# taz.de -- Besetzung der Volksbühne beendet: Glitzer zu Staub zu Glitzer | |
> Die Besetzer der Volksbühne stritten nächtelang mit Berlins Kultursenator | |
> über die Zukunft des Ostberliner Theaters. Am Donnerstag wurde geräumt. | |
Bild: Abmarsch | |
Es ist noch vor zehn Uhr am Donnerstag, als die Nachricht zum ersten Mal | |
durch die sozialen Medien geistert. Die Polizei habe mit drei | |
Hundertschaften die Berliner Volksbühne abgeriegelt. Für 12 Uhr war eine | |
Pressekonferenz anberaumt, in dem das [1][Kollektiv „Staub zu Glitzer“] | |
Rede und Antwort stehen wollte. Die Kulturinitiative besetzt seit sieben | |
Tagen das schönste und interessanteste, das ganz bestimmt [2][umstrittenste | |
Theaterhaus] dieser Nation. | |
Sieben Tage nun, in denen die Stadtgesellschaft streitet, [3][ob das | |
wichtig und richtig ist], was [4][diese jungen Leute da] tun. Sie sagen, | |
sie wollen den gerade erst angetretenen Intendanten [5][Chris Dercon] zum | |
Rücktritt zwingen und eine kollektive Intendanz einführen. Seit seiner | |
Berufung ist der Kulturmanager größten Anfeindungen in dieser Stadt | |
ausgesetzt. Er wird als Fremdkörper betrachtet, der niemals die Ära seines | |
Vorgängers Frank Castorf an der Volksbühne hätte beenden dürfen, [6][diese | |
wilde, anarchische Zeit]. | |
Das Kollektiv sagt aber auch, die Volksbühne sei ein symbolischer Ort, es | |
gehe um viel mehr als nur um Dercon. Man wolle sich künstlerische Freiräume | |
zurückerobern, wie man sie zuletzt im Berlin der goldenen 90er erlebt hat. | |
Von „Weltfrieden“ darf durchaus die Rede sein, von „Teilhabe“ auch. | |
Es ist elf Uhr und es sieht so aus, dass Teile der Besetzer die Volksbühne | |
freiwillig räumen. Noch sei keine Anzeige erstattet worden und es ist | |
unklar, wer überhaupt die Polizei gerufen hat. Die Polizei twittert, Dercon | |
befinde sich im Theater und spreche mit den Besetzern. Allerdings seien | |
nicht mehr so viele drin, 10 bis 15 Leute nur. | |
## Berliner, die nur ein Stück Stadt zurückwollen | |
Am Tag zuvor hatten die Berliner Kulturverwaltung und die Intendanz des | |
Hauses den Besetzern die friedliche Koexistenz angeboten. Sie sollten auf | |
zwei Nebenbühnen ausweichen, auf den Grünen Salon und einen kleinen | |
Glaspavillon. Doch im Plenum am Abend wurde eine Entscheidung vertragt. | |
„Dass nun plötzlich die Polizei hier steht, kam für mich völlig | |
überraschend“, sagt [7][Sarah Waterfeld], die Sprecherin des Kollektivs, | |
die in dieser Nacht nicht in der Volksbühne übernachtet hat und zu spät | |
kam, um noch eingelassen zu werden. | |
Hätten die Besetzer das Angebot annehmen können? Zwei kleine Seitenbühnen, | |
während im Haupthaus alles seinen Gang nimmt? | |
Große [8][Häme] ist in den letzten Tagen über diese Besetzer ausgeschüttet | |
worden, nicht nur von den konservativen Medien. Es hieß, sie seien naiv und | |
pubertär, ihre Forderungen hätten weder die Konsistenz noch die Relevanz | |
der 68er, die ihre Unis besetzten, und auch nicht die der Hausbesetzer in | |
den 70er und 80er Jahren. | |
Viele der Kritiker waren aber nicht vor Ort, als das Künstlerkollektiv am | |
