| # taz.de -- Deutsch-israelische Beziehungen: Der Ort, an dem man Fragen liebt | |
| > Wirklichkeit und Klischees: Im Berliner Radialsystem sprachen israelische | |
| > und deutsche Autoren über die Sehnsucht nach Tel Aviv und Berlin. | |
| Bild: Der Schriftsteller Assaf Gavron spielte mit seiner Band „Maul und Klaue… | |
| Drei Männer aus der Provinz haben eine Band. Das ist erst mal nicht | |
| Aufsehen erregend. Hape Ve Hatlafajim, zu Deutsch Maul und Klauen, heißt | |
| die Combo aus Jerusalem, dem vielleicht bekanntesten Provinznest der Welt. | |
| Eines ihrer Stücke hat der Sänger und Schriftsteller Assaf Gavron auf | |
| Deutsch geschrieben: „Spielplatz, Gummistiefel, Laugenstange, Morgenkreis“. | |
| Ein Jahr lang hat Gavron in Berlin gelebt und Deutsch gelernt, hängen | |
| geblieben sind vor allem Wörter aus der Kita seines Kindes. Der Refrain | |
| geht so: „Schluck Beton, Schluck Beton, Karl-Heinz Rummenigge, Karl-Heinz | |
| Rummenigge.“ Schluck und Beton sind hebräische Wörter, das eine aus dem | |
| Jiddischen, das andere aus dem Deutschen entlehnt. | |
| Maul und Klauen eröffneten die Abschlussveranstaltung des Symposiums „Wir | |
| vergessen nicht, wir gehen tanzen“, das am Sonntag und Montag an | |
| verschiedenen Orten stattfand. Der Kurator Norbert Kron ist einer der | |
| Herausgeber der gleichnamigen Anthologie, in der 19 israelische und | |
| deutsche Autoren über ihre Sicht auf das je andere Land schreiben. | |
| Kron hatte seinen israelischen Mitherausgeber Amichai Shalev bei einem | |
| Match der Autorennationalmannschaften getroffen, die ihm einen Gips und den | |
| Israelis den Sieg bescherte. Die israelische Mannschaft wiederum wurde von | |
| Assaf Gavron gegründet, der auch ihr Kapitän ist, was seine Vorliebe für | |
| deutsche Fußballernamen erklärt. Tags zuvor hatte eine deutsch-israelische | |
| Autorenmannschaft gegen ein Team des Neuköllner Ernst-Abbe-Gymnasiums | |
| gespielt. | |
| ## Überall Übersetzungsschwierigkeiten | |
| Thomas Krüger von der Bundeszentrale für politische Bildung, die das Buch | |
| und das Symposium gefördert hat, sagte in seiner Eingangsrede | |
| paradoxerweise, die deutsch-israelischen Beziehungen seien heute von einer | |
| tiefen Freundschaft geprägt, die keine offizielle Bestätigung von höchster | |
| Stelle mehr zu benötigen scheine. Die Botschaft von Anthologie und | |
| Symposium lautet, die deutsch-israelischen Beziehungen seien lockerer, wie | |
| heißt es so schön auf Deutsch: „unverkrampfter“, geworden. Sie finden auf | |
| Fußballfeldern und Dancefloors, am Strand und im Bett statt. | |
| Aber einfach und frei von Widersprüchen sind sie deswegen nicht. Und sie | |
| bleiben mit Übersetzungsschwierigkeiten verbunden. Wie im echten Leben | |
| einigte man sich im Radialsystem darauf, miteinander Englisch zu reden. Das | |
| hat den Vorteil des direkten Kontakts, beraubt die miteinander Sprechenden | |
| aber der Vielfalt des Ausdrucks, den sie als Schreibende sonst pflegen. | |
| Als er vor zehn Jahren zum ersten Mal durch Tel Aviv spazierte, habe er | |
| Angst davor gehabt, sofort jedem als Deutscher kenntlich zu sein, erzählte | |
| Norbert Kron auf einem der beiden Panels, die angesichts der Vielzahl | |
| interessanter Menschen, die da saßen, klug von Shelly Kupferberg moderiert | |
| wurden. Inzwischen habe sich viel geändert, sagte Kron, ohne eine These zu | |
| formulieren, worin diese Veränderung denn besteht. | |
| ## Deutschland als hipper Ort | |
| Amichai Shalev erzählte, in den Achtzigern habe es in Israel nur deutsche | |
| Pornos gegeben, später sei eine ganze Generation von Israelis mit den | |
| nächtlichen Softpornos von RTL aufgewachsen. Popkultur ist ein Medium, in | |
| dem sich kommunizieren lässt. Dass der Kanal für Austausch aber überhaupt | |
| offen ist, verdanken wir den Überlebenden, die wie Anat Einhars Vater "das | |
| Leben wählten", wie sie sagte, also die Vergangenheit hinter sich ließen, | |
| ohne sie zu vergessen. | |
| „Der Holocaust hat das Schicksal meiner Familie verändert, aber er betrifft | |
| mich nicht persönlich“, sagte Einhar. Und trotzdem ist, wie Thomas Krüger | |
| bemerkte, die Perspektive mit der Shoah unwiderruflich verschoben worden: | |
| Danach werden alle Ereignisse neu bewertet, auch diejenigen, die angeblich | |
