# taz.de -- Kim de l'Horizons „Blutbuch“: Das leibliche Ding feiern | |
> Premiere in Potsdam: Kieran Joel bringt nach Kim de l’Horizons Roman | |
> „Blutbuch“ eine Landschaft aus Großmutterfleisch überzeugend auf die | |
> Bühne. | |
Bild: Szene aus „Blutbuch“ | |
Im Herbst 2022 sorgte die nonbinäre Person Kim de l’Horizon bei der | |
Verleihung des Deutschen Buchpreises für Aufsehen, als sie sich aus | |
Solidarität mit den Frauen im Iran [1][den Schädel kahl rasierte.] Ihr | |
ausgezeichneter [2][Roman „Blutbuch“] ist seither mit dieser Performance | |
verbunden, eine Trennung von Autorschaft und Werk ergibt hier noch weniger | |
Sinn als in vergleichbaren autofiktionalen Büchern. Der Leib der | |
Autorenperson wird in „Blutbuch“ in Relation zu denen anderer Menschen | |
erklärt, definiert und erforscht. | |
Im Zentrum der Selbstbefragung steht die Familie. Der ewig schweigende | |
Vater „Peer“ (Jan Hallmann), der aus sieben Häuten bestehe, die erste aus | |
totem Hirsch, die siebte aus Zartheit. Außerdem die Mutter oder „Meer“, wie | |
es im Schweizerdeutschen heißt. Sie scheint im Spiel von Janine Kreß in | |
einer Dramatisierung des Romans im [3][Hans Otto Theater] in Potsdam drei | |
Leiber zu haben, einer, der immerzu arbeitet, einer, der ständig erschöpft | |
ist, und einer, der die anderen beiden beobachtet und ihre Zustände live | |
kommentiert. | |
Im Zentrum der Inszenierung von Kieran Joel aber steht die Großmeer, die | |
sich in der Reithalle des Potsdamer Hans Otto Theaters in Pose geworfen | |
hat. Nackt auf dem Rücken liegend, füllt sie, von der Bühnenbildnerin | |
Barbara Lenartz entworfen, mit sicher zehn Metern vom Kopf bis zu den fast | |
mannshohen Füßen die Bühne aus. | |
Charlott Lehmann und Paul Sies, die beide die Hauptfigur Kim spielen, | |
tollen auf dieser Landschaft aus Fleisch herum, rutschen über die Brüste, | |
klettern die baumdicken Oberschenkel hinauf zum Knie, kriechen in die | |
leeren Augenhöhlen, schlüpfen durch rotes Schamhaar. | |
## Gewalt der Kategorisierungen | |
Da wäre in Kieran Joels Inszenierung also einerseits der riesenhafte, aber | |
zugleich verschwindende, der sterbende Körper der alten Frau, der, einer | |
Demenz geschuldet, seine eigenen Grenzen nicht mehr klar erkennen kann, der | |
Kim ständig berührt, streichelt, abklopft, um sich zu vergewissern, wo sie | |
aufhört und der andere Mensch anfängt. Und außerdem wäre da Kims kleiner | |
Kinderkörper, der noch keinen Begriff von sich hat, nur Ahnungen und | |
Intuitionen. Nadine Nollau zieht einen Männerschuh an, probiert ein paar | |
Schritte zu laufen, schlüpft dann mit dem anderen Fuß in einen hochhackigen | |
Schuh und stapft zufrieden über die Bühne. | |
Vor der Großmutter spielt das Kind Modenschau und hängt sein ganzes Glück | |
daran, ob sie seine Schönheit lobt oder es tadelt, weil es | |
„Mädchenkleidung“ trage. Eine solche Kategorisierung ist hier nichts | |
anderes als nackte Gewalt. Nein, kein Mann und keine Frau dürfe er sein, so | |
formuliert die Erzählerfigur früh ihr Ziel. | |
Doch das ist leichter gesagt als getan. Kim spürt den eigenen Körper später | |
nur beim Sex, bietet ihn Männern zur freien Benutzung an, lässt sich die | |
wachsende Zahl von Liebhabern in Strichlisten auf den Rücken tätowieren, in | |
der Hoffnung, dass die Summe irgendwann den eigenen Selbsthass übersteigt. | |
## Das schmerzt, blutet, vögelt | |
Wie lässt sich Übereinstimmung herstellen zwischen dem, was man fühlt und | |
denkt, und dem, was man ist? Nur über die Tat, die Handlung, den ganz | |
konkreten Akt. „Blutbuch“, das ist eine Literatur, die sich nicht mit dem | |
Schreiben zufrieden gibt, die Sprache nicht als etwas Abstraktes | |
anerkennt, sondern sie als ein leibliches Ding feiert, das schmerzt, | |
blutet, vögelt. | |
Deswegen ist der Stoff auch hier auf der Bühne so gut aufgehoben: Weil das | |
Theater nie im Stoff, im Stück, im zu vermittelnden Inhalt aufgeht, sondern | |
immer auch von den Körpern erzählt, die sich verausgaben, verrenken, die in | |
sich selbst nach etwas anderem suchen. Wenn das fünfköpfige Ensemble nach | |
gut zwei Stunden beim Applaus verschwitzt und aufgekratzt ins | |
Scheinwerferlicht blinzelt, bekommt man eine Ahnung von all den | |
Geschichten, die sich hinter ihren Schweißtropfen oder Falten verbergen | |
könnten. | |
21 Jan 2025 | |
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## AUTOREN | |
Michael Wolf | |
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