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# taz.de -- Freiraum in Rummelsburg bedroht: Aufs falsche Schiff gesetzt
> Auf der „Freibeuter“ in der Rummelsburger Bucht hat sich eine Handvoll
> Idealisten niedergelassen. Dem Bezirk ist das egal. Hauptsache, das
> Schiff verschwindet.
Bild: Wie lange darf es noch hier, in der Rummelburger Bucht, liegen?
„Ein Forscher, der an die Antarktis will, geht wahrscheinlich nicht, weil
es so gemütlich ist, dorthin, sondern weil ihn das interessiert.“ Hört sich
plausibel an. Die Antarktis von Architekt und Tangolehrer Markus Ibrom,
seinen fünf Kolleg*innen, Kindern und einem Hund von der Forschungsstation
für Autarkie und Gemeinschaft – kurz: Station AuGe – liegt im Berliner
Osten. Seit Mai dieses Jahres sind sie die Besatzung der „Freibeuter“, des
inoffiziellen Wahrzeichens der Rummelsburger Bucht.
Bis vor vier Jahren war die Container-Anlage auf Pontons hinter dem Bahnhof
Ostkreuz als Jugendfreizeitschiff des Bezirks Friedrichhain-Kreuzberg
bekannt. Dann musste der damalige Betreiber Insolvenz anmelden. Seitdem
wollte der Bezirk sich das Schiff vom Hals schaffen. Die Station AuGe
erhielt in einem Bieterverfahren den Zuschlag. Für 225.150 Euro wechselte
die marode „Freibeuter“ den Besitzer. Nun aber will der Stadtrat das Schiff
zurück.
Dazwischen ist einiges passiert. Die „Freibeuter“ trägt vornehmes Grau
statt Villakuntabunt-Fassaden und passt sich damit besser an die urbanen
Wohnanlagen an, die im Uferbereich entstanden sind. Das Schiff musste
komplett entkernt werden. Als es von AuGe übernommen wurde, waren, so
Ibrom, alle technischen Anteile der Lüftung geklaut, auch alle Kupferteile,
das gesamte Heizungs- und Elektrizitätssystem schwer demoliert. Ein großer
Wasserschaden musste behoben und die gesamten Böden und die Dämmung
ausgetauscht werden.
Die Crew, deren Kern außer Ibrom die Heilpädagogin Sanna Pommeranz und die
Unternehmerin Jennifer Smith bilden, heuerte andere Wasserbewohner*innen an
und kann inzwischen eine ansprechende Anlage aufweisen: einen großen
modernen Büroraum mit Architektentisch und mehreren Arbeitsplätzen, kleine
Schlafkojen, Kombüse und geräumige Schiffsmesse zum Kochen und Essen.
Dazu kommen noch in Arbeit befindliche Freizeitflächen, darunter ein
Tanzsaal, ein „Tempel“ (für alles zwischen Meditation und Sinnlichkeit),
ein Dachgarten – sowie Sanitäranlagen. Ausgiebig präsentiert Ibrom die
Vorzüge der angeblich fast geruchsfreien Biotrenntoilette sowie als
Herzstück eine Wasserfilteranlage. Durch ein mehrstufiges, derzeit noch
wartungs- und einarbeitungsintensives Verfahren wird das Seewasser in
Dusch- und Trinkwasser umgewandelt.
Zu erreichen ist das Schiff über zwei lange, schmale Landungsbrücken vom
Ufer. Am hinteren Ende liegen Zubringboote, die andere
Wasserbewohner*innen, die an Land gehen, dort vertäuen. Den Tagesablauf
bestimmen die täglichen Meetings morgens und abends, in denen es um die
praktische Umsetzung der Forschungsfragen geht: Wie wird nachhaltig
Gemeinschaft gelebt? Welche ökologischen und ökonomischen Konzepte
ermöglichen die angestrebte Autarkie?
## Der Ort als Potenzial
Die Crew will sich jedoch mit diesen Fragestellungen nicht aus der
gesellschaftlichen Verankerung lösen. Im Gegenteil: Es gehört zum
Forschungsanliegen, soziale Netzwerke zu bilden und den Ort und die
Kapazitäten der Crew als Potenzial zur Verfügung zu stellen.
Eine der ersten Community-Einsätze war eine Solidaritätskampagne für die
Anfang des Jahres aus ungeklärter Ursache abgebrannte Hausbootinsel
Lummerland. Durch eine Crowdfunding-Kampagne und eine Solidaritätsparty
konnten zwei Wracks vom Grund geborgen und der Müll entsorgt werden.
