| # taz.de -- Brecht am Berliner Ensemble: Entscheidend ist das Sein | |
| > Dušan David Pařízek inszeniert Brechts „Die heilige Johanna der | |
| > Schlachthöfe“. Es ist Stefanie Reinspergers letzte Premiere am Berliner | |
| > Ensemble. | |
| Bild: Stefanie Reinsperger in der Rolle der Fleischfabrikantin Mauler | |
| Das Stück ist – typisch Brecht – eher eines zum Mitdenken als zum | |
| Mitfühlen, und auch die Regie sucht keine emotionalen Tiefen, wo der Autor | |
| sie nicht versteckt hat. Tränen fließen gleichwohl an diesem Abend, als der | |
| Applaus für Hauptdarstellerin Stefanie Reinsperger aufbrandet. Es ist nach | |
| bald acht Jahren am Berliner Ensemble ihre letzte Premiere an diesem Haus. | |
| [1][Reinsperger geht zurück nach Wien], von wo sie vor acht Jahren herkam. | |
| Dort war sie ein Star, in Berlin fiel sie zumindest immer auf. | |
| Als ihr Markenzeichen galt bald die ab Mitte einer Aufführung zuverlässig | |
| von Schweiß und Tränen verschwommene Schminke. Pure Energie, pure Präsenz | |
| brachte sie auf die Bretter, das war meist und das ist auch an diesem Abend | |
| Schauspiel als Schwerstarbeit, eher Hochleistungssport als filigrane Kunst. | |
| Nie hat Reinsperger ganz die österreichische Sprachmelodie aufgegeben, | |
| immer blieb sie deutlich als Person, als Type erkennbar. Gerade das | |
| qualifiziert sie durchaus als Brecht-Schauspielerin: der Unwille in einer | |
| Figur aufzugehen. Stefanie Reinsperger verkörpert keine Rolle, sie stemmt | |
| sie in die Höhe, damit man sie auch in den hintersten Reihen noch gut sehen | |
| kann. | |
| Und ja, man erkennt auch ihre Mauler bestens, jene profitgierige | |
| Fleischfabrikantin aus Chicago, die bei [2][Brecht] eigentlich ein Mann | |
| ist, was aber nichts macht. Unerheblich ist ferner, dass sie ein Herz hat, | |
| dass sie sich angeblich sogar von den Schreien der Tiere erweichen lässt, | |
| ihr Unternehmen zu verkaufen, dass sie auch eine Schwäche für Johanna Dark | |
| verspürt, jene titelgebende „Heilige Johanna der Schlachthöfe“, die sich | |
| gütig um die Arbeiter kümmert, die vor den geschlossenen Toren der Fabriken | |
| hungern, während Mauler und ihre Konkurrenten sich einen gnadenlosen | |
| Preiskampf liefern. | |
| Ganz egal also, so die Moral des Stücks, ob eine ein Herz hat oder jemand | |
| an Gott glaubt. Entscheidend ist das Sein, nicht das Bewusstsein, und nun, | |
| das Sein ist hier der knallharte Kapitalismus, in dem ein jeder zum Monopol | |
| strebt, mit der Belegschaft verfährt wie mit dem Vieh, das es schlachtet | |
| und eben diese Verhältnisse als gottgegeben verbrämt. | |
| Klasse bei Brecht und Marx | |
| Das Stück ist sicher eines der marxistischsten Werke Brechts und [3][Marx] | |
| hatte bekanntlich nichts gegen die Kapitalisten als Personen einzuwenden. | |
| Sie nahmen schlicht ihre Rollen ein in einem System der Klassengegensätze. | |
| Völlig unerheblich also, ob ein Unternehmer ein netter Kerl ist und ein | |
| Arbeiter wiederum ein Lump. Von Belang ist lediglich, was [4][Theodor | |
| Adorno] später schrieb, und was man als Motto des Stücks bezeichnen könnte: | |
| „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“ | |
| Um wahrlich richtig zu leben, gilt es also die Verhältnisse umzustürzen, | |
| doch Kathleen Morgeneyers Johanna vergibt diese Chance, sie versagt als | |
| Klassenkämpferin, lässt das Proletariat im entscheidenden Moment im Stich | |
| und wird stattdessen von Mauler und ihren Spießgesellen als Märtyrerin im | |
| Kampf gegen das Elend instrumentalisiert. | |
| Der Profit, er ist stets selbstverdient, während das Elend scheinbar vom | |
| Himmel fällt. Regisseur Dušan David Pařízek bringt die Brechtschen Lehren | |
| mit leichter Hand unter die Leute. Sein fünfköpfiges Ensemble schlittert in | |
| einem zum Publikum geneigten Holzkasten umher, lässt sich von | |
| Dollarscheinen berieseln, öffnet charmant die vierte Wand, fordert das | |
| Publikum zum Mitsingen- und -denken auf, spielt munter Schattenspiele mit | |
| einem Overhead-Projektor, denn die einen sind im Licht und die anderen | |
| sieht man nicht. | |
| Kurzum: ein klug inszenierter Brecht-Abend, der über lockere zweieinviertel | |
| Stunden gut unterhält und bestens in den Spielplan dieses Hauses passt. | |
| 3 Mar 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Michael Wolf | |
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