# taz.de -- Kurzgeschichten von Christoph Haas: Bilder moderner Tristessen | |
> „Eine Nacht im Juli, eine Nacht im Dezember“ erzählt kurze Geschichten | |
> menschlicher Erschütterungen. Christoph Haas schreibt von entrückten | |
> Zuständen. | |
Bild: Urlaubsbrise. Haas erzählt bildhaft. Tretboote in der Lausitz | |
Wo sich Elend und Tristheit treffen, dafür hat Christoph Haas ein gutes | |
Gespür. Der Passauer hat mit „Eine Nacht im Juli, eine Nacht im Dezember“ | |
sein erstes Prosawerk veröffentlicht. Die Erzählungen sind kurze | |
Momentaufnahmen, Schwebezustände, kurz vorm Kippen; Haas beschreibt moderne | |
Tristessen. | |
Gleich die erste Geschichte, „Wellen“, bringt die ganze Katastrophe | |
einer Flucht auf nur wenigen Seiten auf den Punkt, wenn King seinen Bruder | |
Hamza verdächtigt, Geld mit Prostitution zu verdienen. Beide können ihre | |
Flucht nicht hinter sich lassen, immer wieder holen die Wellen sie ein, das | |
Boot ist einfach viel zu klein für sie alle. | |
Haas spürt Miniaturen auf, versetzt sich in die Mikrokosmen einer | |
Paarbeziehung oder Nachbarschaftsrivalität hinein. „Auf all das, auf das | |
Schauen und Angeschautwerden, hatten wir heute keine Lust, und so waren wir | |
zur Bushaltestelle gegangen.“ Es sind Sätze wie diese, die das Aufwachsen | |
im Dorf unter betrunkenen Männern und strengen Musiklehrerinnen so treffend | |
illustrieren. Haas schreibt keine Stadtgeschichten, seine Sätze riechen | |
nach Provinz. | |
Über manche weht dabei eine eigentümliche Urlaubsbrise, das Gefühl eines | |
verregneten Nachmittags im Ferienpark, der seine Ereignislosigkeit selbst | |
dann nicht verliert, wenn plötzlich ein Unbekannter eine Pistole zückt. | |
Diese unauslöschliche Leere, sie ist in all seinen Geschichten präsent. | |
## Penetrant schwermütige Tage | |
Eigentlich könnte nämlich alles gut sein, eigentlich ist alles doch gut, | |
doch unerklärlicherweise drängt sich irgendwann ein Schatten in den Tag – | |
unbegründet meist, aber in seiner Schwermütigkeit penetrant. Haas’ | |
Erzählungen sind simpel, banal mitunter und bleiben manchmal skizzenhaft. | |
Überhaupt schreibt er bildhaft, seine Storys sind wie kurze Bilderfolgen, | |
auf denen bestimmte Objekte überzeichnet sind. | |
Wer will, könnte auch ob der Kürze der Erzählungen Haas’ Faible für Comics | |
bestätigt finden. Der Publizist schreibt über Filme, Literatur und eben | |
über [1][Comics und Graphic Novels], auch in der taz. Übersetzt man sein | |
Schreiben auf einen Zeichenstil, würde Haas wahrscheinlich mit blassen | |
Farben malen, zwischendurch aber kräftige Striche setzen, die überraschen. | |
Der 1963 geborene Schriftsteller interessiert sich für Zäsuren in | |
ereignisarmen Leben, für den Moment, in dem Gewohntes plötzlich ganz anders | |
erscheint. Dabei bewegt er sich frei durch Gedankenwelten: Einmal ist es | |
ein Mann, der den Tankwart ersticht und sein Verhalten nüchtern | |
reflektiert, ein anderes Mal wird Eltern schließlich klar, dass mit ihrem | |
Sohn etwas gehörig nicht stimmt. Nicht ganz unschuldig könnten an diesen | |
menschlichen Irritationen die Jahreszeiten sein. | |
Haas’ Geschichten scheinen immer auf den heißesten Sommertag, auf den | |
feuchtesten Frühlingsabend zu fallen. Geradezu körperlich ist diese | |
meteorologische Überforderung spürbar, wie bei dem Erzähler aus „Ira“, d… | |
an einem warmen Tag Bier trinkt, einschläft und fröstelnd verwirrt erwacht. | |
## Verstrickungen entfalten sich | |
Haas lässt seine Leser:innen gern im Dunkeln, oft weiß man erst spät, in | |
welchem Verhältnis die Figuren zueinander stehen. Wie nebenbei entfalten | |
sich ihre Verstrickungen, unauffällig und unbeachtet, wie in „Sommer der | |
Liebe“, wo es Schicht für Schicht, Satz um Satz klarer wird, dass hier ein | |
Onkel seinen Neffen missbraucht. | |
Es sind bedrohliche Geschichten, die Haas erzählt, seine Figuren sind | |
neugierig wie feindselig, oft engstirnig in ihrem Denken. „Eine Nacht im | |
Juli, eine Nacht im Dezember“ ist auf seine Art sehr deutsch, es scheint | |
von einer unbedingt deutschen Jugend zu erzählen, deutsche Familien zu | |
skizzieren. | |
Dabei kommen direkte Verweise selten vor, Haas’ vornehmlich aus Hauptsätzen | |
bestehender Stil erinnert zudem eher an den Minimalismus amerikanischer | |
Erzähler:innen. Womöglich ist sowieso weniger die Nation entscheidend als | |
das Gefühl, im Hinterland zu leben, unbeachtet, auf trockenes Land oder in | |
den Vorgarten der Nachbarn starrend – bis es irgendwann knallt. | |
Diese eine Nacht im Juli, diese eine Nacht im Dezember, sie bedeutet im | |
Moment so viel, wird aber unweigerlich ob der zahllosen folgenden Tagen der | |
Monotonie langsam verblassen. Auswirkungen haben diese kurzen Momente der | |
Gefühlseruptionen ohnehin selten. Über Emotionen sprechen Haas’ Figuren | |
nämlich grundsätzlich nicht. | |
19 Apr 2021 | |
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## AUTOREN | |
Julia Hubernagel | |
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