| # taz.de -- Theaterstück über die Stasi: Ende einer Jugend | |
| > Von Erwachsenen im Stich gelassen: Am Berliner Ensemble inszeniert die | |
| > Regisseurin Leonie Rebentisch „Gittersee“ nach dem Roman von Charlotte | |
| > Gneuß. | |
| Bild: Die besten Szenen des Abends sind die zwischen den herumalbernden Freundi… | |
| Der Roman [1][„Gittersee“] löste bei seinem Erscheinen eine | |
| identitätspolitisch bewegte Ost-West-Debatte aus. Es ging um die Frage, ob | |
| die Autorin Charlotte Gneuß über die siebziger Jahre der DDR schreiben | |
| könnte und vor allem dürfte, da sie selbst doch nach der Wende im ziemlich | |
| westlichen Ludwigsburg geboren ist. Nun, da „Gittersee“ am [2][Berliner | |
| Ensemble] zum ersten Mal adaptiert wird, kommt man nicht umhin, die | |
| Biografien der Ensemblemitglieder zu prüfen. Das Ergebnis ist erstaunlich, | |
| zumal für eine Berliner Produktion: Nur zwei Spielerinnen, Rahel Ohm Und | |
| Kathleen Morgeneyer, haben eine Ostvergangenheit. | |
| Wer will, kann diese Besetzung als Statement für den Universalismus | |
| interpretieren, als Plädoyer für das Versprechen, jede und jeder könne alle | |
| erdenklichen Rollen spielen. Ergibt sich hieraus an diesem Abend ein | |
| Problem? Kein politisches jedenfalls. Was die Ästhetik, was das Spiel | |
| angeht, hätte ein wenig eigene Anschauung und eigenes Erleben Regie und | |
| Spielern aber vielleicht Sicherheit gegeben. | |
| Denn anfangs wirkt das Setting doch etwas hektisch etabliert: ein Bauernhof | |
| am Rande Dresdens, die sechzehnjährige Karin passt auf ihre kleine | |
| Schwester auf, während die Eltern mit sich selbst beschäftigt sind und die | |
| Großmutter in Erinnerungen an die guten alten Weltkriegszeiten schwelgt. Da | |
| klingelt ein fremder Mann an der Tür. Von der Stasi kommt er und stellt | |
| Fragen zu Karins Freund Paul, der Republikflucht begangen hat. | |
| Diese Erstbegegnung zwischen Staatsmacht und Burger referiert eher auf all | |
| die ähnlichen Szenen in Filmen und Büchern, als dem Genre Stasi-Geschichte | |
| noch etwas Neues zu entlocken. Da springt Kathleen Morgeneyer als Mutter | |
| aufgebracht zwischen ihrer Tochter und dem von Paul Herwig gespielten | |
| Geheimdienstler hin- und her, der mit einem | |
| „Ich-stelle-hier-die-Fragen“-Blick genau diesen Satz sagt, während Amelie | |
| Willberg als Karin nur konsterniert in die Leere starrt und selbst nicht | |
| sicher ist, was hier gerade passiert. | |
| ## Ein vermeidbares Unglück | |
| Ja, was passiert? Hier endet gerade abrupt eine Jugend, hier verliert ein | |
| junger Mensch schuldlos seine Unschuld. Denn Karin wird bald darauf | |
| Inoffizielle Mitarbeiterin. Ein vermeidbares Unglück, denn sie erliegt den | |
| Anwerbeversuchen des Mannes von der Stasi nur deshalb, weil der vorgibt, | |
| sie zu sehen, während alle anderen Erwachsenen mit sich selbst befasst | |
| sind. Der Vater säuft; die Mutter ist depressiv; die derbe Oma, von Rahel | |
| Ohm sehr fein gespielt, hat ein waches Auge, aber zu wenig Herz, um der | |
| Enkelin beizustehen. | |
| Und so sucht das Mädchen Zuflucht bei der Staatsgewalt, nimmt Zigaretten, | |
| Bierflaschen und Komplimente von dem Stasi-Mann entgegen, freut sich | |
| darüber, dass er mit ihr wie mit einer Erwachsenen umgeht, legt sogar | |
| vertrauensvoll den Kopf auf seiner Schulter ab. Nein, kein körperlicher | |
| Übergriff wird hier folgen, durchaus aber ein Missbrauch. Denn hier | |
| bemächtigt sich der Staat eines jungen Lebens. Schon bald wird Karin, um | |
| Anerkennung gierend, ihren Bekannten Rühle (Gabriel Schneider) und sogar | |
| ihre beste Freundin Marie (Irina Sulaver) verraten. | |
| Weiße Papierbahnen fallen von der Decke auf Sabine Mäders ansonsten | |
| weitgehend leere Bühne herab. Sie stehen für die Protokolle, die der | |
| Stasi-Mann anfertigt, aber auch für die Verwirrung junger Menschen, die | |
| eben noch gespielt haben und nun mit allen Konsequenzen leben müssen. | |
| Willberg irrt immer wieder durch die Streifen hindurch. | |
| ## Die Politik und die Katze | |
| An einer sehr klugen Stelle redet ihre Karin dann mit der Freundin über | |
| Kapitalismus und Sozialismus und darüber, ob auch sie rübermachen wollen | |
| würden, als Marie nur für einen Satz das Thema wechselt und fragt: „Habe | |
| ich dir eigentlich schon erzählt, dass die Katze von Marlene schwanger | |
| ist?“ Ja, so könnte es gewesen sein, so könnte es ausgesehen haben im Kopf | |
| einer jugendlichen DDR-Bürgerin, für die Politik, Klassengegensätze und die | |
| Verfasstheit ihres Staates genauso relevant waren wie die schwangere Katze | |
| der Freundin. | |
| Die Szenen mit Willberg und Sulaver sind ohnehin die besten des knapp | |
| zweistündigen Abends. Die beiden albern und kichern, spinnen herum und | |
| flüstern einander Geheimnisse ins Ohr, machen also alles, was | |
| Teenagerfreundinnen eben so tun, nur mit dem Unterschied, dass die eine der | |
| beiden diese Geheimnisse dann an den Staat weiterträgt. Das war neu und | |
| interessant an Gneuß’ Roman: dass es die Schutzlosigkeit einer Generation | |
| zeigte, die von den Erwachsenen im Stich gelassen wurde. Leonie Rebentisch | |
| bringt diese Perspektive auf die DDR-Geschichte nun geschickt und | |
| einfühlsam zur Geltung. Ihre Inszenierung taugt als Beispiel einer | |
| gelungenen Adaption. | |
| 4 Nov 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Michael Wolf | |
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