| # taz.de -- Neue Gedichte von Slata Roschal: Ein beherzter Biss in fütternde H… | |
| > In Slata Roschals neuem Band fließt die Sprache ohne Punkt und Komma. | |
| > Widerborstig, oft witzig bewegt sich die Lyrik durch eine gewaltvolle | |
| > Welt. | |
| Bild: Mancher Vers bei Slata Roschal erinnert an einen Igel auf der Autobahn | |
| Manche von Slata Roschals Gedichten wirken, als wüssten sie am Anfang | |
| nicht, dass sie als Gedichte enden wollen. Sie tun so, als hätten sie | |
| ebenso gut [1][Erzählungen werden können]. Um die Lesenden nicht zu | |
| desorientieren, verraten ein paar Marker in diesen Kurztexten, dass es sich | |
| echt um Lyrik handelt: Zwar verzichtet die Münchner Autorin – 1992 in St. | |
| Petersburg geboren, promovierte Literaturwissenschaftlerin, Dissertation | |
| über Dostojewski – auf Reime. Aber dafür fängt erstens jede Zeile, so wie | |
| es die Konvention von Versen früher forderte, mit Großbuchstaben an. Und | |
| zweitens nutzt Roschal Satzzeichen nur in Prosa. | |
| In ihren Gedichten hingegen lässt sie die Sprache ohne Punkt und Komma | |
| fließen. Sie verunsichert die Syntax, bringt den Sinn in Verwirrung und | |
| erzeugt rhythmische Unbestimmtheit. Die teilt sich schon im | |
| passiv-aggressiven, ultralangen Titel des neuen Bandes mit: „Ich brauche | |
| einen Waffenschein ein neues bitteres Parfüm ein Haus in dem mich keiner | |
| kennt“, heißt er, 15 Wörter! Wenn’s nicht darum geht, aufs 18. Jahrhundert | |
| [2][anzuspielen], tut man so was eigentlich [3][nicht.] | |
| Roschal aber eben doch. Souverän wählt und kombiniert sie diverse | |
| Traditionen – Pop, Bibel, Kinderlied, Kunstgeschichte, Gebrauchsanweisung, | |
| Romane des 19. Jahrhunderts und bayrisches Schulgesetz. Ihren | |
| eigentümlichen Sound finden ihre Gedichte eben im Bruch oder auch der | |
| diskret-virtuosen Erfüllung vergessener konstruktiver Gesetze. | |
| ## Hässliche Fotos von Madonna | |
| Dieses Sprachspiel wirkt wie eine dringende Aufforderung, diese Antilyrik | |
| lyrisch zu lesen: „Hässliche Fotos von Madonna“, fängt eins von Roschals | |
| meist titellosen Gedichten an, das mit Interpunktion zum argumentierenden | |
| Mini-Essay verrutscht wäre, „trösten mich weil ich zumindest / Gedichte | |
| schreibe denke ich auch wenn / Madonna ich nicht unbedingt darin erwähnen | |
| sollte“. | |
| Der Punkt verfälscht das Zitat. Denn das Gedicht hört hier nicht auf. Es | |
| [4][bleibt in Bewegung. Sein Schwung] trägt die Sprache aus der geraden und | |
| engstirnigen Bahn der Begründungszusammenhänge und lässt sie in ein | |
| freieres, aber gedanklich viel komplexeres Assoziieren gleiten. | |
| Das ist im Stande, aus Patriotismus, Tod, Sprachpolitik und, durch den | |
| Namen des im heutigen Oblast Donezk geborenen Komponisten Sergeij Prokofiev | |
| sehr konkret, dem Ukrainekrieg ein kaum auflösbares Syndrom zu formen. „Das | |
| Konzept des Singens ist mir fremd geblieben wozu die Mühe“ stellt sich in | |
| dessen Zentrum, in der Mitte des Gedichts, beiläufig-schnoddrig die Frage | |
| nach dem Sinn von Kunst. | |
| ## Schwarzhumorige Szenen | |
| Ein Gedicht ist ein Igel, der die Autobahn überquert: Diese bei Jacques | |
| Derrida geklaute [5][Definition] passt ausgezeichnet auf Roschals Lyrik. | |
| Nomadisch auf dem Sprung – denn da ist für sie kein Bleibens – und | |
| monadisch eingekugelt, reagiert diese Dichtung widerborstig und | |
| selbstbezüglich auf die Gegenwart. | |
| In der lauert, überall, übermächtig Gewalt: im blöden TV-Tatort, in | |
| PR-Slogans, in makaber-schwarzhumorigen Szenen: „Damit mal endlich Ruhe ist | |
| / Schaltet ein alter Mann die Sauerstoffgeräte seines Nachbars ab“, beginnt | |
| das zweite Gedicht mit einer bösen Fantasie. Auch die Täterinnenperspektive | |
| wird erprobt: „Auf fahrlässige gutmütige Weise / Würde ich dich töten also | |
| das nur bei gutem Grund“, heißt es in einer Art Liebesgedicht. | |
| Liebe, Tod und Leidenschaft, damit hat diese Lyrik kein Problem. Aber der | |
| Versuchung, sich mit diesen Ewigkeitsthemen aufs Unverbindliche | |
| zurückzuziehen, erliegt sie nicht. Immer drängt das beschissene wirkliche | |
| Leben nach vorn, mit verunglückter Kosmetik, Steuererklärungen und | |
| AfD-Abgeordneten. Weil aber Roschal nun mal als Dichterin lebt, avanciert | |
| zu einem Leitmotiv des Bandes, wie der Literaturbetrieb Dichterleben | |
| verformt, am wirksamsten im System der Residenz-Stipendien. Roschal greift | |
| dieses Förderinstrument dichterisch auf. | |
| ## Erneuerung der Klobürste | |
| Genauer: Mit einem erfreulich beherzten Biss in die Hand, die sie füttert, | |
| greift sie es an. Um diese Stipendien zu erhalten, müssen die | |
| Empfänger*innen die eigene Existenz – Wohnort, Bekannte, Familie – | |
| temporär aufgeben. Sie haben in eine Stadtschreiber-Wohnung zu ziehen. „Oft | |
| ist es erforderlich so zu tun als hätte man kein Zuhause / Als würde man | |
| den Hund der Geschäftsführerin mögen“, dichtet Roschal. Oder, anderswo, | |
| sehr unschön: „Die Toilette ist nicht sauber sagte ich am Telefon / Zum | |
| Vermieter meines Residenzappartements“. | |
| Das könnte zu Larmoyanz gerinnen. Aber Roschal vermeidet das: Sie | |
| verspottet auch das Ich, das sich beim Vermieter artig und devot für die | |
| Erneuerung der Klobürste bedankt, „als hätte er eine Gefälligkeit von | |
| ungeheurem Maß erwiesen“. Lächerlich. Aber zugleich ist das genau die | |
| durchs Literaturförderungswesen erzielte Stellung der Dichterin in der | |
| Welt. Schwer zu sagen, für welche der beiden das bitterer ist. | |
| 20 Jun 2025 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Roman/!5990162 | |
| [2] https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Verfolgung_und_Ermordung_Jean_Paul_Marats… | |
| [3] https://fr.wikipedia.org/wiki/Quel_petit_v%C3%A9lo_%C3%A0_guidon_chrom%C3%A… | |
| [4] https://www.youtube.com/watch?v=Dm8lmtucFYI | |
| [5] https://po-et-sie.fr/wp-content/uploads/2018/08/50_1989_p109_112.pdf | |
| ## AUTOREN | |
| Benno Schirrmeister | |
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