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# taz.de -- Erzählband von Autor John Wray: Rest von kostbarer Unerklärbarkeit
> „Madrigal“ heißt das erste auf Deutsch verfasste Buch von Autor John
> Wray. Bei aller beiläufigen Leichtigkeit ist es keine leichte Lektüre.
Bild: Der amerikanisch-österreichische Schriftsteller John Wray schreibt erstm…
John Wray ist US-Amerikaner, aber nur zur einen Hälfte. Zur anderen ist er
Österreicher, von der Mutter her, er hat unter anderem in Wien studiert,
war aber vermutlich bisher eher der Ansicht gewesen, das Englische besser
zu beherrschen als das Deutsche. Oder warum sonst sollte er all seine
Romane in der Vatersprache geschrieben haben?
Nun aber ist erstmals ein Band mit Erzählungen erschienen, die nicht erst
ins Deutsche übersetzt werden mussten, sondern vom Autor höchstselbst in
seiner Muttersprache verfasst wurden. Und fast möchte man sagen: Na
endlich! Denn keine andere [1][Sprache würde wohl besser zu diesen
Erzählungen passen als diejenige Franz Kafkas]. Wobei der potenziellen
Einflüsse hier viele sind. Surreale, phantasmagorische und metatextuelle
Elemente wechseln sich ab oder gehen Symbiosen ein, jede Erzählung ist
anders.
Gemeinsam ist den meisten oder eigentlich allen, dass ein gradliniger
Realitätsbegriff sich auf sie nicht anwenden lässt. Mögliche Ausnahmen sind
die Erzählungen „Im Bereich des Möglichen“ und „Sieh das Licht“, deren
Bezug zur realen Welt zwar durchgehend vorhanden ist, deren Perspektive auf
die Wirklichkeit aber insofern verschoben erscheint, als sie von monströsen
Trieben handeln. Für „Im Bereich des Möglichen“ hat der pädophile
Ich-Erzähler der gleichnamigen Erzählung eine sexuelle Handlung mit der
kleinen Tochter seiner neuen Lebensabschnittsgefährtin.
Eine Fantasie, die zumindest in dieser Erzählung nicht ausgelebt wird,
anders als das Schulmassaker, auf das der namenlose Protagonist der
Erzählung „Sieh das Licht“ sich vorbereitet. Dieser Text ist durchgehend in
der zweiten Person Singular gehalten beziehungsweise an die zweite Person
Singular gerichtet, denn die Handlung schreitet in Imperativen voran. Wrays
schriftstellerische Meisterschaft zeigt sich auch darin, dass dieses
außergewöhnliche Stilmittel an keiner Stelle gesucht wirkt, sondern
tatsächlich die Aura einer beängstigenden Zwanghaftigkeit entfaltet.
## Surreale Elemente
In „Trotzhaus“ übernimmt ein surreales Element die Wirklichkeit: Ein alter
Mann baut eine Art Modellhaus, direkt vor dem Küchenfenster seines Sohns,
im Garten des gemeinsamen Grundstücks. Der Sohn seinerseits verzweifelt an
der Frage nach dem Sinn des Bauwerks und glaubt, eine geheime, und
wahrscheinlich anklagende, Botschaft darin entschlüsseln zu müssen.
Die beiden kunstvollsten und intellektuell verschlungensten Geschichten
rahmen den Band ein. Die erste und titelgebende Erzählung „Madrigal“
handelt von der Macht der Literatur – wenn es erlaubt ist, das angesichts
der Raffiniertheit dieser Geschichten so banal zu sagen – und führt den
schlagenden Beweis, dass es möglich ist, eine Erzählung zu schreiben, die
so in sich selbst verschlungen gebaut ist, als sei sie [2][ein Bild von M.
C. Escher]: Der Text, der scheinbar schlicht als Wiedergabe eines
Telefongesprächs beginnt, wird am Ende einmal komplett seine
Erzählperspektive umgedreht haben, so dass es nun möglich ist, entweder den
Anfang oder das Ende für Fiktion beziehungsweise für Realität zu halten.
Die Abschlusserzählung „Achtsamkeit“ schließlich handelt von einem Autor,
der geplant hat, eine Geschichte von einem kleinen Elefanten sowie einem
Jäger, der den Elefanten erschießen wird, zu schreiben. Doch eine Stimme,
die den Autor beim Schreiben stört, außerdem seine kleine Tochter und nicht
zuletzt das Personal der Erzählung haben zu seiner Geschichte eigene Ideen.
## Keine leichte Lektüre
Und das wirklich Erstaunliche ist, dass bei aller offensiven, dick
aufgetragenen Metatextualität man beim Lesen dennoch um das Schicksal
des kleinen sprechenden Elefanten bangt („Ein cremefarbener Elefant, fast
weiß, mit kleinen Ohren und zierlichen Stoßzähnen, ungefähr von der Größe
eines wohlgenährten Bernhardiners. […] Er lispelt“).
Bei aller beiläufigen, überlegenen Leichtigkeit, mit der John Wray seine
experimentellen Kleinformate entfaltet: Leichte Lektüre geht anders. Die
Andersartigkeit dieser Erzählungen, jeder dieser Erzählungen, verlangt den
Austritt der Leserin aus der bequemen Unmündigkeit einer bloßen
Literaturkonsumentin.
In diesen Texten stellen sich Fragen, die nicht beantwortet werden; weiße
Elefanten kommen in den Raum, die niemand uns erklärt und die womöglich
auch nicht erklärt werden können. Dieser Rest an Unerklärbarkeit muss
ausgehalten werden, denn er ist kostbar.
4 Aug 2021
## LINKS
[1] /Ocean-Vuong-ueber-den-American-Dream/!5625041
[2] /Europaeische-Kulturhauptstadt/!5473422
## AUTOREN
Katharina Granzin
## TAGS
Literatur
Erzählungen
Surrealismus
Geschichten
Schwerpunkt #metoo
Buch
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