| # taz.de -- Volksbühne und Berliner Ensemble: Premieren auf zwei Bühnen | |
| > Castorf-Inszenierung „Les Misérables“ hatte am Freitag Premiere. Am Abend | |
| > zuvor zeigte die Volksbühne ebenfalls eine Theaterpremiere. | |
| Bild: „Les Misérables“ am Berliner Ensemble | |
| Es beginnt großartig, mit einer Abschweifung. Ein alter Mann, der im | |
| Morgenrock auf der verrauchten Bühne sitzt, doziert fast eine halbe Stunde | |
| lang über die Kanalisation von Paris, über die Verschwendung von Millionen | |
| für den Staatshaushalt, weil die Scheiße nicht als Dünger genützt wird. | |
| Schon das alte Rom sei an dieser Verschwendung zugrunde gegangen. | |
| Frank Castorf, der im Berliner Ensemble „Les Misérables“ nach Victor Hugo | |
| inszeniert, ist selbst ein Meister der Abschweifung und war fasziniert von | |
| diesem Kapitel in Hugos Roman. Hängt der doch nichts weniger als eine | |
| Geschichtsphilosophie an den gebauten Kanalmetern und den Exkrementen auf, | |
| von der im Untergrund verborgenen Wahrheit und der Hybris der oben | |
| Wandelnden. Man muss lange gelebt haben, um so Vergangenheit auf den Punkt | |
| zu bringen. Jürgen Holtz, Schauspieler und Schauspielerlegende, schafft es | |
| in diesem Monolog, das Tor weit zu öffnen für den Atem der Geschichte und | |
| sofort Konzentration herzustellen. So könnte man dem Theater lange folgen, | |
| aber so einfach bleibt es nicht in der über sieben Stunden dauernden | |
| Castorf-Inszenierung. | |
| „Les Misérables“ hatte am Freitag im Berliner Ensemble Premiere. Es ist | |
| Castorfs erste Berliner Arbeit nach der Volksbühne und ein kapitales Pfund, | |
| mit dem der neue BE-Intendant Oliver Reese in seinem dichten Spielplan | |
| wuchern kann. Selbst wenn man einiges davon gar nicht so spannend findet, | |
| erzeugt die Vielfalt doch Respekt. | |
| Am Abend zuvor hatte die Volksbühne, von Castorf-Nachfolger Chris Dercon | |
| geleitet, die erste größere Theaterpremiere gezeigt: „Woman in Trouble“ v… | |
| der Regisseurin Susanne Kennedy. Weil dort bisher so wenig läuft, wird jede | |
| Arbeit zu einem Prüfstein. Können die das überhaupt, Theater in diesem | |
| großen Haus? | |
| ## Ein moralischer Skandal | |
| Da gibt es einerseits Erleichterung. „Woman in Trouble“ ist den Dimensionen | |
| des Raums gewachsen. Aber eben auch deshalb, weil die Sprache hier von | |
| Anfang akustisch verstärkt und losgelöst wird von den Schauspielerkörpern. | |
| Die wandeln mit dünnen Masken über dem Gesicht eher wie Avatare durch die | |
| cleanen Räume auf der sich immerfort drehenden Bühne. An Bildschirmschoner | |
| erinnert das Design der Bühne von Lena Newton nicht von ungefähr. Die | |
| Künstlichkeit dieser Lebenswelt ist mehr als ein bloßes Stilmittel der | |
| Regisseurin. Leben ist in „Woman in Trouble“ eine endliche Serviceleistung. | |
| Die Sprache der Pharmakologie, der Marktforschung oder aus Klinikprospekten | |
| legt sich über alles. Das Selbst ist nur noch in der Nutzung von | |
| Einrichtungen erfahrbar. Das ist furchtbar und beängstigend, wie es an | |
| diesem Theaterabend in fließenden Tönen und sanften Farben unablässig an | |
| den Augen vorüberrollt. Was an technisch möglicher und ökonomisch | |
| wahrscheinlicher Zukunft aufscheint, ist gruselig. Nicht zuletzt, weil der | |
| Modus des Wartens und der Langeweile jede andere Erlebens- und | |
| Erzählstruktur verdrängt zu haben scheint. Was den Theaterabend prägt und | |
| deshalb nicht gerade Begeisterung auslöst. | |
| Zwei Wochen vor Castorfs Premiere hatte das BE zu einem Gespräch mit ihm | |
| geladen. Klar fragten die Journalisten, wie er sich denn jetzt am BE fühle, | |
| wo er zuletzt vor zwanzig Jahren Heiner Müllers „Der Auftrag“ inszeniert | |
| hatte, (ein Text, der in „Les Misérables“ fortspukt und in großartige | |
| Exkurse mündet, von Stefanie Reinsperger über den Verrat und Abdoul Kader | |
| Traoré über den Aufstand und die Sklaverei). Wie Castorf jetzt die | |
| Volksbühne sehe, wollte man auch wissen. Er antwortete, dass es schon | |
| erleichternd sei, für einen Zuschauerraum zu arbeiten, in dem man die | |
| Schauspieler verstehe und ihre Gesichter zu erkennen sind. Nur widerwillig | |
| ging er auf Dercon ein, dann aber voller Empörung. Ein solches Haus zu | |
| führen und dann nicht jeden Abend auf der großen Bühne zu spielen sei ein | |
| moralischer Skandal. | |
| ## Die böse Hexe aus Grimms Märchen | |
| So hat die Theaterstadt Berlin mit dem Berliner Ensemble und der Volksbühne | |