Freitag um 15 Uhr zum ersten Mal das Haus betrat. Sie haben nicht gesehen, | |
wie am selben Abend Tausende vor den Türen der Volksbühne auf Einlass | |
warteten. All diese Leute, die sonst nicht viel mit Theater am Hut hatten. | |
Berliner, die hauptsächlich ein Stück von der Stadt zurück wollen, von dem | |
sie dachten, dass es auch ihnen gehört – ein Berlin, in dem einmal mehr | |
möglich war als die heute allgegenwärtige Sorge darum, wie man die nächste | |
Miete zahlen soll. | |
## Kultur für Alle | |
Zwölf Uhr, Daniel Bartsch, Pressesprecher von Kultursenator Klaus Lederer | |
(Linke), sagt, man habe die Polizei „in enger Abstimmung mit der Intendanz | |
des Hauses“ gerufen. Sarah Waterfeld hat sich entschieden, die | |
Pressekonferenz trotzdem in Angriff zu nehmen, auch hier hinterm Zaun. „Wir | |
sehen uns nicht veranlasst, dieses Gebäude zu verlassen“, ruft sie aus und | |
bekommt lauten Applaus. Weiter hinten räumen Musiker ihre Instrumente in | |
einen Umzugswagen. | |
Viel wurde in der Presse geschimpft, dass diese Besetzer Kulturbanausen | |
seien, dass sie Kultur verhindern. Das ist aber nicht richtig. Der reguläre | |
Spielbetrieb wird in diesem Haus erst Anfang November aufgenommen. Zwar | |
sind einige Proben ausgefallen, aber auf Anordnung Chris Dercons, und | |
entgegen der Einladung der Besetzer, sie trotzdem zuzulassen. | |
Dreizehn Uhr, vor der Volksbühne beginnen Teile der Gruppe um Sarah | |
Waterfeld, Theater in Gang zu setzen. Einer liest aus Artikel 27 der | |
allgemeinen Menschenrechte: „Jeder hat das Recht, am kulturellen Leben der | |
Gesellschaft frei teilzunehmen.“ Einer spielt Mundorgel. Einer stellt sich | |
als protestierender Mieter aus Pankow vor. In den Gesichtern der Besetzer | |
liegt viel Sanftes. Ein wenig Stolz vielleicht. | |
In den vergangenen Tagen haben sie nicht nur WG-Palaver, Kinderschminken | |
und Vokü, sondern ein vielfältiges Kulturprogramm in der Volksbühne auf die | |
Beine gestellt. Volksbühnenregisseur René Pollesch hat ihnen einen | |
Mitschnitt seines ewig aktuellen Stücks „Stadt als Beute“ zur Verfügung | |
gestellt. Es gab eine szenische Lesung des Theaterstücks „Der Herr Karl“. | |
Oder auch einen Dokumentarfilm über den schwungvollen Protest von Künstlern | |
in Kairo im Arabischen Frühling. | |
## Der Chris schläft im Clubsessel | |
Irgendwann sagt Sarah Waterfeld grinsend: „Oh, der Polizeisprecher sagt | |
wieder was. Da findet offenbar eine Parallelveranstaltung statt.“ Immer | |
wieder hat sie in den letzten Tagen davon gesprochen, dass diese Besetzung | |
eine „kollektive, transmediale und mimetische Theaterinszenierung“ sei. | |
Sie meint damit: Alles, was um die Besetzung herum passiert, wird | |
vereinnahmt. Diese ganze aufgeregt Stadtgesellschaft. Der Streit in der | |
Presse. Die Reaktion der Politik. Selbst Chris Dercon wird einfach | |
eingebaut, der angeblich in der Nacht auf Mittwoch wieder lang mit den | |
Besetzern geredet hat und dann um drei Uhr auf zwei zusammengeschobenen | |
Clubsesseln eingeschlafen ist. | |