| gar nichts mit der Katastrophe zu tun haben. | |
| Vielleicht kann man die Frage, warum in den vergangenen 20 Jahren | |
| mindestens zwanzigtausend Israelis nach Berlin gezogen sind, und die Frage, | |
| warum Tel Aviv in bestimmten Kreisen in Deutschland als hipper Ort gilt, | |
| nicht mit einer forschen These, sondern nur vorsichtig tastend, mit Mitteln | |
| der Literatur oder Anekdoten aus dem eigenen Erfahrungsbereich erklären. | |
| ## Man hört sich zu | |
| Katharina Hacker, die Anfang der Neunziger bei der Familie des Historikers | |
| Saul Friedländer in Jerusalem Aufnahme fand, fühlte sich, als sei sie nach | |
| Hause gekommen. Geborgenheit fand sie in einer Kultur, in der das Stellen | |
| von Fragen nicht nur erlaubt ist, sondern ermuntert wird, sagte sie. Besser | |
| kann man den Phantomschmerz der Deutschen nach der versuchten „Endlösung | |
| der Judenfrage“ nicht beschreiben, den man nach 1968 mit kritischer Theorie | |
| und später mit Punk zu beheben suchte. | |
| Als es auf dem Panel zu nett zu werden drohte, schlug Marko Martin noch mal | |
| in dieselbe Kerbe: Selbst die Prolls seien in Israel klüger als die in | |
| Deutschland. Sie wüssten über die Ambivalenzen des Lebens Bescheid. | |
| Israelis hätten außerdem die Angewohnheit, ihre Gesprächspartner mitten im | |
| Satz zu unterbrechen. Auch das ist für Martin ein gutes Zeichen – dafür, | |
| dass man sich zuhört. | |
| Das Reden über Kollektive neigt dazu, individuelle Beobachtungen zu | |
| verallgemeinern, sich beim Versuch der Annäherung an die Wirklichkeit | |
| bildmächtiger Klischees zu bedienen. Sowohl die schriftlichen als auch die | |
| mündliche Beiträge zu "Wir vergessen nicht, wir tanzen" sind nicht immer | |
| frei davon. Andererseits sind wir heute schnell dabei, generalisierende | |
| Aussagen per se als Klischees und damit als unzulässige Redeweise zu | |
| verstehen. Das aber bringt uns der Realität nicht notwendigerweise näher. | |
| Anat Einhar machte das deutlich, als sie gefragt wurde, warum sie in ihrer | |
| Geschichte das Stereotyp der jüdischen Nase benutze. Sie antwortete, die | |
| jüdische Nase sei kein Stereotyp, sondern eine natürliche Eigenschaft, die | |
| man in Israel häufig antreffe. | |
| 15 Apr 2015 | |
| ## AUTOREN | |
| Ulrich Gutmair | |
| ## TAGS | |
| Autoren | |
| Israel | |
| Deutschland | |
| Großstadt | |
| Literatur | |
| Historikerstreit | |
| Literaturkritik | |
| Immigration | |
| Benjamin Netanjahu | |
| Beziehung | |
| Kippa | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Neuer Roman von Katharina Hacker: Café in entrückter Welt | |
| Der Roman „Die Gäste“ von Katharina Hacker ist ein literarischer | |
| Balanceakt. Die Handlung? Bewegt sich in einem undurchschaubaren Geflecht. | |
| Assaf Gavron über seinen neuen Roman: „Die Gegenwart ist furchtbar“ | |
| Der israelische Autor kritisiert die Politik in seinem Heimatland offen. | |
| Ein Gespräch über die Siedlungen, Boykotte und sein neues Buch. | |
| Saul Friedländer über Erinnerungskultur: „Ich war ein Luftmensch“ | |
| Der Historiker und Shoah-Überlebende Saul Friedländer hatte lange panische | |
| Angst vor Bindungen und Gefühlen. Ein Gespräch über Kitsch und Sprache. | |
| „Schmerz“ von Zeruya Shalev: Das Buch hält den Blick niedrig | |
| Schmerzhafte Literatur: Ist Zeruya Shalevs Roman psychologische Erzählkunst | |
| oder doch nur assoziative emotionale Erzählweise? | |
| Sozialanthropologin über Einwanderung: „Israel wird israelischer“ | |
| Nach Deutschland kommen immer mehr Einwanderer aus Israel – vor allem Linke | |
| und Liberale. Dani Kranz hat ihre Motive untersucht. | |
| Israelische Wahlparty in Berlin: Hoffnung auf bessere Zeiten | |
| Die Wiederwahl von Netanjahu hat auch Auswirkungen auf das Leben von | |
| Israelis, die im Ausland leben. Besuch einer Wahlparty in Berlin. | |
| Deutsch-israelische Perspektiven: Getanzt wird trotzdem | |
| Das deutsch-israelische Verhältnis steht im Zentrum der Leipziger | |
| Buchmesse. Autoren aus beiden Ländern diskutieren und lesen aus ihren | |
| Büchern. | |
| Antisemitismus in Deutschland: „Die Ängste sind berechtigt“ | |
| Der Zentralrat der Muslime hat Verständnis für die Sorgen von Juden in | |
| Deutschland. Jeder Angriff auf Juden sei „ein Angriff auf unsere | |
| Gesellschaft“, so Aiman Mazyek. |