# taz.de -- Neuer Roman von Clemens Setz: Mondblasen und Ehedramen | |
> Clemens J. Setz erzählt vom Außenseiter Peter Bender. Der Roman stellt | |
> die Frage, wie eine offene Gesellschaft mit kruden Theorien umgehen soll. | |
Bild: Als setzte er gerade zur Landung an: der Vollmond hinter dem Bayerischen … | |
Dieser Roman erzählt ein Leben, das man sich kaum ausdenken kann, das aber | |
zunächst nicht ungewöhnlich für die damalige Zeit verlief: Peter Bender, | |
1893 im rheinhessischen Bechtheim geboren, machte Abitur in Worms und | |
meldete sich 1914 als Kriegsfreiwilliger. Nachdem er als Fliegerleutnant | |
einen heftigen Absturz überlebt hatte, lernte er im Lazarett die aus einer | |
jüdischen Apothekerfamilie stammende Charlotte Asch kennen und heiratete | |
sie im schlesischen Liegnitz. | |
So weit, so exemplarisch für eine Generation, die nicht ahnte, was nach dem | |
Ersten Weltkrieg noch passieren würde. Dabei hatte Bender große Fantasie, | |
man könnte auch sagen: schon bald lebte er nur noch für seine Visionen. Das | |
Paar zog nach Worms, auch weil sich der Mann für die Nibelungentradition | |
und die sagenumwobene Luthervergangenheit der Stadt am Rhein begeisterte. | |
1918 wurde er Vorsitzender des dortigen Arbeiter- und Soldatenrats, um | |
schon ein Jahr später mit der „Wormser Menschheitsgemeinde“ eine obskure | |
Religionsgemeinschaft zu gründen. Bender schrieb für die Lokalzeitung und | |
erstellte Horoskope, hielt skurrile Vorträge über die „Quadratform der | |
Geschlechter“ und entwickelte sich zu einem glühenden [1][Verfechter der | |
Hohlwelt-Theorie], nach der die Menschheit nicht auf, sondern in einer | |
Kugel leben würde: „Alles Leben existiert an seiner inneren konkaven | |
Oberfläche.“ | |
Peter Bender ist in seinem Eigensinn wie geschaffen für einen Roman des | |
Büchner-Preisträgers Clemens J. Setz, der sich in seinen Büchern immer | |
wieder mit Außenseitern und Sonderlingen beschäftigt. Setz rekonstruiert in | |
„Monde vor der Landung“ Benders Lebensweg mithilfe von Briefen, | |
Flugschriften und anderen Dokumenten aus unterschiedlichen Archiven, | |
darunter auch psychiatrischen Gutachten. | |
## Wenn alles Propaganda ist | |
Einen wesentlichen Beitrag leistet der autobiografische Roman „Karl Thomann | |
– Ein rheinischer Mensch unserer Zeit“, den Bender 1927 veröffentlichte und | |
der unlängst von einem Wormser Kleinverlag erneut herausgebracht wurde. | |
Aus diesem Buch stammt auch das Zitat, das die sowohl düstere als auch | |
luzide Weltanschauung des Verfassers gut zusammenfasst und das Setz dem | |
eigenen Roman voranstellt: „Von seinem erhöhten Standpunkt aus sah er die | |
Menschen aus der Fläche innerhalb des kreisrunden Horizonts nach oben | |
streben, zum Licht. In der irdischen Ebene waren sie miteinander und mit | |
dem Dunkel darunter verbunden.“ | |
Bender hält alle wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Erde und andere | |
Planeten unserer Milchstraße für kopernikanische Propaganda, und je | |
heftiger seine Thesen angefeindet werden, desto überzeugter vertritt er | |
sie. Benders Beharren auf alternative Fakten ist so rührend wie verstörend, | |
und der Schriftsteller Setz lädt sein Publikum nun zu einer literarischen | |
Abenteuerreise in jene Hohlwelt ein, in der man sich auf wundersame Weise | |
nicht ungern aufhält. | |
## Fotos und Faksimiles | |
Das liegt weniger an Benders verstiegenen Beweisführungen, sondern vor | |
allem an der undurchschaubar lakonischen Tonlage, in der die Prosa gehalten | |
ist. Setz erlaubt sich einige Pointen, aber er denunziert seinen | |
Protagonisten nie. Es herrscht eine nahezu geophysische Unruhe in diesem | |
Textkorpus, auch weil die Erzählperspektive regelmäßig gewechselt wird. Als | |
könne es in diesem Buch keine ungebrochen auktoriale Instanz geben, folgt | |
Setz seiner Figur auf weiten Strecken in personaler Nähe, um in den | |
entscheidenden Momenten auf sprachliche Distanz zu gehen. | |
In den Roman sind nicht nur Originalzitate Benders, sondern auch Fotos und | |
Faksimiles montiert. Diese Dokumente in Fraktur, die eine Echtheit der | |
Story bezeugen, machen die Geschichte kurioserweise besonders irreal und | |
zugleich erschreckend gegenwärtig. Wenn der Hohlglobus als Großmetapher | |
verstanden wird, sind wir schnell bei heutigen Social-Media-Blasen, in | |
denen Benders Hirngespinste kaum auffielen. | |
Zur nicht nur zeitgemäßen, sondern herausragenden Literatur wird „Monde vor | |