Andernfalls hätte der Bezirk die Arbeiten übernommen und den ehemaligen
Bootsbesitzern in Rechnung gestellt.
Auch die Jugendarbeit, die in der DNA des Schiffs liegt, wurde
wiederaufgenommen. Für die Oberstufen der Schulen in den Bezirken
Lichtenberg und Friedrichshain-Kreuzberg soll ein Ruderclub entstehen: „Bis
vor dem Zweiten Weltkrieg war die Bucht Zentrum des Rudersports, daran
möchten wir anschließen.“
Darüber hinaus ist die „Freibeuter“ ab diesem Schuljahr auch alternatives
Klassenzimmer. Der PepperMont-Schule im Prenzlauer Berg wurde die
Entwicklung ihres Dualschulunterrichts dort genehmigt.
Lebensmittelherstellung und -lagerung, Floß- und Dachgartenbau sind Themen,
die auf dem Lehrplan stehen. Die Initiative kam von den Jugendlichen
selbst. Und zum Abendprogramm gehören Tango- und Kulturveranstaltungen,
Foodsharing-Kochen und Essen bei Lagerfeuer auf dem Deck. Für den Winter
ist eine Sauna geplant.
Eintritt wird nicht erhoben. Kommen darf jede*r. AuGe hat sich dem Konzept
einer Schenkökonomie verschrieben: Der Austausch von Gütern und
Fähigkeiten soll die Alltagsbedürfnisse regeln. Die Schulden der
genossenschaftlich organisierten Trägerinitiative können so momentan jedoch
nicht beglichen werden. Den Kaufpreis für das Schiff hat der Bezirk
Friedrichshain-Kreuzberg bislang noch nicht erhalten. Zwar hat die GLS-Bank
der Crew einen Kredit zugesagt, jedoch nur gegen Vorweisen eines
Liegeplatzes. Und diesen hat der Bezirk, obwohl er eigentlich noch bis 2028
gepachtet war, nicht weitergegeben.
## Allzu viel Optimismus?
Wie schwierig die Suche nach einem anderen Liegeplatz werden würde, das hat
die anfangs allzu optimistische Crew unterschätzt. Erstens gibt es kaum
Uferplätze, die einem Schiff mit der Windangriffsfläche eines
Hochseetankers trotzen. Zweitens passt die „Freibeuter“ unter keine Brücke
und ist somit auf einen Liegeplatz im Bezirk beziehungsweise in Köpenick
oder Lichtenberg angewiesen.
Gespräche bis auf die Ebene der Bezirksverordnetenversammlung blieben
bislang erfolglos, Stadtrat Florian Schmidt (Grüne) zeige sich, so Ibrom,
nicht an einer Lösung interessiert. Das bestätigt eine Anfrage: Das Schiff
sei ohne Liegeplatz verkauft worden mit der Auflage, es binnen drei Monaten
wegzuschaffen. Die Genehmigung für den Standort sei ursprünglich nur
ausnahmsweise und nur zum Zweck der Jugendarbeit erteilt worden.
Dass AuGe an diesen Zweck anknüpft, ist nicht mehr relevant. Durch das
Schiff seien „zerstörerische Eingriffe in die Natur entstanden“, diese
gelte es auszugleichen. Die Nachfrage nach einem Gutachten zu den
entstandenen Schäden leitet das Büro des Stadtrats mit der Bitte um Geduld
an das Umweltamt weiter.
Die Geduld für die „Freibeuter“ scheint dagegen am Ende. Bereits im August
forderte der Bezirk die Crew zur „Rückgabe der Sache“ bis Ende September
auf. Die Forschergemeinschaft lässt sich vorerst durch die arktische
Ungemütlichkeit der Situation nicht aus der Ruhe bringen. Sie hofft auf
weitere Gespräche und letztlich auf einen alternativen Liegeplatz.
Sollte sich die Hoffnung nicht erfüllen, werden die 80.000 Euro
Eigenkapital für die Instandsetzung des Wohn- und Gemeinschaftsschiffs ins
Wasser gefallen sein. Für Stadtrat Schmidt gibt es derzeit nur zwei
Optionen: Entweder findet sich ein anderer Käufer, der das Objekt
wegschafft – oder „Verschrottung“.
7 Oct 2017
## AUTOREN
Astrid Kaminski
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