# taz.de -- Kurzgeschichten von Angela Carter: Porno, Horror, Fairy Tales | |
> In „Die blutige Kammer“ hat Carter Märchen umgeschrieben. Es geht den | |
> gestiefelten Kater, energische Frauen, Sex und Begehren. Nun wurden sie | |
> neu übersetzt. | |
Bild: 1970 verlässt Angela Carter ihren Mann, zieht nach Tokio und entdeckt Po… | |
Erinnert sich noch jemand an den gestiefelten Kater? Jenes smarte | |
Wundertier, das der sonst leer ausgegangene jüngste von drei Bauernbrüdern | |
erbt, das ihm aber aus Dank für ein Paar Stiefel hilft, eine Prinzessin zu | |
heiraten und König zu werden? | |
So lief es zumindest bei den Brüdern Grimm. Die britische Autorin Angela | |
Carter (1940–1992) erzählte Ende der 1970er Jahre das Märchen neu aus der | |
Perspektive des Katers. Die frische Übersetzung ihrer jüngeren Kollegin | |
Maren Kames charakterisiert das Katz-Mensch-Verhältnis so: „Das Herrchen | |
und ich haben einiges gemeinsam, denn er ist stolz wie der Teufel, | |
empfindlich wie eine Blechbüchse, wollüstig wie eine Lakritzschnecke und, | |
wobei ich das voller Liebe behaupte, der schlagfertigste Lump, der je auf | |
einem frischgewaschenen Laken zu liegen kam.“ | |
Von den zehn Märchen, die Angela Carter 1979 unter dem Titel „The Bloody | |
Chamber“ veröffentlichte, hat „Der gestiefelte Kater“ der Übersetzerin … | |
am meisten Spaß gemacht. Das luftig alliterierende Zitat ist nur ein | |
Beispiel für die Sprachspiellust, mit der sich Maren Kames auf Angela | |
Carters variierende Stile einlässt. | |
Typisch für Carters Märchenüberschreibung wiederum ist der Fokus auf Sex | |
und Begehren – wobei es der Kater ist, der das Gebaren der Menschen | |
kopfschüttelnd kommentiert: Gewöhnt „an die famose katzenhafte Nacktheit“ | |
seiner Art rührt ihn die „schüchterne Zurückhaltung, mit der die Menschheit | |
sich ziert, sich ihrer Stoffhüllen zu entledigen, sobald Lust im Spiel | |
ist“; amüsiert beobachtet er ihr „sentimentales Herumeiern“, bevor es da… | |
doch tierisch zur Sache geht. | |
## Luxus-Life mit Spannungen | |
Berühmter als für diesen Kater ist der Band, dem der Suhrkamp Verlag mit | |
Aquarellen von Julia Kissina und einem Nachwort von [1][Mithu Sanyal] ein | |
Comeback als feministischer Klassiker bescheren will, aber für seine | |
energischen Frauenfiguren. Gleich zwei davon präsentieren sich in der | |
Titelstory „Die blutige Kammer“, eine Blaubart-Variation. | |
Darin reist die Ich-Erzählerin, eine blutjunge Pianistin und Tochter einer | |
alleinerziehenden Mutter, mit ihrem deutlich älteren und reicheren Ehemann | |
(Daddy-Issues!) im Zug zu dessen Schloss in der Bretagne. Doch hinter den | |
Schilderungen des plötzlich luxuriösen Lifestyles, in dem sich die frisch | |
Vermählte wiederfindet, schimmert schon eine freche Distanz und Spannung | |
auf – die junge Frau reflektiert ziemlich cool, wie sie sich von diesem | |
bereits doppelt verwitweten Mann angezogen und angeekelt zugleich fühlt. | |
Carter folgt eine ganze Weile dem tradierten Stoff, malt eine geheime | |
Folterkammer, in der die junge Ehefrau die Leichen ihrer Vorgängerinnen | |
findet, mit spürbarem Spaß am Horror aus. Doch auf dem Höhepunkt der | |
Geschichte, als Blaubart die Erzählerin mit dem Schwert enthauptet will, | |
springt ihr nicht etwa der als Komplize eingeführte Dorfjunge zur Seite, | |
sondern ihre mit Zug und Pferd herbeigeeilte Mutter (!), die dem | |