der Landung“ durch eine weitere Erzählebene. Der mehrfach geschichtete | |
Roman ist nämlich auch als Ehedrama mit einer bestürzenden Eskalation zu | |
lesen. Obwohl Charlotte ihrem Peter in die Hohlwelt folgt, möchte sie | |
dennoch unabhängig sein. Gegen seinen Willen gibt sie Sprachunterricht und | |
beginnt zu schreiben. | |
## Mein Blut ist dicker als deins | |
„Das ungleiche Paar“ heißt eines ihrer Gedichte, das im konsequent | |
rumpeligen Reimschema den ehelichen Konflikt beschreibt und das Setz | |
ebenfalls an den Anfang stellt: „Mein Blut ist dicker als das Deine, / So | |
leichtbeschwingt ist nicht mein Schritt / und dennoch gehen wir den Weg | |
zusammen, / Ich will doch mit.“ | |
Leider wird der gemeinsame Weg zur Tortur. Denn die zwar politisch | |
unruhige, aber verhältnismäßig liberale Zwischenkriegszeit geht zu Ende. | |
Bender landet nicht nur wegen Gotteslästerung im Gefängnis, er wird auch in | |
eine Irrenanstalt eingesperrt. Eine Zwangssterilisation kann der zweifache | |
Familienvater gerade noch verhindern. Als er aus der geschlossenen | |
Abteilung freikommt, sind seine Nerven wirklich angegriffen. Es plagen ihn | |
Kopfschmerzen und bald schon schwere Anfälle, in denen er seinen | |
traumatischen Flugzeugabsturz immer wieder durchlebt. | |
Die Benders ziehen nach Frankfurt, und eine Zeitlang bietet die Anonymität | |
der Großstadt die nötigen Schlupfwinkel, gerade für die jüdische Charlotte. | |
Es ist erstaunlich, wie sich die beiden im NS-Reich durchschlagen: Der | |
verschrobene Mann verweigert sich zunehmend dem bürgerlichen Alltag, | |
schafft es aber, mit Hedwig eine Affäre zu beginnen, schon die zweite in | |
der Ehe. | |
Die Gattin bleibt ihm trotzdem treu und kümmert sich beharrlich um | |
bescheidene Einkünfte. Derweil korrespondiert der Meisterdenker mit der | |
amerikanischen Koresh-Gemeinde, die ebenfalls an eine Hohlwelt glaubt. | |
## Zunehmend verzweifelte Gedichte | |
Charlotte schreibt zunehmend verzweifelte Gedichte, während Peter quasi auf | |
dem Höhepunkt seines wahnwitzigen Schaffens eine amouröse Mondtheorie | |
entwirft: „Monde bildeten sich in der Mitte des Universums, wie Blasen. Sie | |
lösen sich und schwebten durch den Raum und landeten bei uns und brachen | |
auf, gaben ihre kostbare Fracht frei. So wie die im Inneren stattfindende | |
Befruchtung, so diese äußere, im Kosmos.“ | |
Bender träumt von Hedwig und denkt: „Nichts ist so frei wie Monde vor der | |
Landung.“ Tja, denkt man sich bei der Lektüre, gäbe es doch wirklich solche | |
Mondblasen, die Schönes und Neues auf die Erde brächten! | |
Bis zuletzt bleibt das [2][Leben des Mondsüchtigen] unberechenbar. Der | |
Geliebten organisiert Peter Bender eine Überfahrt in die Vereinigten | |
Staaten, auf dass sie die Koreshianer auf seine Ankunft vorbereite. Doch | |
das Schicksal verläuft nicht im Sinne der Hohlwelt-Götter. Der | |
Nibelungenfantast Bender, der von einer „siegfriedlichen Welt“ träumt, wird | |
denunziert, von den anderen, den grundbösen Gralshütern urdeutscher | |
Legenden deportiert und genau wie seine Frau im Konzentrationslager | |
umgebracht. | |
## Rassenwahn der Nazis | |
So bekannt die biografischen Eckdaten der Ermordeten, so ergreifend und | |
zugleich intellektuell herausfordernd ist der Roman von Clemens J. Setz. | |
Denn mit dem geschickt literarisierten Drama der Benders stellen sich | |
Fragen, die auch moderne Demokratien beantworten müssen: Wie umgehen mit | |
Leuten, die verquere Weltbilder vertreten und pseudoreligiöse Vereinigungen | |
gründen? | |
Was unterscheidet den Rassenwahn der Nazis von den nur scheinbar niedlichen | |
Beklopptheiten eines Bender, der als Hohepriester seiner Gemeinde ebenfalls | |
autoritäre Verhaltensmuster pflegte? Wann wird aus einer privaten Spinnerei | |
eine gefährliche Mission, die Menschen unterjocht, wie das Jahrzehnte | |
später in der chilenischen Terrorsekte Colonia Dignidad passierte? | |
Es gibt wohl keine feste Formel, nach der diese Fragen beantwortet werden | |
können. Wenn Menschen mit identitätsstiftenden Fiktionen etwa von landenden | |
Monden glücklich werden, darf die offene Gesellschaft großherzig sein – | |
solange Unbeteiligte darunter nicht leiden. Zumal in jedem Lebensentwurf | |
kleine Lügen stecken, wie dieser grandiose Roman bis zur letzten Zeile | |
zeigt. | |
12 Feb 2023 | |
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## AUTOREN | |
Carsten Otte | |
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