# taz.de -- Film vor dem Hintergrund von 9/11: Ringen um Normalität | |
> Wo warst du an 9/11? Florian Hoffmeister verfilmt Katharina Hackers Roman | |
> „Die Habenichtse“ als Kammerspiel in Schwarz-Weiß. | |
Bild: Schwierige Liebe nach 9/11: Sebastian Zimmler und Julia Jentsch in „Die… | |
Die kollektive Erinnerung an 9/11 ist auch immer eine persönliche: Wo war | |
man, als es passierte? Was tat man genau, als die Nachricht kam? Der junge | |
Rechtsanwalt Jakob (Sebastian Zimmler) hätte eigentlich an dem Tag im World | |
Trade Center arbeiten sollen. Stattdessen war er in Deutschland – und | |
überlebte. | |
Nicht nur das: Als über die Fernseher der Welt jene unfassbaren Bilder | |
flimmerten, die das Ende eines Zeitalters ankündeten, verliebte er sich | |
gerade neu in seine Jugendliebe Isabella (Julia Jentsch). | |
Das für Jakob lebensrettende Wiedersehen kam allerdings nur zustande, weil | |
Jakobs bester Freund Hans ihm Wochen zuvor von der Vernissage erzählt | |
hatte, die am Vorabend von 9/11 in einer kleinen Berliner Galerie | |
stattfand, und auf der die unvergessene Isabella auftauchen sollte. | |
Du musst hingehen, hatte Hans gepredigt, und war den Business-Trip nach New | |
York an Jakobs Stelle angetreten. Somit wurde der Relaunch von Jakobs und | |
Isabellas Beziehung durch den gewaltsamen Tod von 3.000 Menschen plus eines | |
besten Freundes konsolidiert. | |
## Tragische Wiederaufnahme der Beziehung | |
Der Ausgangspunkt von Katharina Hackers 2006 erschienenem Roman „Die | |
Habenichtse“, der die Grundlage zu Florian Hoffmeisters Debütfilm bildet, | |
ist also kompliziert genug. Gesetzt sind Tod, Verlust, Lügen, Schweigen, | |
Schuld. Und im Buch – wie im Film – steht die neue Beziehung von Jakob und | |
Isabella auf wackeligen Beinen. | |
Jakob macht der Frau, die so anders ist als er, einen Heiratsantrag, | |
Isabella, überwältigt von der neuerlichen Weltlage, ängstlich wegen ihrer | |
Bedeutung, überfordert – so wie alle Zeitzeugen – mit dem Nachdenken über | |
ihre Konsequenzen, sagt ja. Und geht mit dem stillen Rechtsanwalt nach | |
London, um dort sukzessive als Kinderbuchzeichnerin Fuß zu fassen. | |
Hackers Roman schaut noch weiteren Handelnden über die Schulter: Einer | |
hilflosen Galeristin mit anstrengend-promiskuitivem Künstlerehemann, einer | |
dysfunktionalen Familie mit gewalttätigem Vater, alkoholabhängiger Mutter | |
und missbrauchter Tochter, und dem Drogendealer und Junkie Jim (Guy Burnet) | |
– die letzten vier leben in dem heruntergekommenen, aber immerhin noch | |
mietbaren Londoner Viertel, in das auch Jakob und Isabella ziehen. | |
## Neblige Atmosphäre | |
Hoffmeister hat die Nebenhandlungen des Buchs für seine in bedächtigem | |
Schwarz-Weiß gedrehte filmische Adaption gekürzt, die Figuren auf ihre | |
Funktionen als Ursachengeber für Jakob, vor allem aber für Isabella | |
reduziert. Der Qualität dieses dichten Gespanns aus verlorenen Träumen, | |
Schockzuständen und dem Ringen um Normalität tut dies keinen Abbruch. | |
Die Konzentration auf die Beziehung Jakob/Isabella reicht im Film aus, um | |
die eigenwillig neblige Atmosphäre nach den Anschlägen wiederzugeben, an | |
die sich alle erinnern, die es erlebten: Wie man plötzlich unsicher wurde, | |
ob überhaupt noch etwas bleiben kann, wie es war. | |
Die starken Schuldgefühle, die Jakob empfindet, weil er seinen Freund – | |
unabsichtlich – in den Tod geschickt zu haben scheint, stellen Hoffmeister | |
und seine Drehbuchautorin Mona Kino durch Jakobs zunehmende Verwirrung dar: | |
Er beginnt den toten Freund auf der Straße zu sehen, kapselt sich ab, auch | |
die Flucht in die Arbeit nützt nichts – er hatte Hans’ Stelle in einer | |
Londoner Kanzler angenommen, die sich auf Restitutionsfälle nach dem | |
Nationalsozialismus spezialisiert hat. Die große Liebe, die neue Beziehung, | |
das frische Leben in London droht in der Fremde des Orts und der | |
Post-9/11-Zeit unterzugehen. | |
## Szenen mit so wenig Dialog wie nötig | |
Zimmlers Jakob ist dabei fast ein wenig zu sehr in sich gekehrt, zu | |
schweigsam. Sowohl Isabella als auch das Publikum müssen ihm buchstäblich | |
alles aus der Nase ziehen – obwohl Hoffmeisters Anstrengung, Szenen mit so | |
wenig Dialog wie nötig zu erzählen, die bedrückende Atmosphäre meist gut zu | |
spiegeln vermag. | |
Die stärksten Situationen finden sich jedoch am Gewalthöhepunkt der | |
Geschichte. Aufgebaut wurden sie ganz langsam – durch die in kraftvollen, | |
verwaisten Bildern gezeigte Isolation Isabellas mitten im Arbeiterviertel, | |
die mit der halb karitativen, halb egoistischen Kontaktaufnahme zum | |
kaputten Kind im Untergeschoss beginnt und bis zu einem Verhältnis zu Jim | |
führt. | |
Der ambivalente Jim, der im Film undurchschaubarer und damit interessanter | |
als in der literarischen Vorlage sein darf (weil der Point of View bei | |
Isabella bleibt), entwickelt sich von einer möglichen Gefahr für die | |
rastlose Deutsche über eine Zufluchtsoption zum brutalen Monster – und | |
Isabella ist zu sehr neben der Spur, um das früh genug zu bemerken. | |
Julia Jentsch und Guy Burnet spielen ihre kammerspielartigen gemeinsamen | |
Szenen in der Londoner Wohnung grandios, verzweifelt und brutal – umso | |
beeindruckender, weil die Sprache der beiden eigentlich keine gemeinsame | |
ist und Zank in fremden Zungen oft peinlich klingt. Doch Jentschs Englisch | |
ist authentisch, Burnets Reaktionen darauf ebenso – eine von vielen schönen | |
Drehbuchleistungen in diesem beeindruckenden Debütfilm, der die Liebe so | |
traurig erzählt, dass es einen fast schaudern lässt. | |
1 Dec 2016 | |
## AUTOREN | |
Jenni Zylka | |
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