# taz.de -- Neue Erzählungen von Anna Weidenholzer: Macht es wie die Seehunde | |
> Anna Weidenholzers Figuren sind reich an Eigenheiten. Worauf zielt ihr | |
> melancholischer Humor im Erzählungsband „Hier treibt mein Kartoffelherz“? | |
Bild: Autorin Anna Weidenholzer | |
Berlin taz | In der Literatur wimmelt es von Sonderlingen. Angefangen mit | |
den antiken Helden über all die Don Quijotes und Doktor Frankensteins hin | |
zu den mal ganz offen unzuverlässigen, mal verdächtig geschwätzigen | |
Erzählern der Gegenwart versammelt die Prosa eine Meute an Spinnern, an | |
seelisch Versehrten und narrativen Hochstaplern. Man könnte meinen, | |
Bibliotheken wären eigentlich Verwahranstalten für sozialgefährdende | |
Gestalten. So heißt es dann auch oft, in der Literatur gehe es darum, | |
andere Ansichten auszuhalten und Fremdes zu erkunden. Lesen bilde mithin | |
ähnlich dem Reisen, indem es den Kontakt mit dem Unbekannten trainiere. | |
In [1][Anna Weidenholzers] Prosaband „Hier treibt mein Kartoffelherz“ gibt | |
es viele Gelegenheiten zu solchen Lektionen, sind hier doch jede Menge | |
seltsame Menschen anzutreffen, ja, viele scheinen sogar allein aus dieser | |
ihrer Seltsamkeit zu bestehen. Nehmen wir etwa den Mann von Seite 58, der | |
unter der Überschrift „Möglichkeiten der Zeitgestaltung“ das leere | |
Restaurant eines Hotels betritt und auf allen Karten mit der Aufschrift | |
„Weine“ ein „nicht“ ergänzt, womit die Geschichte dann auch schon ende… | |
Ist diese Figur mehr als der Träger eines netten Witzes? Oder anders | |
gefragt: Ist sie noch etwas, das über ihre Skurrilität hinausgeht? | |
Und wie verhält es sich mit dem Herrn, der glaubt, seinen wiedergeborenen | |
Vater in einem Karussellpony namens Waltraud zu erkennen? Wie mit der Frau, | |
deren Faszination für Beinhäuser sie veranlasst, Friseurin zu werden? Wie | |
mit der Schriftstellerin, die sich weigert, ihr Aufenthaltsstipendium zu | |
beenden und die Tür absperrt, vor der sich bald die halbe Dorfgemeinschaft | |
versammelt, um sie rauszuschmeißen? | |
Man fühlt sich bei der Lektüre der nach den Jahreszeiten in vier Zyklen | |
dargereichten Erzählungen ein wenig an [2][Clemens J. Setz] erinnert, | |
diesen großen Erfinder sonderbarer Figuren, mit dem Unterschied, dass bei | |
Setz auch die Sprache verrückt spielt, dass er die Grenzen der | |
Ausdrucksmöglichkeit auf frivole Weise ausweitet. Dagegen ist Weidenholzers | |
Stil eher unauffällig und zielt weitaus bescheidener auf einen | |
melancholischen Humor, der mitunter dann ins Betuliche kippt. | |
Dieser Hang zur Drolligkeit steht der Agenda der 1984 in Linz geborenen | |
Autorin indes nicht im Weg. Es geht ihr um die Unwahrscheinlichkeit eines | |
Kontakts zwischen Menschen, um eine kleine Phänomenologie der Begegnung. | |
Hier gibt es tatsächlich einiges zu entdecken, vor allem in jenen Passagen, | |
in denen zwei Figuren sich zufällig treffen und etwas im anderen zu | |
erkennen glauben, das mit ihnen selbst zu tun hat. | |
## Nicht voreilig verrückt erscheinen lassen | |
Da wäre die Frau, die im Freibad Bäume umarmt und die Ämter terrorisiert, | |
weil sie unbedingt möchte, dass das Alter ihrer liebsten Rosskastanie im | |
Katasteramt verzeichnet wird. Völlig gefangen von ihrer ganz persönlichen | |
Disposition hält sie vor einem Mann ungefragt ein Impulsreferat über die | |
Beziehung von Baum und Mensch, obwohl der arme Kerl nur zum Austreten die | |
Nähe der Kastanie suchte. Natürlich, man kennt solche anspruchsvollen | |
Persönlichkeiten von Begegnungen zum Beispiel in der U-Bahn, aber | |
Weidenholzer überlässt sie nicht der eigenen Pathologie, lässt sie nicht | |
voreilig verrückt erscheinen. | |
Nicht eigentlich gestört, sondern verengt ist die Sicht der Figuren auf die | |
Wirklichkeit. Was ist wohl mit ihnen geschehen, dass sie so sind? Man | |
erfährt es nicht, es gelten recht streng die Regeln der Kurzprosa, und die | |
verbieten allzu viel Vorgeschichte. Ersichtlich ist, dass die Figuren nur | |
sehen, was sie sehen können, bleischwere Erlebnisse dürften ihren Geist in | |
Form gepresst haben, und nun muss alles Äußere, muss alle Welt durch diesen | |
Schlitz, damit sie sie anerkennen. | |
Mit anderen Worten: Ganz normale Leute sind das, mit den üblichen | |
Schrullen, die man eben so hat, wenn man schon ein bisschen länger | |
herumgelebt hat und jetzt meint, endlich Bescheid zu wissen. Ganz normale | |
Leute, nur ein bisschen gesteigert in ihren Idiosynkrasien, gewissermaßen | |
charakterlich getunt, damit sie als Vorzeigemodelle herhalten können, damit | |
man das Menschliche an ihnen genauer beobachten kann. Auf der Straße, im | |
Freibad, im Altenheim treffen sie alle aufeinander: die Einsamen und die | |
Träumer, die Albernen und die Traurigen, die Pedanten und die Neurotiker. | |
Und so guckt man ihnen dann lesend dabei zu, wie sie versuchen, einander | |
von ihrer je eigenen Weltsicht zu überzeugen, wie die eine der anderen | |
nahelegt, es wie die Seehunde zu machen, wie sich eine an den Verlusten des | |
anderen labt, wie einer nur noch über Klagen und Anklagen kommuniziert. | |
Warum das Ganze? Weidenholzers kleine Geschichten sind unaufdringliche | |
Angebote, [3][aus der Eigenartigkeit dieser Figuren etwas über sich selbst | |
zu erfahren]. Und sei es, dass man den Schluss zieht, durchaus noch ein | |
bisschen seltsamer, noch ein bisschen mehr man selbst werden zu können. | |
25 Jun 2025 | |
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## AUTOREN | |
Michael Wolf | |
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