspiel, in dem die Ratten die menschliche Gesellschaft zu
spiegeln scheinen und eine Wahrheit offenbaren, die im üblichen Tagesablauf
gar nicht mehr bemerkt wird.
Friederikes Café bildet eine Traumwelt mit eigenen Gesetzen. Der
geheimnisvolle Hof und die halb verfallene Remise entwickeln ein
Eigenleben, das zwischen Romantik, magischem Realismus und einer
Horrorgroteske changiert. Robert, der märchenhafte Geliebte der
Ich-Erzählerin, spricht einmal von diesem Café als von einem „Faux
Terrain“, einem „Zwischenreich zwischen den Zuschauern, uns Betrachtern und
dem aufgemalten Panorama“.
## Fragwürdige Normalität
Auch dies ist ein Vexierbild, und es verrät auf sehr schöne Weise die
poetische Idee dieses Romans. Das leicht Verrückte, Verschobene der ganzen
Konstellation, der Zusammenprall einer märchenhaften Erzählstimme, die sich
über gar nichts wundert, mit einer nicht mehr zu ignorierenden Natur- und
Gesellschaftszerstörung ist ein literarischer Balanceakt. Unsere Normalität
erscheint aus dieser Perspektive plötzlich als irritierend und fragwürdig.
Ohne es zu merken, sind wir bereits in einer ominösen Zukunft angelangt.
Aber da dieser Roman wie alle guten Romane mehrdeutig ist, nichts verrät
und alle Schlüsse uns Lesenden überlässt, bleibt noch vieles offen.
27 Feb 2022
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## AUTOREN
Helmut Böttiger
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