Dreizehn Uhr dreißig, die Polizei gibt bekannt, Chris Dercon habe Anzeige | |
wegen Hausfriedensbruch erstattet. Wer nicht freiwillig gehe, müsse geräumt | |
werden. Jetzt haben all jene ihren Willen, die diese Besetzer von Anfang an | |
in die Ecke stellten. Da sei eine „latente Stimmung aus Angst, Hass und | |
Gewalt, die jederzeit kippen kann“, schrieb Hans Marquardt in der B.Z. Dies | |
sei ein Problem, dass man „der Erfahrung und dem Fingerspitzengefühl der | |
Exekutive hätte überlassen sollen“, so Ulrich Seidler in der Berliner | |
Zeitung. | |
Kultursenator Klaus Lederer ist der Aufforderung nachgekommen, | |
einzugreifen. Man hat ihm vorgeworfen, er habe zu sehr die Sprache dieser | |
Leute geteilt. Er habe den Nährboden für den Aufstand gelegt, als er kurz | |
nach Amtsantritt vor knapp einem Jahr verkündete, die Personalie Dercon | |
müsse noch einmal überdacht werden. | |
## Hier rebellieren die Politikverdrossenen | |
Aber was sind das wirklich für Leute, diese Besetzer, denen solche | |
Aggression unterstellt wird? Es hilft, sie sich an diesem Nachmittag | |
genauer anzusehen. Ihre Wollpullover wirken weich, ihre Augen glühend. | |
Da ist zum Beispiel Victor, der Sozialwissenschaften studiert hat und bei | |
der Besetzung der Humboldt Uni im letzten Winter dabei war. Da ging es um | |
den renommierten Berliner Sozialwissenschaftler und Gentrifizierungsgegner | |
Andrej Holm, dessen falsche Angaben in Bezug auf seine Tätigkeit als | |
Mitarbeiter der Stasi aufgeflogen waren. Zuerst durfte er nicht mehr | |
Staatssekretär sein, dann sollte er auch noch sein Amt an der Uni | |
verlieren. Vier Wochen campierten die Studenten im Gebäude, dann wurde Holm | |
wieder eingestellt. | |
Da ist die stets freundliche und subversive Sarah Waterfeld. | |
Da sind die anderen Menschen, die jetzt ins Megafon sprechen, all sie | |
wirken ausgesprochen wohlerzogen. Es wird wohl in die Geschichte der | |
sozialen Bewegungen eingehen, wie sehr hier alle bemüht waren, jeden Morgen | |
den Müll wegzuräumen, nichts zu beschädigen und jeden rauszuschmeißen, der | |
auch nur ein Graffiti versucht hätte. | |
Jedenfalls hat hier eine Generation etwas ausprobiert, der sonst eher allzu | |
viel Zielstrebigkeit und Politikverdrossenheit nachgesagt wird. | |
## Nichts ist ausgestanden | |
Ab 14 Uhr werden die ersten der letzten Besetzer am Arm aus der Volksbühne | |
geführt. Sie wehren sich nicht. Einer von ihnen sagt, die Polizei habe im | |
Foyer ein Büro aufgebaut und nehme die Personalien der Besetzer auf. Um 16 | |
Uhr soll es vorm Haus eine Vollversammlung geben, danach Party und Essen, | |
alle sind eingeladen. Die Stimmung ist weiterhin friedlich, ja fröhlich. | |
Sarah Waterfeld sagt mit sonniger Miene, man mache jetzt halt erst einmal | |
draußen weiter. „Mal sehen, wer am längeren Hebel sitzt.“ | |
Chris Dercon wird es wohl auch in Zukunft nicht leicht haben in dieser | |
Stadt. Der Streit um die Volksbühne: Er ist noch lang nicht ausgestanden. | |
28 Sep 2017 | |
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## AUTOREN | |
Susanne Messmer | |
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