Schwiegersohn „eine einzige, einwandfrei platzierte Kugel durch den Kopf“ | |
jagt. Carters [2][Frauen brauchen keinen Retter], manchmal aber eine | |
Retterin. | |
Mummy-Issues wiederum waren der 1940 im südenglischen Eastbourne geborenen | |
Tochter einer Kassiererin und eines Journalisten nicht fremd; die | |
überbehütete Angela Stalker befreite sich aus ihrer engen Mutterbindung, | |
indem sie mit 19 Paul Carter heiratete und ihr Leben Stück um Stück selbst | |
in die Hand nahm. Sie schrieb selbst für Zeitungen, studierte englische | |
Literatur und verließ ihren Mann nach neun Ehejahren, um zwei Jahre allein | |
in Tokio zu leben, wo sie unter anderem pornografische Mangas für sich | |
entdeckte: ein um 1970 ungewohnt autonomer Schritt, selbst für eine | |
bürgerliche Britin. | |
Angela Carter schrieb und publizierte, oft als writer-in-residence an | |
renommierten Universitäten von Australien bis Amerika; mit 37 heiratete sie | |
den 15 Jahre jüngeren Mark Pierce, mit dem sie ein Kind bekam. Zwar erregte | |
Carter bereits mit „Die blutige Kammer“ einiges Aufsehen, doch erst nach | |
ihrem frühen Krebstod setzte die große Aufmerksamkeit ein. | |
## In üppigen Fantasiewelten wuchernder Wälder | |
Porno, Horror, Fairy Tales – mit Motiven dieser populären Genres jongliert | |
Angela Carter in der [3][Kurzgeschichtensammlung], zieht ihre | |
Leser:innen in üppige Fantasiewelten wuchernder Wälder (der geradezu | |
lyrische „Erlkönig“-Text), verschneiter Landschaften und exzentrischer | |
Interieurs. Gleich zweimal erzählt sie „Die Schöne und das Biest“, einmal | |
als platonische Liebe, die die Schöne erst ernst nimmt, als das Biest aus | |
Liebeskummer im Sterben liegt, und einmal als Anverwandlung der Schönen, | |
die selbst zur Tigerin und Gefährtin des Biests auf Augenhöhe wird. | |
In beiden Fällen aber sind es Väter, die ihre Töchter an Ungeheuer | |
ausliefern oder verhökern. Und basiert „Rotkäppchen und der Wolf“, zu dem | |
Carter gleich drei Adaptionen beisteuert, nicht letztlich auf einem ganz | |
ähnlichen Motiv, der Anziehung zwischen mädchenhafter Zartheit und brutaler | |
Monstrosität, also geradezu parodistisch übersteigerten Genderformen? | |
In Carters Pop-Märchen, die durchaus feministischen Gegenwind erhielten, | |
sind diese archetypischen Erscheinungsformen als kulturelle Kostüme | |
erkennbar, die sich abstreifen und austauschen lassen – hinter dem | |
haarigen, knurrenden Ungeheuer mit seinen riesigen Pranken kann eine | |
sentimentale Seele, im elfenhaften Nymphchen ein zielstrebiges Begehren | |
wohnen. | |
Für Carter, die in ihrem Buch „Sexualität ist Macht“ für [4][de Sade] als | |
Vorkämpfer einer von Fortpflanzung losgelösten weiblichen Sexualität | |
eintrat, standen die Monster im Übrigen nicht nur für Männer, sondern auch | |
für die Sexualität selbst: „Frauen müssen lernen, mit ihrer eigenen | |
Sexualität klarzukommen“, wie Mithu Sanyal die Autorin in ihrem Nachwort | |
zitiert. | |
Das ist vielleicht nicht mehr ganz so erschütternd wie 1979. Doch gerade | |
die Übersetzung von Maren Kames schließt mit ihrem reichen Vokabular immer | |
wieder an die Gegenwart an und entdeckt die transformierenden Kräfte von | |
Carters Erzählkunst neu. | |
21 May 2025 | |
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## AUTOREN | |
Eva Behrendt | |
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