| zwei Kontrahenten, die auch jeweils die Wahrnehmung des anderen | |
| mitbestimmen. | |
| „Les Misérables“ ist Castorf von altem Schrot und Korn. In vielen Szenen | |
| verführerisch und alle erotischen Reize der Schauspielerinnen Thelma | |
| Buabeng und Valery Tscheplanowa nutzend eine ständige Ablenkung schaffend, | |
| gegen welche die erzählte Episode sich mit Verve behauptet. Mit viel Laune | |
| einzelne Szenen detailreich ausmalend, wie das Abendessen des entlassenen | |
| Galeerensträfling Jean Valjean, von Andreas Döhler mit Ängstlichkeit und | |
| unterdrückter Empörung sehr nachvollziehbar gezeichnet, bei einem Bischof, | |
| den er später beklauen wird. Mit großer Bissigkeit, Witz und Klugheit in | |
| einzelnen Diskursen, die sich an einem Stichwort aufhängen und aus dem | |
| Zeithorizont von Hugos Roman in die Gegenwart springen, in der Ausbeutung, | |
| Sklaverei und Aufstand wieder diskutiert werden. | |
| Auch findet die Inszenierung einen überzeugenden Umgang mit der Naivität | |
| der Einteilung von Hugos Figuren in Gut und Böse, etwa im Blick auf die | |
| Thénardies, die stets ihren Vorteil suchen. Die böse Hexe aus Grimms | |
| Märchen ist dann die Folie, auf der man das Paar, das ihrer Obhut | |
| anvertraute Kinder tyrannisiert und die Mütter erpresst, liest. | |
| ## Träume und Gedichte | |
| Nicht zuletzt besticht, dass man Castorfs Liebe zu den Schauspielern spürt, | |
| wenn er sie ihre Figuren mit vielen Schattierungen ausleuchten lässt, wie | |
| Wolfgang Michael als Polizeiagent Javert, der in seiner hypertrophen | |
| Gesetzestreue ganz vertrocknet und faltig geworden ist und sich doch sehr | |
| wohlfühlt in seiner Griesgrämigkeit. | |
| Aber das, was er gut kann, reicht Castorf ja selten. Warum sollte man bei | |
| einer Geschichte bleiben, wenn man doch mehr weiß, über ein fast | |
| enzyklopädisches Wissen verfügt, aus einem historischen Fundus schöpft. | |
| Etwa dem Roman über Kuba kurz vor der Revolution, „Drei traurige Tiger“, | |
| von Guillermo Cabrena Infante – wie ein Fieberwahn werden dessen Texte | |
| eingeschoben. | |
| Träume, Gedichte und surreale Bilder verbinden die Welt des 19. mit der des | |
| 20. Jahrhunderts. Doch in diesem Erzähllabyrinth geht man als Zuschauer | |
| leicht verloren und bekommt dann am Ende selbst die Figuren aus „Les | |
| Misérables“ nicht mehr klar. Wer ist jetzt die unglückliche Mutter Fantine | |
| und wer ihre Tochter Cosette? Zumal das Ende oft vor dem Anfang erzählt | |
| wird. | |
| ## Blick in die Hölle | |
| Von einem solchen Umgang mit dem Körper und den Leidenschaften des | |
| Schauspielers ist die Regisseurin Susanne Kennedy, die auch Mitglied des | |
| Programmbeirats der Volksbühne ist, weit entfernt. Ihr Theater ist eines, | |
| das die Oberflächen einer Gegenwart abtastet, in der sich dort, wo sich bei | |
| Castorf stets mindestens eine Falltür in die Vergangenheit öffnet, nur ein | |
| weiterer Bildschirm in den Blick schiebt. Mehrere Screens im Bühnenbild | |
| werden von den Figuren im Stück mit weiteren digitalen Geräten abgefilmt. | |
| Auch das Publikum hebt dann und wann dezent das Smartphone, klick. (Bei | |
| Castorf übrigens auch.) | |
| „Woman in Trouble“ ist eine Koprodukion mit dem Theater Rotterdam, | |
| gesprochen wird ein wohlartikuliertes Englisch, die deutsche Übertitelung | |
| läuft mit. Gleich mehrere Schauspielerinnen verschwinden hinter der Maske | |
| der Hauptfigur Angelina Dreem, in jedem der Räume erneut verkörpert. Sie | |
| ist wegen Krankheit in einer Klinik, in der jede Geste eine beruhigende | |
| Lüge scheint, und sie ist Schauspielerin einer Serie, die nun ihre | |
| Krankheit nutzt, um beim Sterben live dabei zu sein. Die Texte und Dialoge, | |
| fast alle von Susanne Kennedy second hand aus Zitaten zusammengebastelt, | |
| kreisen dabei auch mehrmals um die Herabsetzung von Schauspielerinnen, mit | |
| einem Zitat aus einem Film von John Cassavetes: „Schauspielerinnen werden | |
| geschlagen, das ist Tradition, das ist nicht erniedrigend.“ | |
| Es gibt keinen Widerspruch, es gibt nur die Krankheit. Nimmt man das im | |
| ständig kreisenden Bühnenkarussell unablässig erzeugte Gefühl hinzu, das | |
| eigene Leben nur als Kopie von anderen zur Verfügung zu haben, erscheint | |
| diese bonbonfarbene Welt als Blick in die Hölle. | |
| 3 Dec 2017 | |
| ## AUTOREN | |
| Katrin Bettina Müller | |
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